Report | Kulturation 2/2005 | Vera Thümmel | Biathlon und Bärenfeste
Wolfgang Steinitz und die Chanten Westsibiriens
Zum 100. Geburtstag des Berliner Volkskundlers und Finnougristen Wolfgang Steinitz (1905-1967)
| Noch
vor seinem Amtsende schloss Gerhard Schröder einen neuen Vertrag mit
dem russischen Präsidenten Putin über den Import von Erdgas aus
Sibirien ab. Der Großteil des Erdgases und Erdöls, den Deutschland aus
der Russischen Föderation bezieht, stammt aus Westsibirien. Dieses
Gebiet ist nicht nur bekannt für seine reichen Bodenschätze und die
zahlreichen Ölfirmen wie LUKoil und das ehemalige JUKOS, es ist die
Heimat jahrhundertealter sibirischer Völker wie das der Chanten. Doch
nicht durch die Bodenreichtümer ist dieses kleine Volk erstmalig
bekannt geworden.
Erdölpumpen von Surgutneftegas, der zweitgrößten Ölgesellschaft in
Westsibirien, Surguter Kreis, Autonomer Bezirk der Chanten und Mansen,
Juni 2004; © Klaus Kupfer
Die Chanten (früher genannt Ostjaken) zählen zur Urbevölkerung
Westsibiriens. Sie siedeln am nördlichen und mittleren Ob und seinen
Nebenarmen, hauptsächlich im Autonomen Bezirk Chanty-Mansijsk, der mit
535.000 Quadratkilometern fast so groß wie Frankreich ist und in der
Westsibirischen Tiefebene liegt, dem größten Sumpfgebiet der Erde. Im
Westen stößt das Gebiet auf den Ural, nach Norden hin erstreckt sich
eisiger Dauerfrostboden.
Im Juli 1935 bricht Wolfgang Steinitz in diese Region nahe des
Polarkreises zu einer Expedition auf, die ihm als einem der letzten
ausländischen Wissenschaftler vor dem II. Weltkrieg glückt, in einer
politisch höchst brisanten Zeit. Er kehrt nach nur drei Monaten zurück,
mit einer Fülle von Aufzeichnungen, Tonaufnahmen (letztere hat leider
der Zahn der Zeit zernagt) sowie Photographien.
Foto Wolfgang Steinitz
Beschriftet: Katja, Anna und Maria, Lochtotkurt, 1.- 15. 8. 1935
In das nun endende Jahr 2005 fielen gleich mehrere Jubiläen, die
eine große Bedeutung für die über dreihundertjährige russisch- bzw.
sibirisch-deutsche Sibirienforschung hatten. Einer davon war der
100.Geburtstag des Berliner Sprachwissenschaftlers, Volkskundlers und
Finnougristen Wolfgang Steinitz (1905-1967), der außerdem als
Wiederentdecker sozialkritischer Folksongtraditionen das Folk-Revival
in der DDR und BRD in den 70ern und 80ern entscheidend mitprägte.
Im Tschum und im Parka
Wolfgang Steinitz gilt als der bekannteste Chantenforscher des 20.
Jahrhunderts. Seine Materialien, zu denen auch ein Tagebuch und ein
Expeditionsbericht gehören, stellen einzigartige Dokumente der
Lebensweise, des Alltags und der Feste und Rituale dieser kleinen
Ethnie in den 1930ern dar und sind um so wertvoller, da dieses Gebiet
durch die Weltkriege und deren politische Folgen bis in die 80er Jahre
für ausländische Wissenschaftler nicht zugänglich war.
Foto Wolfgang Steinitz
Beschriftet: Blinder Großvater. Polnovat, 7.- 11. 9. 1935
Die Photographien zeigen Chanten, wie sie noch auf traditionelle
Weise in Tschums (Jurten) und bereits in Blockhäusern wohnen, wie sie
Bärenlieder singen, ihre heiligen Stätten als auch Jagd- und
Begräbnisrituale. Als er 1935 hier ankommt, trifft er auf ein
Territorium, das noch von endlosen Taigawäldern und einem verwirrenden
Netz von Flüssen, Sümpfen und Seen durchzogen wird. Die Frauen tragen
als Sommerbekleidung aus Brennesselfäden gewebte reich bestickte
Kleider und die Männer den Parka, einen Kapuzenmantel, der vermutlich
über die Beringstrasse nach Nordamerika und später nach Europa gelangte
und bei uns in den 80ern populär war.
In Westsibirien leben noch heute Nachfahren der von Steinitz
befragten Personen. Als ein Filmteam aus der DDR 1986 nach Westsibirien
reiste, um einen Film über Steinitz zu drehen, waren die Begegnungen,
die es erlebte außerordentlich herzlich und intensiv. Denn als sich die
Nachricht verbreitete, dass die Filmcrew Photographien von Steinitz mit
Aufnahmen von Verwandten mitgebracht hatten, wollte jeder der erste
sein. Innerhalb kürzester Zeit sahen sie sich lachenden und weinenden
Gesichtern gegenüber, denn für die meisten waren es die einzigen Fotos
ihrer Eltern und Verwandten. Viele waren inzwischen gestorben oder im
2. Weltkrieg im Kampf gegen die Deutschen gefallen. Und hier nun die
Erinnerung an einen Deutschen, der sie einst fotografiert hat. Viele
erinnerten sich an Erzählungen über den jungen Mann, der damals erst 30
Jahre alt war. Steinitz soll sehr sprachbegabt gewesen und seinen
Gesprächspartnern stets auf Augenhöhe begegnet sein. „Der Mensch ist
wie ein Haus, es gibt kalte Häuser und solche, in denen man sich wie zu
Hause fühlt. Wolfgang Steinitz war so ein warmes Haus, ein ungewöhnlich
warmherziger Mensch“, sagte die chantische Poetin, Sängerin und
Schamanin Maria K. Woldina über ihn.
Foto Wolfgang Steinitz Beschriftet: Ostjakischer Friedhof.
Totengedächtnisfeier der Sippe Tarlin auf dem ostjakischen Friedhof von
Polnovat. Über jedem Grab wird ein „Häuschen“ errichtet mit einer
Öffnung, durch die man den Toten Speise geben kann. Polnovat, 7.- 11.
9. 1935
Der erste Mensch und der der erste Bär
Wie der erste Mensch so wurde auch der erste Bär einst in einer
Wiege aus dem Himmel herab gelassen. Weil er aber das Versprechen an
Gott Torum, friedlich zu den Menschen zu sein, nicht einhielt, muss er
seitdem auf der Erde leben. Davon erzählen die Bärenlieder, die
Wolfgang Steinitz auf den Bärenfesten der Chanten in Westsibirien
aufzeichnete. Der Finnougrist Wolfgang Steinitz sammelte Märchen und
Mythen, die er nach Dialekten und anderen sprach- und
literaturwissenschaftlichen Aspekten untersuchte, er erforschte ihre
Geschichte, Sozialstruktur und ihre Glaubensvorstellungen, in denen der
Schamane eine wichtige Rolle einnimmt.
Der Schwerpunkt seiner Forschung galt jedoch der chantischen
Sprache, die mit dem Ungarischen, Finnischen und Estnischen verwandt
ist und damit auf die interessante Geschichte dieses sibirischen Volkes
verweist. Wolfgang Steinitz wirkte entscheidend bei der Schaffung der
Schriftsprache der Chanten mit. Aus dieser Tätigkeit ist eine Schule
von Finnougristen und Chantenforschern in Deutschland, der Sowjetunion,
Ungarn und im heutigen Russland sowie bei den Chanten selbst
hervorgegangen. „Seine Geduld und Genauigkeit waren beispielhaft.“,
berichtet Frau Nyemysova, die ihn noch kennen lernte. Sie ist die
Nichte eines seiner chantischen Erzähler von 1935 und trat in die
Fußstapfen von Steinitz. Auch heute, noch mit fast siebzig Jahren, ist
sie aktiv auf dem Gebiet der Popularisierung der chantischen Sprache,
die dank der Neubesinnung der indigenen Völker auf die eigene Identität
und Kultur seit der Perestrojka auch durch die Bildungspolitik des
Autonomen Bezirks wieder gefördert wird.
Vielseitiger Forscher und kritischer Kommunist
Wolfgang Steinitz zeichnet sich durch einen ungewöhnlichen
wissenschaftlichen Werdegang und ein unglaublich produktives und
vielseitiges Schaffen aus. Seine politischen Überzeugungen und
gesellschaftlichen Aktivitäten lassen sich nicht in eine Schablone
pressen. Steinitz kam aus einem bildungsbürgerlichen jüdischen
Elternhaus, er war aber kein praktizierender Jude. Er studierte
entgegen dem väterlichen Willen nicht Jura, sondern Finno-Ugristik.
1927 trat er in die KPD ein. 1934 emigrierte er in die Sowjetunion und
wurde mit erst 29 Jahren Professor an der Hochschule für Nordvölker in
Leningrad. 1937 emigrierte er mit seiner Familie weiter nach Schweden.
Nach Kriegsende wurde er Professor für Finno-Ugristik und Direktor des
Finno-Ugrischen Instituts an der Humboldt-Universität Berlin. Da
Fachkräfte gesucht werden, erweitert er sein Profil um das
Spezialgebiet Slawistik und war als „Behelfsslawist“ tätig, wie er sich
selbst nannte. Steinitz war maßgeblich an der Neugestaltung der
Germanistik und Neubestimmung der deutschen Volkskunde an der
Humboldt-Universität beteiligt. Darüber hinaus war er Vizepräsident der
Deutschen Akademie der Wissenschaften und Direktor des Instituts für
Deutsche Volkskunde, initiierte zahlreiche Kommissionen an der
Akademie, unterstützte finanziell Studenten und Einrichtungen etc. etc.
Eine vorbildliche wissenschaftliche Karriere gepaart mit einem
hohen Maß an gesellschaftlichem Engagement sowie Beharrlichkeit,
Zielstrebigkeit und bemerkenswerter Menschlichkeit – dies bescheinigten
ihm seine Wissenschafts- und Exilkollegen wie u. a. der bekannte
Linguist Roman Jakobson ebenso wie ehemalige Kollegen, die die DDR
wegen ihrer ideologischen und wissenschaftlichen Enge in der
Ulbricht-Ära, die auch Steinitz nicht unbehelligt lassen sollte,
verließen.
Allerdings glatt verlief seine Karriere nicht. Wer Wolfgang
Steinitz kannte, wusste, dass sein gesamter wissenschaftlicher
Werdegang untrennbar war von seiner politischen Haltung und seinen
gesellschaftlichen Aktivitäten. Während seiner schwedischen Emigration
war er konspirativ und gegen Kriegsende offen politisch tätig. In der
jungen DDR unterstützte er den Neuaufbau des Wissenschaftsbetriebes im
Sinne der neuen Politik bei gleichzeitiger Toleranz und Loyalität
gegenüber Fachkräften mit so genanntem bürgerlichem Hintergrund, was
ihm immer wieder vorgehalten wurde. Steinitz war unter seinen Studenten
sehr beliebt. Er gehörte zu jener ersten führenden „Garde von
Sozialisten bzw. Wissenschaftlern“ der DDR, die kritikfähig waren und
Kritik auch gegenüber „obersten Stellen“ äußerten. Für seine unbequemen
Äußerungen geriet Steinitz ins Visier von Ulbricht und der
Staatssicherheit. In einer Rede vor dem Zentralkomitee kritisierte er
im Juli 1955 die dogmatische Wissenschaftspolitik der SED und die
diskriminierende Haltung gegenüber bürgerlichen Fachkräften sowie die
wachsende Ja-Sager-Mentalität, dass man „im Ministerrat oder im
Politbüro nur das sagen darf, was von einem erwartet wird“.
Das Oevre von Steinitz umfasst 400 Publikationen, darunter ein
Wörterbuch der Ostjakischen Sprache. Seine wichtigsten Aufsätze und die
in Westsibirien aufgezeichneten Märchen und Lieder der Chanten sind in
dem vierbändigen Werk „Ostjakologische Arbeiten“ nach seinem Tode von
einem Wissenschaftlerteam zusammengestellt und veröffentlicht worden,
zu dessen Initiatoren seine Tochter Renate Steinitz, ebenfalls
Sprachwissenschaftlerin, gehörte. Von Steinitz stammt auch das erste
nach dem Krieg in der DDR erschienene Lehrbuch der Russischen Sprache,
dass lange sehr populär war.
Westsibirische Tagebuchaufzeichnungen
Zurück nach Westsibirien. In protokollartigen Tagebuchnotizen
dokumentiert Steinitz den Einbruch der Moderne, die durch die
Oktoberrevolution nun auch in Westsibirien angekommen ist und in alle
Lebens- und Arbeitsbereiche der Chanten eingreift, die bis dahin
traditionell als halbnomadisches Volk vom Fischfang, der Rentierzucht,
der Jagd und dem Beerensammeln lebten. Die Notizen enthalten viele
ethnologische, soziale und politische Details. Soweit es ihm möglich
ist, benennt er Widersprüche. Er benennt das aufkommende Übel des
Alkoholismus, die Diskriminierung von Schamanen, denen das Stimmrecht
aberkannt wurde. Der Kazymer Aufstand, den er erwähnt, war der
Höhepunkt des Widerstands der Chanten gegen die
Vereinheitlichungspolitik unter Stalin. An diesen Aufstand erinnert
heute ein nach der Perestrojka in Berjosowo aufgestelltes Denkmal.
Als Wolfgang Steinitz zum Abschluss seiner Expedition durch den
Nationalen Bezirk Ostjako-Wogulsk, so die alte Bezeichnung des
Autonomen Bezirks Chanty-Mansijsk, der gerade fünf Jahren zuvor
gegründet wurde, in die Bezirkshauptstadt kommt, heißt sie noch nicht
Chanty-Mansijsk. Sie stellt eine kleine Siedlung dar, bestehend aus
niedrigen Holzhäusern zugereister und dorthin verbannter Russen, neben
den traditionellen Wohnsitzen der Chanten. Das heutige Chanty-Mansijsk,
das nahe des Zusammenflusses von Irtysch und Ob liegt, und das in den
letzten Jahren als Austragungsort der Biathlonweltmeisterschaften
bekannt wurde, ist eine boomende und moderne Stadt. Sie ist eine der
Städte mit den höchsten Löhnen in Russland - alles gegründet auf den
Reichtum an Öl und Gas.
Die Chanten heute
Die Lebensbedingungen der indigenen Bevölkerung haben sich
allerdings seit der rasanten Steigerung der Öl- und Gasförderung Ende
der 80er Jahre dramatisch verschlechtert. Einer der gravierenden Gründe
sind die vielen Öllecks und ölverseuchten Flüsse.
Öltonne
im Fluss am Haus der Familie Nimperow, Chanten, Surguter Kreis,
Autonomer Bezirk der Chanten und Mansen, Juni 2004; © Klaus Kupfer
Erst seit Mitte der 90er Jahre gibt es einen Wandel in der Politik
seitens der Bezirksadministration und der Erdölindustrie. Es ist eine
Verbesserung des Rechtsstatus der Indigenen und eine zunehmende
Unterstützung von Projekten und Institutionen zur Förderung der
Kulturen und Sprachen sowie der traditionellen Arbeitszweige zu
verzeichnen. Und die Schamanen und Schamaninnen? Sie nehmen heute von
ihrem „Stimmrecht“ auch auf internationalen Konzerten und Expositionen
aktiv Gebrauch und geben ihr unschätzbares Wissen weiter.
Tote Fische in der Salma, Nebenfluss des Pim, Surguter Kreis,
Autonomer Bezirk der Chanten und Mansen, Juni 2004; © Klaus Kupfer
Steinitz hat diese Zeit nicht mehr erleben können. Überraschend
verstarb er 1967 im Alter von nur 62 Jahren. Im September fand in
Westsibirien aus Anlass des 100.Geburtstags von Wolfgang Steinitz und
des 300.Geburtstags von Gerhard Friedrich Müller, dem „Vater“ der
sibirischen Historiographie“, ein internationales Symposium statt.
Organisiert und finanziert von sibirischer Seite als mehrtägige
Schiffsreise, die den Expeditionsorten dieser deutschen Forscher
folgte, war es eine spannende Unternehmung mit Vorträgen,
Podiumsgesprächen, Filmvorführungen, Besichtigungen vor Ort und
überraschenden Treffen mit Nachkommen der Gesprächspartner von
Steinitz. Im Herkunftsland der genannten Sibirienforscher, in
Deutschland selbst, wurden kleinere Jubiläumsveranstaltungen
abgehalten, die eher unauffällig blieben. Die von Steinitz gegründete
Wissenschaftstradition in Berlin aber besteht nicht mehr. Denn
sämtliche Wissenschaftler sind nach einer kurzen „Integrationsphase“ im
WIP (Wissenschaftsintegrationsprogramm) in den 90er Jahren abgewickelt
worden.
Es bleibt ein aktueller Nachsatz. Mit dem jüngst abgeschlossenen
Gasvertrag hat sich der deutsche Exkanzler Schröder ein Plätzchen in
der russisch-sibirischen Gasindustrie gesichert. Hierzulande wird
Anstoß genommen an seinem anrüchig schnellen Wechsel in die Wirtschaft.
Unbeachtet blieb dabei die fragwürdige Forcierung des Gas- und
Ölabbaus, die die Lebensbedingungen der indigenen sibirischen Völker
zerstört wie auch die Mitverantwortung Deutschlands, das einen großen
Teil der benötigten Energie aus diesem Gebiet importiert.
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