Report | Kulturation 2011 | Volker Kirchberg | Künstlerräume zwischen Skylla und Charybdis?
Faktoren künstlerisch orientierter Stadtentwicklung in Baltimore
| Text
eines Vortrags, den Volker Kirchberg, Stadtforscher und Professor für
Kulturvermittlung und Kulturorganisation an der Universität Lüneburg,
auf der Berliner Tagung “Kultur Stadt Berlin – Perspektiven durch
Kultur?” am 2. September 2011 gehalten hat. Er prüfte am Beispiel der
Stadt Baltimore den Einfluss der Faktoren Autonomie, Politik und
Ökonomie auf eine künstlerisch orientierte Stadtentwicklung.
1. Künstler-Viertel in Baltimore
Seit Beginn des neuen Jahrtausends wird in U.S.-amerikanischen
Städten mit der Benennung bestimmter Teile von Stadtteilen als
Kunstbezirke („arts and entertainment districts“) versucht, Kunst
explizit für die Stadterneuerung einzusetzen. So schuf 2001 zum
Beispiel die Maryland General Assembly ein entsprechendes Programm, zu
dem auch das Künstlerviertel in Baltimore gehört, auf das ich hier
detailliert eingehen werde. Hier wird Stadtentwicklung durch die Künste
rechtlich, finanziell und politisch beeinflusst. Diese Unterstützung
kann sich beziehen auf Künstler und Kultureinrichtungen, auf
Gelegenheiten zum Konsum von Kultur oder auf die Produktionen von Kunst
und auch auf die Unterstützung kunstfördernder Immobilienprojekte bzw.
Bauleitplanungen. Konkret kann diese Unterstützung sich als
Steuererleichterung der lokalen Akteure auswirken, so bei den in den
US-Städten so wichtigen Grundsteuern, bei Renovierungen und
Modernisierungen der Gebäude, als Verringerung der Einkommenssteuer für
Künstler und als Aussetzung der sogenannten Unterhaltungssteuer. Sie
kann sich auch in einer langjährigen steuerlichen Festlegung des
Grundstücks- und Gebäudewertes ausdrücken (damit spart man die
Grundsteuer, die in den USA von Jahr zu Jahr fluktuieren kann), in
niedrig-verzinsten Krediten für Gebäudeverbesserungen oder auch in
neuen Bau- und Nutzungsverordnungen. Immer haben diese Regularien dabei
das Ziel, das Leben und Arbeiten von Künstlern und Kulturanbietern an
diesem Ort so preiswert und so hilfreich wie möglich zu machen. Mein
Beispiel hier ist das Baltimorer Künstlerviertel „Station North“ (Abb.
1).
Legende Abbildung 1: Station North
Theater und Spielstätten darstellende Kunst: (1) Charles Theatre (Art Movie Theatre) (2) Everyman Theatre (Drama Theatre) (3) Single Carrot Theatre (4) Strand Theater (5) Lumberhaus Dance Studio (6) Load of Fun Theater (7) Parkway Theater (empty, still to be developed) (8) Centre Theater (empty, to be developed as multi user arts venue) Galerien und Ausstellungsräume: (9) Windup Space Bar & Arts Venue (10) Metro Gallery (6) Load of Fun Gallery Restaurants, Cafés, Bars: (a) Club Charles (b) Tapas Teatro (c) Out Takes Café (d) Joe Squared (e) Station North Arts Gallery Café (f) The Depot (g) Bohemian Coffee House (h) Liam Flynn's Ale House (i) The Lost City Diner
KünstlerStudios zum Wohnen und Arbeiten: (I) City Arts Apartments und Gallery (http://www.livecityarts.com/) (II) Area 405/Oliver Street (http://www.area405.com/index.htm) (III) Copy Cat (http://en.wikipedia.org/wiki/Copycat_Building) (IV) Copy Cat Annex (http://wikimapia.org/15825457/Copycat-Annex) (V) Cork Factory (www.urbanitebaltimore.com/baltimore/LocationEvents?oid=1309728&type=past) (VI) Baltimore Print Studios (http://baltimoreprintStudios.com/) (VII) The Hour Haus (practice space und recording Studio, http://www.thehourhaus.com/) Universitäten und Schulen mit Kunstbezügen: (D) University of Baltimore (http://www.ubalt.edu/index.cfm) (E) MICA Main (http://www.mica.edu/) (F) MICA Studio Center in Station North (G)
Baltimore Design School (http://baltimoredesignschool.com/) (planned,
still empty, formerly the Lebow Clothing Factory, see also
http://www.zigersnead.com/projects) (K) Johns Hopkins University Homewood Campus (http://www.jhu.edu/) (L) Schuler School of Fine Art (http://www.schulerschool.com/) Stadtentwicklungsprojekte, Stadtplanungs- und Stadtverwaltungsbüros: (A) Station North Arts and Entertainment District Inc. (http://www.stationnorth.org/) (B) Central Baltimore Partnership (www.centralbaltimore.org) (C) Jubilee Baltimore Inc. (http://www.jubileebaltimore.org/) (H) Station North Mews (I) Parcel Post Station
Das Künstlerviertel Station North bedeckt ca. 400.000 qm (also ca.
50 Fußballfelder). Die Struktur, die Entwicklung und die Bewertung
dieses spezifischen Künstlerviertels wurden von mir systematisch
mittels Experteninterviews vor Ort erhoben. Insgesamt habe ich im
Sommer 2010 neun Experten in teilweise sehr langen Sitzungen und zum
Teil mehrfach interviewt. Zudem habe ich schon 2004 und 2005 weitere
Experten in diesem Viertel auch generell zur Bedeutung von Kunst und
Kultur in dieser Stadt interviewt. Diese Studie ist ein Bestandteil
einer größeren Studie, in der ich die Bedeutung der Kultur für die
Stadtentwicklung von Baltimore und Hamburg vergleiche.
City Arts Building (Fotos V. Kirchberg)
2. Methodik der Erhebung
Die Auswahl der Experten hing ab von der Expertise
(Alltagserfahrung, Kompetenz, Verantwortung und Autorität). Deshalb
wurde zunächst der Direktor der Künstlerviertel-GmbHs befragt, dann
Leiter lokaler Künstlerprojekte und Künstler und zuletzt auch
übergeordnete Experten der Stadt- und Wirtschaftsentwicklung.
Übersicht: Interviewte Experten in Station North/Baltimore 2010
1. Direktor der Künstlerviertel-Entwicklungsgesellschaft: Direktor des Station North Arts and Entertainment Viertels
2. Kulturmanagement, Künstler und Kunsthochschulleiter:
Künstler & Studio-Mieter im Area 405-Gebäude; Künstler und
Eigentümer im Area 405-Gebäude; Präsident des Maryland Institute
College of Art (MICA)
3. Projektentwickler für Künstlerwohnungen: Direktor der Baltimore Jubilee Inc. Projektentwicklungs-Gesellschaft
4. Städtische und bundesstaatliche Stadtplanungs- und Stadtentwicklungs-Organisationen:
Präsident der Baltimore Development Corporation; Assistant Secretary
des Maryland State Department of Business and Economic Development
In den Gesprächen beschrieben die Experten zunächst immer die
Entwicklung des Künstlerviertels, um dann über spezifische Sachverhalte
und Bewertungen aus ihrer eigenen Sicht zu sprechen. Das Gespräch mit
den bildenden Künstlern war so eher auf konkrete Gründe des Zuzuges und
des Verbleibens im Künstlerviertel begrenzt, während das Gespräch mit
der Vertreterin der staatlichen Wirtschaftsförderungsbehörde sich eher
auf die Vorteile des Viertels für die Wirtschaft Marylands bezog. Das
systematische Auswerten der häufig genannten und zueinander in
Beziehung gesetzten Sachverhalte erbrachte das folgende graphische
konzeptuelle Netzwerk, das die wichtigsten Inhalte der Interviews in
wenigen Stichworten grafisch wiedergibt.
Abbildung 2: Wichtigste Sachverhalte der Künstlerviertel Station North und Highlandtown
Diese Visualisierung des gesamten konzeptuellen Netzwerkes wird nun
zur besseren Übersicht in drei Teilnetzwerke aufgeteilt, in (1) das
Netzwerk des Künstlerviertels Highlandtown (ganz rechts), in (2) das
Netzwerk des Künstlerviertels Station North (im Zentrum) und in (3) das
Netzwerk der Konzepte zur Politik und zur Vernetzung der wichtigsten
kommunalen Akteure (links). Ich werde die Erörterung des zweiten
Baltimorer Künstlerviertels Highlandtown (rechts) weglassen und mich
nur auf den Komplex der Kategorien in Bezug zum Künstlerviertel
„Station North“ konzentrieren.
3. Das konzeptuelle Netzwerk des Station North-Viertels
In den Gesprächen über “Station North” wurden regelmäßig die
folgenden Themen angesprochen: (1) die Arbeits- und Lebensbedingungen
der Künstler vor Ort, (2) die Möglichkeit, in alten, nun leerstehenden
Fabrik- und Lagerhäusern künstleradäquate Arbeits- und Wohnräume zu
haben und weiterhin schaffen zu wollen, (3) die Einflüsse der
Eigentümer, der Projektentwickler und der Investoren auf das Viertel,
(4) die Bedeutung, die das designierte Künstlerviertel „Station North“
auf das Verständnis von Kunst und Kultur der lokalen (politischen)
Elite ausübt, und (5) auf die Bedeutung, die die Künsten für die
Stadtentwicklung Baltimores haben.
Das daraus ableitbare konzeptuelle Netzwerk von „Station North“ hat sechs Abschnitte,
(1) die räumliche Unterteilung des kleinen, aber doch unterschiedlichen Viertels,
(2) die unmittelbare Bedeutung der Künste für die lokale Stadtteilentwicklung,
(3) die Funktion der alten Bausubstanz, also der leer stehenden Fabrikgebäude,
(4) die Bedeutung dieser Gebäude für das Arbeiten und Leben der Künstler,
(5) die Funktionen, die lokale Projektentwickler und Eigentümer vor Ort haben, und
(6) die Bedeutung, die die Bildungseinrichtungen (Universitäten, Kunstschulen) vor Ort haben.
Diese Abschnitte werden nun einzeln vorgestellt.
Abbildung 3: Konzeptuelles Netzwerk Station North
3.1 Die physische Struktur des Station North-Viertels
Der aktuelle Erfolg des Viertels beruht darauf, dass auf wenigen
Straßenblöcken 500 Künstler wohnen und arbeiten. Diese Künstler wollen
sich allerdings nicht als Versatzstücke des städtischen Marketings
exponieren. Der subkulturelle Bohème-Lebensstil der Künstler wird vor
allem versteckt in alten Fabrikgebäuden im Südosten des Viertels gelebt
– eine Außenwerbung für Ausstellungen und Vorstellungen ist selten.
Bekannt gemacht werden sie nur durch Mundpropaganda und kleine
Zettelaushänge, aber auch auf Webseiten. Die Arbeit dieser Künstler ist
nicht und will nicht “konsumentenfreundlich” sein. Auf der
nordwestlichen Seite des Viertels (am sogenannten Charles Street
Korridor) gibt es im Gegensatz dazu die kulturelle Konsumentenseite des
Viertels; sie ist deutlich von der subkulturellen Produzentenseite
getrennt und besteht v.a. aus Restaurants und Cafés mit künstlerischem
Ambiente, Galerien und kleinen Bühnen. Diese Einrichtungen werben auch
außerhalb des Viertels, um Restaurantgäste, Café-Kunden,
Vernissage-Besucher und Bühnen-Zuschauer anzulocken. Die
konsumorientierte Straßenszene an der Charles Street ist die
historische Keimzelle des Künstlerviertels.
Jetzt kommen auch Nichtkünstler her und schaffen neue Geschäfte,
Restaurants, Cafés, alles mit einer künstlerischen Note. Restaurants
haben jetzt fast jeden Abend Live Music und jeden Monat eine wechselnde
Ausstellung. Kunstgalerien dürfen Alkohol verkaufen und veranstalten
regelmäßig Dichterlesungen. Die jungen Unternehmer hier sind bereit
Risiken zu übernehmen und das macht hier in Station North den
Unterschied. Der große Schritt, der Wendepunkt, in den letzten
eineinhalb Jahren war die Eröffnung der Metro-Galerie in der Charles
Street. Vorher gab es zwar das Charles Movie und das Everyman Theatre;
beide machten diese Straße sicherer, dann eröffnete aber die
Metro-Galerie hier direkt an den Bahngleisen, das strahlte regelrecht
auf diese Gegend aus. Dann kam sofort das Station North Café hinterher,
usw. Heute kann man hier mehr machen als nur ins Kino gehen. (Direktor,
Station North, Inc.) [Anmerkung: Alle Zitate sind vom Verfasser
aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt und dabei z.T. stilistisch
angepasst bzw. gestrafft worden.]
Lebow Factory und Metro Gallery
Die Load of Fun Galerie eröffnete hier an der North Avenue, in
einem vorher leeren, heruntergekommene Gebäude. Daneben war ein Dollar
Store, der gerade vor kurzem eine recht gute alternative Buchhandlung
geworden ist. Dann ist da noch ein Live Musik-Laden mit
Alkoholausschank und Kunstausstellungen gegenüber, „Joe Squared“. In
diesen vier Blöcken, zwei an der North Avenue und zwei an der Charles
Street gibt es jetzt eine Synergie des Kulturkonsums. Das Ganze hat
sich in kurzer Zeit vervierfacht. (Direktor, Station North, Inc.)
Weniger beachtet von den Tages- bzw. Nachtgästen besteht Station
North auch aus einem Gebiet der Kunstproduktion. Relativ weit entfernt
von der zentralen Charles Street Achse, in der südöstlichen Peripherie,
begrenzt von Gleisanlagen, einem Friedhof und leeren verwahrlosten
Reihenhäusern, in denen noch Drogenhandel und Prostitution stattfinden,
findet man alte Fabrik- und Lagerhäuser, die den Kern der lokalen
Kunstproduktion bilden. Sie sind der eigentliche Grund für die
staatliche Bestimmung des Viertels als „arts and entertainment
district“.
Der Schlüssel der Entwicklung hier sind die Künstler, die
gleichzeitig ihre eigenen Unternehmer sind. Die haben dieses Viertel so
einzigartig gemacht. Das sind spannende bildende Künstler, Musiker und
Schauspieler, da gibt es auch mal interessante Speisen, sie haben
interessante Kunst zu verkaufen und tolle Ausstellungs- und
Arbeitsräume. (Direktor, Station North, Inc.)
Konsumption und Produktion können als zwei Seiten einer Medaille verstanden werden.
Als uns bewusst wurde, dass wir hier eine kunstorientierte
Gemeinschaft aufbauten, kamen wir nicht darum herum, zwei Seiten zu
identifizieren, eine öffentliche Seite, die für den Konsum zuständig
ist, und unsere Seite, die Wohn- oder Arbeitszone. Die Stadt
interessiert sich wenig für unsere Seite, außer vielleicht, um hier so
viel Investitionen hereinzubringen, dass diese Hinterbühne des Viertels
stabilisiert wird. (Künstler und Eigentümer, Area 405 Studio)
Corner North Avenue Howard Street
3.2 Die Künste als unmittelbarer Faktor der Entwicklung in Station North
Die Teilung des Viertels in einen Konsum- und einen Produktionsteil
geht einher mit einer Unterscheidung von Kultur als Tauschwert
(kommerzielle Ware) und als Gebrauchswert (sinnstiftende Tätigkeit). In
den Gesprächen vor Ort wurde die zweite Funktion betont, wobei den
Künstlern sehr wohl bewusst ist, dass ihre Tätigkeit gegen ihren Willen
indirekt zur Wertschöpfung der Gebäude und Grundstücke beiträgt. Diese
Spannung zwischen eher subkulturell interpretierter Kunstproduktion und
eher kommerziell interpretierter Kunstkonsumption ist zwar existent;
ebenso die Spannung zwischen progressiven Kunstproduzenten und
profitorientierten Grund- und Bodenhändlern; sie scheint aber
gegenwärtig an Bedeutung zu verlieren.
Ganz zu Beginn sind die großen Projektentwickler und Stadtplaner
zu uns gekommen und haben sich beschwert: ‘Warum brauchen wir diese
neue Bezeichnung ‚Station North?‘ Die hatten dieses Gebiet schon selber
mit einem Etikett belegt, dem ‚Charles North‘-Etikett. Die haben
zunächst sehr mitleidig auf die Kunstviertel-Idee hinunter geschaut.
Aber nicht sie, sondern wir haben es geschafft, dass hier was
passierte, mit der ‚Load of Fun‘-Galerie und Straßencafés an der North
Ave und den vielen Kunstattraktionen, die junge Leute ins Viertel
brachten. Das geschah auf einer Grassroots-Ebene, von unten, nicht
durch die Stadtplanung von oben! Diese niedrigstufige Entwicklung hatte
hier Erfolg, wo vorher nichts war. Erst dann haben diese Entwickler es
verstanden und begannen leerstehende Gebäude am North Avenue Market zu
kaufen. Sie sind wirklich zu uns gekommen und haben zugegeben, dass sie
falsch lagen und dass sie so rückständig waren – sie haben dann auch
das Etikett von „Station North“ übernommen. (Künstler und Eigentümer,
Area 405 Studio)
Die Gefahr einer zukünftigen Gentrifizierung ist bekannt, wird aber von den Akteuren ignoriert.
Interessant ist ja, dass diese Projektentwickler langfristig,
wenn dies mal ein vibrierender Stadtteil sein wird, daran denken, hier
Hochhäuser zu bauen, mit teuren Eigentumswohnungen. Natürlich denken
die daran, irgendwann die Künstler hinauszuwerfen. Aber ich frage mich,
ob es jemals soweit kommen wird. Wir sprechen ja mit diesen
Stadtentwicklern, die sind da ganz offen. Ich vertraue denen, wenn sie
sagen, dass sie uns als Künstler hier behalten wollen, denn, wenn dies
hier erst mal gentrifiziert ist, dann soll das ja auch seine Identität
behalten, und das sind wir. Außerdem gibt es in der Stadt andere
Ventile für wirkliches hochpreisiges Innenstadtwohnen, in Canton, Fells
Point, Federal Hill, am Inner Harbor. Wenn die Entwickler hier wirklich
nachhaltig Erfolg haben wollen, dann müssen die die Kunst als Basis im
Viertel sichern. (Künstler und Eigentümer, Area 405 Studio)
Gentrifizierung betrifft uns hier alle. Aber einige
Stadtentwickler, z.B. der Gentleman, der jetzt ermöglichte, die
Metro-Galerie in dem alten Gebäude zu eröffnen, haben größere Pläne als
nur Geld zu machen. Sein Plan ist es, dort irgendwann ein großes
Hochhaus zu errichten, aber er hat der Dame, die die Metro-Galerie
betreibt, schon versprochen, dass sie ihre Galerie dann in den Neubau
integrieren kann. (Direktor, Station North, Inc.)
Die schwache öffentliche Hand unterstützt mit den wenigen
Möglichkeiten, die sie hat, die Ansiedlung von Künstlern in der
südöstlichen Ecke des Viertels, die sich dabei ihrer Rolle als Pioniere
einer möglichen Gentrifizierung sehr wohl bewusst sind, dies aber
zumeist verdrängen.
Die Stadt versteht die Künste als Vortrupp der Gentrifizierung,
als Pioniere – das ist wahrscheinlich der Grund, warum wir von dieser
Seite jetzt so viel Unterstützung bekommen. (Künstler und Eigentümer,
Area 405 Studio)
Die Wiederbelebung eines Viertels hängt von der Menge und dem
zumindest einfachen, aber gebrauchsfertigen Zustand der vorhandenen
Gebäude ab. Es ist eine ökologische Sukzession, eine voraussagbare
Abfolge von Wohn- und kommerziellen Nutzungen. Auf der Wohnseite fängst
du mit jungen Leuten an, Künstlern, die nichts gegen heruntergekommene
Buden haben, solange sie nicht viel dafür bezahlen müssen. Und dann
arbeitest du dich hoch bis du schließlich bei den Investment Bankern
gelandet bist. (Direktor, Jubilee Baltimore Inc.)
Es gibt im Viertel allerdings auch mehrere Versuche, unter dem
Stichwort „funky vs. fancy“ dieser Gefahr einer zukünftigen
Gentrifizierung etwas entgegen zu setzen.
Wenn du genügend Schlüsselgrundstücke und –gebäude in die Hand
bekommst, dann kannst du eventuell eine umgreifende zukünftige
Gentrifizierung hier verhindern. Da müssen die Projektentwickler mit
den Gruppen hier im Viertel als Basisorganisation zusammen arbeiten und
kleinere, vielleicht unkonventionelle Künstlerräume schaffen und
erhalten – und damit gegen die großen extravaganten kommerziellen
Eigentumsgebäude-Projekte angehen. Diese etwas irren Wohn- und
Arbeitsverhältnisse der Künstler hier müssen erhalten bleiben. Deswegen
arbeiten wir auch mit einigen Projektentwicklern zusammen, die unsere
Überlegungen teilen. Wir können dafür auf nicht-kommerzielles
Stiftungsgeld zurückgreifen und damit kommerzielle Kreditaufnahmen und
damit den Druck des Marktes vermeiden. Damit nimmst du den Kräften der
Gentrifizierung den Wind aus den Segeln. Wenn die Gebäude hier in
Eigentumswohnungen zu Marktraten umgebaut würden, dann wäre das Viertel
über Nacht verloren. Aber wenn du hier viele Räume für Künstler
unterhalb der Marktrate langfristig anbieten kannst, zu erschwinglichen
Mieten, dann hast du Festungen gegen die Gentrifizierung des Viertels.
Ich denke weiter, dass wir als Künstler mit unseren Umgestaltungen hier
nie so erfolgreich sein werden, dass es eine starke Gentrifizierung
gibt. Dies ist Baltimore, nicht New York, vergiss das nicht! Hier gibt
es eben nicht so viel Druck auf den Grundstücks- und Gebäudemarkt.
(Künstler und Eigentümer, Area 405 Studio)
Trotz dieser positiven und optimistischen Stellungnahme ist die
Furcht vor den Folgen einer zukünftigen Gentrifizierung nicht völlig
ausgeräumt; das Verhältnis von Künstlern und Stadtentwicklern ist nicht
frei von Unwägbarkeiten und Misstrauen. Zum einen begrüßen die
Künstler, Studio-Besitzer und Quartiersmanager, dass ein Viertel, dass
zum größten Teil leer und brach stand, nun bewusst entwickelt wird; zum
anderen kann man diese Unterstützung aber auch als ‚Kuckucksei‘
bezeichnen, deren ‚Küken‘ sich langfristig nachteilig auf die Künstler
auswirken werden.
Es gibt ja den Plan, hier am südlichen Rande des Gebietes, dort
wo jetzt die Metro-Galerie ist, ein zwanzigstöckiges Gebäude [Charles
North] zu bauen. Das würde das Viertel definitiv verändern. Es ist ja
gut, dass die Projektentwickler verstehen, dass dieses Viertel durch
die Künstler so einzigartig ist, deshalb gibt es ja auch so viele Räume
für Studios, Galerien und Aufführungen. Wahrscheinlich kalkulieren die,
dass man dort zwei Geschosse mit unterpreisigen Künstlerflächen drin
haben muss, damit man dort gleichzeitig 50 Einheiten zu Marktpreisen
verkaufen kann. Die wollen ja nun mal in erster Linie Geld machen.“
(Direktor, Station North, Inc.)
Der Herr, der jetzt ‘Load of Fun’ besitzt, wird langfristig wohl
sein Eigentum an jemanden verkaufen, der dann damit viel Geld macht.
Das geht uns hier alle an. Und das ist auch einer der Gründe, warum wir
so begeistert von dem neuen Künstlerhaus an der Ecke von Greenmount
Avenue und Oliver Street sind. Für mindestens 15 Jahre wird es dort
nämlich preiswerte Wohn- und ArbeitsStudios für Künstler geben.“
(Direktor, Station North, Inc.)
3.3 Die Bedeutung der Fabrik- und Lagerhäuser am Rande des Station North Viertels
Für die Künstler und kunstbewussten Planer sind die großen und vor
langer Zeit schon verlassenen Fabrik- und Lagerhäuser in Station North
der größte Vorteil des Viertels. Viele stehen oder standen seit
Jahrzehnten leer (z.B. das Oliver Street Gebäude “Area 405”), andere
sind vor über 25 Jahren besetzt worden – Besetzungen, die dann von den
Eigentümern akzeptiert wurden, um durch diese „Pseudo-“Mieter eine
Verwahrlosung der ansonsten leer stehenden Gebäude zu verhindern (z.B.
das Copy Cat Gebäude). Andere Gebäude werden nun auch einer
künstlerischen Nutzung zugeführt (z.B. die Lebow Factory, ebenfalls
eine frühere Textilfabrik).
Baltimore war nach New York die zweitwichtigste Stadt für
Textilhandel in den USA. Deshalb gibt es nahe dem Zentrum so viele
Fabrikgebäude mit großen Fenstern, denn dort arbeiteten vor allem
Frauen an Nähmaschinen, die das Licht der großen und vielen Fenster
brauchten – das sind große Loft-Gebäude, häufig wunderschöne Gebäude.
Ihr Zustand ist nicht bestens, aber Künstler mögen diese Gebäude, mit
viel Fenster Richtung Norden und billig. Das ist unsere große Ressource
für die Zukunft und es gibt jetzt eine kritische Masse an Interesse an
ihnen. Wichtig ist zudem, dass die Häuser nahe dem Bahnhof liegen – das
wollen die Leute hier, die in der Kunst und Kultur tätig sind.
(Präsident, Baltimore Development Corporation)
Künstler schätzen insbesondere den alten Loft-Stil dieser Gebäude,
mit ihren hohen Decken, aber auch das Zusammenleben und das
Miteinander-Vernetzt-Sein.
Area 405 studio and apartment.jpg
Das CopyCat-Gebäude gibt es schon lange, … es ist eine sehr
andere Art von Künstlerraum, sehr roh und unbearbeitet, nicht sehr gut
instandgehalten. Dann gibt es das Area 405-Gebäude in der Oliver
Street, das gehört den Künstlern, die da drin wohnen, eines der ersten
Häuser hier, das von Künstlern selbst gekauft wurde. Auch die Cork
Factory gehört den Künstlern, es ist eine Genossenschaft und ein
Fixpunkt für das Viertel. Gemeinsam mit dem Copy Cat Gebäude, dem Area
405 Gebäude, der Cork Factory und dem Copy Cat Annex wird dieses Gebiet
zu einem legitimen Treffpunkt für Künstler; die gravitieren ganz
natürlich hierhin. (Künstler und Studio-Mieter)
Der Copy Cat Annex hat 60 Künstler, die dort wohnen und arbeiten,
in sechs großen Lofts. Die Lofts sind so groß, da ist sogar ein Theater
drin. Das ist ein sehr wertvolles Gebäude, und das meine ich nicht
ökonomisch, sondern künstlerisch; da passiert was, weil die Mitbewohner
künstlerisch kooperieren. Ich möchte dieses Gebäude kaufen, damit diese
Situation bewahrt wird. In der Welt der gemeinnützigen
Stadtteilentwicklung spielen die Künstler noch gar keine große Rolle,
und deshalb geben die Philanthropen und andere Förderinstitutionen noch
nicht so viel Geld für den Kauf und die Renovierung solcher Gebäude
aus, aber das wird sich ändern. Schon jetzt gibt es ja genug
Finanziers, die sich um die zeitgenössische Kunst sorgen – nun muss ich
denen nur noch klar machen, dass sie sich auch um die zeitgenössischen
Künstler kümmern müssen. (Direktor, Jubilee Baltimore Inc.)
Trotzdem gilt die Gegend, die lange Zeit ein Zentrum des
Drogenhandels und der Prostitution war, immer noch nicht als
ungefährlich.
In der Greenmount West Nachbarschaft gibt es schon lange
preiswerte Lofts, die sich selbst Künstler leisten könnten. Dort gibt
es heute aber auch noch viele Brachflächen und kriminelle Aktivitäten.
Es ist zwar besser geworden, aber du musst dich schon noch umgucken…
(Direktor, Station North, Inc.)
Aber auch in anderen Teilen des Viertels gibt es nun mehr und mehr
Räume für Künstler, so an der North Avenue, im Gebäude des Load of Fun
Künstler Space. Dort gibt es Arbeitsplätze für z.Zt. 35 Künstler oder
Kultureinrichtungen mit 15 Studios, einer Galerie und Theaterräumen,
die sich mehrere Theater-Companies teilen.
Im Load of Fun Gebäude an der North Avenue kann man zwar
arbeiten, aber nicht wohnen, da gibt es keine Baderäume, nichts davon.
Das sind ausschließlich Arbeitsplätze. (Direktor, Station North, Inc.)
Vor circa 15 Jahren wurde auch das H&H Gebäude in Westen des
Zentrums Baltimores besetzt; allerdings war dies eine Besetzung, die
von den staatlichen Autoritäten schnell legalisiert wurde, weil der
Eigentümer damals froh war, dieses Haus durch einen Kreis an Künstlern
bewohnt (und nicht durch Junkies benutzt) zu sehen. Wenig später
zahlten die Künstler auch eine (preiswerte) Miete.
Meine Freunde haben dann diesen Ort besetzt. Die haben ihn dann
später zum Arbeiten offiziell gepachtet, aber dort auch illegal
gewohnt. Der Vermieter hat woanders hingeguckt, und die Stadt auch… Die
wussten es, haben aber nichts dagegen gemacht, weil wir keine Probleme
verursachten. 1996 haben dann weitere Künstler in einem Handstreich
auch das dritte und vierte Geschoß spontan erobert und haben da Küchen
und Badezimmer und Galerieräume und insgesamt vier große
Kunstausstellungs- und Theaterräume eingerichtet. Nun wohnen da
ungefähr 25 Künstler. (Künstler und Studio-Mieter)
Ich bekam hier einen wirklich billigen Platz zum Arbeiten. Aber,
was noch wichtiger war, wir haben uns diesen Platz alle geteilt, und
das Teilen bewirkte, dass wir alle voneinander lernten und uns
gegenseitig unterstützten. Wir haben hier mit professionellen Kuratoren
und Mitarbeitern aus Galerien und Museen zusammengearbeitet, und das
hat unseren Karrieren sehr geholfen. (Künstler und Studio-Mieter)
3.4 Wohnen und Arbeiten als Künstler im Station North Viertel
Die Übernahme der Gebäude durch die Künstler war nicht immer mit
einem semi-legalen Besetzen von alten Fabrikgebäuden getan – wenn dies
auch in Baltimore nicht nur eine seltene Ausnahme war. Den notwendig
langen Atem auf dem Weg zum eigenen Künstlerraum beschreibt ein
Künstler, der das Area 405-Gebäude vor neun Jahren gemeinsam mit
anderen Künstlern gekauft hat – und dies unabhängig und gegen die
Bedenken von Banken und Immobilienhändlern.
Wir haben das Gebäude im Jahr 2002 gekauft, als hier gerade die
Station North-Etikettierung stattfand. Meine Frau und ich sind beide
Künstler, die hier in Baltimore in diversen alten Fabrik- und
Lagerhäusern seit 1992 wohnten. Immer haben wir diese Gebäude
renoviert, obwohl sie uns nicht gehörten, und wir hatten immer Streit
mit den Eigentümern deswegen. Aber das war uns eigentlich egal. Meine
Frau malt, ich bin Kunstschweißer. Ich bin damals nach Baltimore
gezogen, weil es hier noch möglich war, preiswerten Wohn- und
Arbeitsraum zu finden, nicht wie in Washington DC, wo ich vorher
arbeitete. Da war es unmöglich, bezahlbare Studios zu finden. Dann
haben wir hier angefangen, Räumlichkeiten von circa 2.000 m² zu suchen.
Wir wollten was kaufen, denn irgendwann hat man keine Lust mehr, für
andere Leute ihre Flächen zu renovieren. Dann haben wir einen Freund
gefunden, der auch was zum Kaufen suchte. Wir haben über zwei Jahre
gesucht, sind durch die ganze Stadt gefahren. Dann haben wir uns dieses
Gebäude angesehen, das schon 1848 als Brauerei gebaut wurde, dann als
Dosenfabrik fungierte und schließlich als Jalousien-Fabrik. Es war viel
größer als wir es eigentlich haben wollten, es war schon 12 Jahre leer
und in einem schlechten Zustand. Das Schild „Zu Verkaufen“ draußen
hatte eine Telefonnummer, die es nicht mehr gab. Aber wir kannten
mittlerweile den Makler, der auf dem Schild vermerkt war. Der wollte
uns das Gebäude erst ausreden, weil es so kaputt war. Als wir die
wirkliche Größe des Gebäudes sahen, 6.600 m², kamen wir auf die Idee,
dass man ja den Platz, den man nicht braucht, an andere Künstler
weitervermieten kann. Mit dieser Idee haben wir dann andere Künstler
als Käufer auftreiben können. Der Eigentümer hat offiziell $650.000
verlangt, aber der Makler meinte dann, dass er wohl auch für $350.000
verkaufen würde. Wir haben dann $150.000 angeboten und er hat bei
$160.000 zugesagt. Er war damals 88 Jahre alt, lebte in Florida, und
sein Sohn wollte das Gebäude nur loswerden. Da haben wir Glück gehabt.“
(Künstler und Eigentümer, Area 405 Studio)
Der Stadtplaner mag nun auf die Idee kommen, dass man so
Kreativität planen könnte. Die Antwort von Projektentwicklern vor Ort
auf diese Idee ist allerdings, dass…
…dies ist eine recht alberne Vorstellung, sogar anmaßend, ist.
Nur ein Planer, der sonst nichts zu tun hat, würde so was versuchen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Erfolg hätte. Der Erfolg ist nur
zum Teil die Baumasse. Wichtiger ist es, die Künstler
zusammenzubringen, das sie miteinander sprechen und sagen, was sie zum
vernünftigen Arbeiten brauchen. Aber selbst wenn man große
Räumlichkeiten, Sicherheit, Licht und eine preiswerte Miete hat, muss
man nicht unbedingt kreativ sein. (Direktor, Jubilee Baltimore Inc.)
3.5 Der Einfluss von Projektentwicklern und Eigentümern auf das Künstlerviertel
Der Einfluss von Projektentwicklern (die auch als Mittler zwischen
den Gebäudeeigentümern, den Investoren bzw. Finanziers und den
künstlerisch aktiven Bewohnern bzw. späteren Nutzern vor Ort fungieren)
auf die Gestaltung des Viertels ist unübersehbar. Diese Rolle kann nun
hilfreich oder schädigend für die lokalen Künstler sein. Sind diese
Entwickler Handlanger kapitalistischer Immobilienspekulanten oder
Verteidiger der Rechte und Räume der örtlich ansässigen künstlerischen
Bewohner? So einfach und polarisierend stellt sich ihre Rolle nicht
dar.
Theoretisch halte ich mich an dem politikökonomischen Ansatz, den
Harvey Molotch schon Ende der 1970er Jahre in seinem Aufsatz zur
“Growth Machine” und der Wachstumskoalition aus politischen und
wirtschaftlichen Eliten in neoliberal agierenden Städten formuliert hat
(vgl. „The City as a Growth Machine: Toward a Political Economy of
Place." Seite 309–332 im American Journal of Sociology, Jahrgang 82,
Heft 2, 1976). Dies ist ein Ansatz, der Stadtentwicklung sicherlich
richtig als Produkt mächtiger Gesellschaftseliten versteht und
interpretiert. Nach Harvey Molotch lassen sich drei Typen des
Stadtentwicklers unterscheiden, 1) den passive Entwickler, der ein eher
zufälliger Bodenunternehmer ist („serendipitous entrepreneur“), 2) den
aktiven Entwickler, der ein aktiver Bodenunternehmer ist („active
entrepreneur“) und 3) den strukturierenden Entwickler, der ein
strukturierender Spekulant ist („structural speculator“). Alle drei
Typen finden sich hier wieder.
Allerdings würde ich sie um den Typen des gutwillig-gemeinnützig
aktiven Projektentwicklers (benign developers) ergänzen, der aus
gemeinnützigen Gründen das Viertel stabilisieren will. Der rein
profitorientierte, kommerzielle Projektentwickler wäre das Gegenbild,
entsprechend dem strukturell aktiven Spekulanten. Der passive
Entwickler fällt eher zufällig und häufig widerwillig in die Rolle des
Entwicklers, weil er oder sie ein Haus geerbt hat oder seit langem
besitzt und nun von der Entwicklung des Viertels ‚überrollt‘ wird. Der
aktive Entwickler oder Investor kommt hingegen von außerhalb, sieht
sich im Viertel um, erkennt den positiven (wertsteigernden) Wandel und
springt auf den fahrenden Zug auf und kauft, um an der antizipierten
Wertsteigerung zu profitieren. Der strukturierende Entwickler sieht
sich nicht nur den Wandel des Viertels an, sondern greift politisch und
strategisch ein, treibt den positiven (also wertsteigernden) Wandel
aktiv voran und profitiert umso mehr davon. Interessant ist dabei die
Entwicklung von Eigentümern vor Ort, die sich von Künstler
unterstützenden Eigentümern zu allein profit-orientierten
Immobilienunternehmer wandeln, der dann die Künstler v.a. als
Kapitalpotenzial betrachtet. Die meisten dieser letzten Gruppe wohnen
nicht im Viertel, sondern woanders.
Charles Street Sidewalk und CopyCat For Rent
Im Copy Cat Gebäude kann jeder Hauptmieter ungefähr 12
Untermieter haben, da die Stockwerke so groß sind. Dem Eigentümer des
Copy Cat gehört auch der Copy Cat Annex, wo die Wohn- und
Arbeitsverhältnisse ähnlich sind. Er wohnt in Florida. Er hätte das
Haus während der Immobilienblase gerne verkauft, fand aber keinen
Käufer für den gewünschten Preis. Nun wartet er ab. In fünf Jahren,
wenn die Wirtschaft wieder läuft, wird er seine Häuser wohl verkaufen
und die 200 bis 300 Künstler rauswerfen. (Direktor, Station North Inc.)
Der Eigentümer des ‘Load of Fun’ Gebäudes macht mit seinen
einzelnen Vermietungen keinen großen Gewinn. Aber er sorgt dafür, dass
das Gebäude eine kulturelle Attraktion ist und hilft damit, die Gegend
wiederzubeleben. Ich bin sicher, dass er langfristig plant, sein
Eigentum an einen Entwickler weiterzuverkaufen – und der wird dann
daraus einen Goldesel machen. (Direktor, Station North, Inc.)
Heute ist der Einfluss der vielen langjährig besitzenden
Eigentümer, der passiven Immobilienbesitzer (serendipitous
entrepreneurs) nicht nur grundsätzlich gering, sondern er wird
begleitet von Ignoranz und Verwahrlosung: diese Eigentümer kümmern sich
nicht mehr um ihren Grund und Boden, weil sie ökonomisch und persönlich
damit überfordert sind, eine aktive Stadtentwicklung kann von diesen
Eigentümern nicht erwartet werden. Ihre ‚kapitalistische Untätigkeit‘
scheint dem Staate Maryland ein Dorn im Auge zu sein; er unterstützt
deshalb aktiv Entwickler von außerhalb, die die sekundären oder
tertiären Kapitalkreisläufe ankurbeln.
Es ist wichtig, dass private Entwickler bei der Veränderung
dieser Künstlerviertel mitwirken. Wir haben die Regeln geschrieben und
wir wollen, dass im Beirat des Art District ein Entwickler sitzen muss
und mitbestimmt, denn nur professionelle Stadtentwickler verstehen, wie
man vernünftig Gebäude renoviert und umwidmet, so dass es sich
wirtschaftlich trägt. Das wollen wir! Die Entwickler sind der Garant
dafür, dass so ein District erfolgreich ist. Man muss Künstler ja
lieben, aber, ehrlich gesagt, wissen die nicht, wie man ein altes
Gebäude noch mal herumdreht. Best practice ist nur mit privaten
Entwicklern möglich, das haben wir gelernt. (Assistant Secretary, State
Department of Business und Economic Development)
Dann, und dies ist meine wichtigste Unterscheidung zu Molotch, gibt
es noch den gutwillig-gemeinnützig agierenden Entwickler (der auch ein
struktureller Veränderer ist). Ein Beispiel dafür ist die
Entwicklungsgesellschaft Jubilee Inc. im Südosten des Viertels, die
niedrig-preisige Studios und Wohnungen für Künstler im sogenannten
CityArts-Projekt realisierte. Das CityArts-Projekt ist ein Neubau für
Künstler, das im “Loft-Stil” eines alten Fabrikgebäudes errichtet wurde
und seit Anfang 2011 Platz für über 95 Künstler zum Wohnen und Arbeiten
bietet. Als gemeinnützig tätiges Immobilienunternehmen baut dieser
Projektentwickler Gebäude gemeinsam mit lokalen Künstlern für lokale
Künstler (um), indem er weiß, wie die umfangreichen staatlichen
Bundesmittel (finanziert über das Federal Tax Credit-Programm) dafür
genutzt werden können. Die daraufhin zu bezahlende Miete liegt weit
unter der Durchschnittsmiete anderer Künstlerstudios, und – was in den
USA ungewöhnlich ist – Mietverträge sind nicht von Vermieterseite aus
kündbar. Wichtig ist hier die Übereinstimmung von und das Vertrauen
zwischen Projektentwicklern und Künstlern – und die Fähigkeit des
Entwicklers, die Wünsche der Künstler uneigennützig aufzunehmen und
preiswert umzusetzen. Der interviewte Projektentwickler von Jubilee
Inc. lebt und arbeitet nahe dem Quartier und hat über Jahre ein
vertrauensvolles Verhältnis zu vielen dieser Künstler aufgebaut.
Der Leiter von Jubilee Inc. und ich haben dann viele Male mit
anderen Künstlern aus dem Copy Cat Gebäude hier zusammengesessen. Das
fing damit an, dass er in einer Nacht plötzlich hier in seinem
Trenchcoat mit Aktenkoffer und Anzug aufgetaucht ist – und dann sind
wir in eine dieser Künstler-Lofts gegangen, in eine dieser riesigen
Räume, von denen diese klitzekleinen Schlafräume abgehen. Da lebten
sieben oder acht Künstler und wir sind alle in das so genannte
Wohnzimmer gegangen, in denen alte Sofas rumstanden und ein Couchtisch,
der mit alten leeren Pizzakartons vollgemüllt war. Die eine Couch, auf
der wir saßen, brach fast zusammen, und es stank nach Katzenpisse. Da
haben wir uns dann lange unterhalten, er vor allem. Dann hat er sich
die ganzen Räume angesehen und dann hat er im Grunde das Ganze in Gang
gesetzt, indem er sagte ‘Okay, ich bin daran interessiert, ein neues
Gebäude mit Arbeits- und Wohnräumen für euch Leute zu bauen‘. (Künstler
und Eigentümer, Area 405)
Ich bin begeistert von dieser Entwicklung. Vor vier oder fünf
Jahren hat der Projektentwickler eine große Untersuchung hier
durchgeführt – er hat im Prinzip alle Künstler in der Stadt gefragt,
762, was sie für Räume haben wollen, was Künstler brauchen, was sie
zahlen können, was für eine Umgebung sie brauchen, um gut arbeiten zu
können. Ich war einer der Leute, die diesen Fragebogen ausgefüllt
haben. Dann hörte ich eine ganze Weile nichts und plötzlich war dann
dieses Gebäude hier, und es berücksichtigt viele unserer Wünsche. Es
ist auch spannend, weil es trotzdem preiswerte Räume sind – und es ist
etwas netter und auch sicherer als die anderen Künstlerarbeitsstätten.
(Künstler und Studio-Mieter)
Ein gutwillig-gemeinnütziger Entwickler hat auch die Funktion,
andere Entwickler (d.h. Profitspekulanten) aus dem Viertel
herauszuhalten.
Die Funktion dieses neuen Künstlerhauses ist es, Spekulation zu
verhindern. Die ursprünglichen Experten dafür kommen aus Minneapolis.
Nachdem wir lange mit ihnen gesprochen haben, wussten wir, dass wir das
selber machen können. Das Geheimnis sind die staatlichen Baukredite,
die wir bekommen, weil wir nur Mieter mit niedrigem Einkommen haben und
die Spender und Philanthropen, die noch nie Geld für Künstler
ausgegeben haben – das klappt großartig. (Präsident, Maryland Institute
College of Art)
4. Die Bedingung eines helfenden politischen (Elite-) Netzwerkes
Das dritte konzeptuelle Netzwerk zu der Gestaltung des
Künstlerviertels, auf das ich an dieser Stelle aber nur kurz eingehen
kann, betrifft die politische Durchsetzung und damit auch die
Finanzierbarkeit des Arts Districts, insbesondere also die politische
Hilfe von oben, den Künstlern von unten die Macht zu geben, ihren Ort
so zu gestalten, dass sie dort wohnen und arbeiten können.
Abbildung 4: Konzeptuelles Netzwerk der Politik und der Kooperation
Die Hauptsäule des Erfolges der Umsetzung und der Umsetzbarkeit der
eben ausgeführten Schritte einer gutwillig-gemeinnützigen Entwicklung
künstlerisch-kultureller Gelegenheiten im Station North District ist
das Netzwerk einer neuen lokalen Elite, die sich in den letzten Jahren
als ein verändertes ‚urbanes Regime‘ aufgebaut hat. Dieses neue ‘urbane
Regime’ (das in Baltimore traditionell ‘shadow government’ heißt)
besteht heute vor allem aus den großen Stiftungen und den großen
Universitäten in der Stadt. Die ehedem wichtige ökonomische Elite der
Stadt, die lokalen Unternehmenszentralen der Wirtschaft (und deren
Beeinflussung der Stadtpolitik ganz im Sinne der Growth Machine) haben
in den letzten 20 Jahren viel an Einfluss verloren, weil sie entweder
durch die Fusion mit anderen Unternehmen (aus anderen Landesteilen)
nicht mehr Unternehmenszentralen sind (und die Standortpolitik dieser
Unternehmen dadurch an Bedeutung verloren hat) oder weil die
Unternehmen im Zuge der Suburbanisierung aus der Stadt gezogen sind.
Die Gestaltung des Station North Viertels wird heute v.a. von der
Central Baltimore Partnership (CBP) im Sinne einer Governance-Strategie
gesteuert. Diese Partnership besteht seit 2004, wird vom Präsidenten
der benachbarten Kunsthochschule, dem Maryland Institute College of Art
(MICA), geleitet und setzt sich (neben dem Vorstand der
Entwicklungsgesellschaft des Künstlerviertels) aus Vertretern der
sieben wichtigsten gemeinnützigen Universitäten, Stiftungen und
Wirtschaftsförderungsvereinen der Stadt zusammen. Interessant ist hier,
dass aber keine städtischen Behörden verantwortliche Mitglieder sind,
obwohl die Behördenchefs für Stadtplanung und Wirtschaftsförderung
mittels einer Beiratsfunktionen auch angehört werden können. Dazu ein
Zitat des Leiters der CBP:
Die Stadt selbst kann es hier nicht umsetzen. Wir haben hier
nicht die Leitungsqualitäten auf der höchsten städtischen Ebene, und
ich bin mir nicht sicher, ob man der Stadtverwaltung vertrauen kann.
Wir arbeiten natürlich mit ihnen zusammen, aber keiner von uns würde
denen diese Sache alleine anvertrauen. Außerdem gibt es in der Stadt
keine unternehmerische Führung mehr, die so was hätte initiieren und
umsetzen können. (Präsident, MICA)
Die wichtigsten Persönlichkeiten, die heute in der Stadt die
Entwicklung dieses Künstlerviertels mit Macht vorantreiben können, sind
der Präsident dieser örtlichen Kunsthochschule, die Direktorin des
Baltimorer Museums of Art und der Direktor des Walters Art Museums,
alles Leiter und Leiterinnen der wichtigsten Hochkultureinrichtungen
der Stadt. Sie setzen tatsächlich einen Großteil ihrer Kompetenzen und
Energien dafür ein, ihre „Community“ zu verbessern und nicht dafür, in
der jeweiligen Hochkulturszene ihre Lorbeeren einzuheimsen.
Die Leitungsebene der städtischen Behörden muss am Rande ebenfalls
an den Entscheidungen für Station North beteiligt werden, weil sie
ansonsten…
… nur störend eingreifen oder gar nichts tun würden. Wir
brauchen sie zum Beispiel, wenn wir einen abwesenden Hauseigentümer
anklagen müssen, weil er seine Häuser verwahrlosen lässt. Da kann nur
die Stadt Bußgelder verhängen bis hin zur Enteignung vor Gericht. Dazu
müssen wir die Stadt aber zum Teil überreden, und das geht nicht über
Zwang. Ansprechbarkeit und ein anständiges Verhalten gegenüber den
Menschen hier in der Stadt, das ist alles, was wir von der Stadt
wollen. (Präsident, MICA)
Warum wird die Politik der Stadtteilentwicklung nun nicht mehr von
städtischen Behörden beeinflusst? Warum intervenieren sie nicht mehr?
Der Hauptgrund sei, so der Initiator der BPC, die ökonomische
Unsicherheit des ganzen Projektes.
Der Markt treibt hier nichts voran. Es gab zwar schon
Entwickler, die hier für sich profitable Ideen verwirklichen wollten,
aber es funktionierte nicht, es rechnet sich nicht. Man kann eben Räume
für Künstler, Studios und selbst Kunstgewerbe hier nicht richtig
profitabel machen. Was macht man dann? Man findet gemeinnützige
Einrichtungen, die es eben in Baltimore gibt, und baut mit deren Hilfe
diese Fabrikgebäude um, zum Beispiel in eine gemeinnützige
Designschule. Diese Schule wird dann der Mieter, ohne das daraus
ökonomische Gewinne, aber sehr wohl soziale Gewinne, Bildung und eine
Steigerung von Lebensqualität in diesem Viertel zu erzielen sind.
(Präsident, MICA)
Die ökonomische Randlage Baltimore ist künstlerisch ein Vorteil – ein Marktdruck besteht nicht.
Im H&H-Gebäude hatten wir immer nur Drei-Jahres-Mietverträge
und wir haben immer erwartet, dass man uns dann rauswirft. Aber dann
sind aus drei Jahren 12 Jahre geworden – manche wohnen da seit 15
Jahren. Der Immobilienmarkt in Baltimore ist nicht so stark, das die
Künstler darunter leiden müssen. Und viele Künstler wollen auch nicht
länger als drei bis fünf Jahre in einem Haus bleiben. Sie nehmen
unsichere Bedingungen zum Wohnen und Arbeiten in Kauf, weil sie die
Straße runter gleich ein weiteres von Künstlern bewohntes Fabrikgebäude
sehen, in das man immer ziehen könnte, falls man mal gekündigt würde.
Die Kunstszene in Baltimore ist immer durch die Künstler gestaltet
worden, nicht durch die Galerien oder Museen. Die Künstler können hier
die Welt so gestalten, wie sie es gerne haben wollen. (Künstler und
Studio-Mieter).
Diesen Abschnitt möchte ich mit der positiven Grundaussage beenden,
dass hier durch eine einsichtige, „freundlich und sozial gestimmte“
aufgeklärte philanthropische Elite unter einer aus ökonomischen Gründen
schwächelnden politischen lokalen Regierung weitaus mehr als eine
umfangreiche kreative Nische entstanden ist. Diese können Künstlern und
Unterstützer so ausbauen und stärken, dass sie nachhaltig Bestand hat,
ohne langfristig einem Gentrifizierungsdruck nachgeben zu müssen. Die
wichtigste Grundvoraussetzung für künstlerische Kreativität ist in
Baltimore von einer Freiheit zu profitieren, die basiert auf einer
politischen und ökonomischen Schwäche der Stadt und auf der Stärke
einer einsichtigen und umfangreich unterstützenden philanthropischen
Elite.
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