KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ReportKulturation 2/2005
Vera Thümmel
Biathlon und Bärenfeste
Wolfgang Steinitz und die Chanten Westsibiriens

Zum 100. Geburtstag des Berliner Volkskundlers und Finnougristen Wolfgang Steinitz (1905-1967)

Noch vor seinem Amtsende schloss Gerhard Schröder einen neuen Vertrag mit dem russischen Präsidenten Putin über den Import von Erdgas aus Sibirien ab. Der Großteil des Erdgases und Erdöls, den Deutschland aus der Russischen Föderation bezieht, stammt aus Westsibirien. Dieses Gebiet ist nicht nur bekannt für seine reichen Bodenschätze und die zahlreichen Ölfirmen wie LUKoil und das ehemalige JUKOS, es ist die Heimat jahrhundertealter sibirischer Völker wie das der Chanten. Doch nicht durch die Bodenreichtümer ist dieses kleine Volk erstmalig bekannt geworden.

Kupfer Oelpumpen
Erdölpumpen von Surgutneftegas, der zweitgrößten Ölgesellschaft in Westsibirien, Surguter Kreis, Autonomer Bezirk der Chanten und Mansen, Juni 2004; © Klaus Kupfer

Die Chanten (früher genannt Ostjaken) zählen zur Urbevölkerung Westsibiriens. Sie siedeln am nördlichen und mittleren Ob und seinen Nebenarmen, hauptsächlich im Autonomen Bezirk Chanty-Mansijsk, der mit 535.000 Quadratkilometern fast so groß wie Frankreich ist und in der Westsibirischen Tiefebene liegt, dem größten Sumpfgebiet der Erde. Im Westen stößt das Gebiet auf den Ural, nach Norden hin erstreckt sich eisiger Dauerfrostboden.

Im Juli 1935 bricht Wolfgang Steinitz in diese Region nahe des Polarkreises zu einer Expedition auf, die ihm als einem der letzten ausländischen Wissenschaftler vor dem II. Weltkrieg glückt, in einer politisch höchst brisanten Zeit. Er kehrt nach nur drei Monaten zurück, mit einer Fülle von Aufzeichnungen, Tonaufnahmen (letztere hat leider der Zahn der Zeit zernagt) sowie Photographien.


Steinitz drei Maedchen
Foto Wolfgang Steinitz
Beschriftet: Katja, Anna und Maria, Lochtotkurt, 1.- 15. 8. 1935

In das nun endende Jahr 2005 fielen gleich mehrere Jubiläen, die eine große Bedeutung für die über dreihundertjährige russisch- bzw. sibirisch-deutsche Sibirienforschung hatten. Einer davon war der 100.Geburtstag des Berliner Sprachwissenschaftlers, Volkskundlers und Finnougristen Wolfgang Steinitz (1905-1967), der außerdem als Wiederentdecker sozialkritischer Folksongtraditionen das Folk-Revival in der DDR und BRD in den 70ern und 80ern entscheidend mitprägte.


Im Tschum und im Parka

Wolfgang Steinitz gilt als der bekannteste Chantenforscher des 20. Jahrhunderts. Seine Materialien, zu denen auch ein Tagebuch und ein Expeditionsbericht gehören, stellen einzigartige Dokumente der Lebensweise, des Alltags und der Feste und Rituale dieser kleinen Ethnie in den 1930ern dar und sind um so wertvoller, da dieses Gebiet durch die Weltkriege und deren politische Folgen bis in die 80er Jahre für ausländische Wissenschaftler nicht zugänglich war.

Steinitz blinder Grossvater
Foto Wolfgang Steinitz
Beschriftet: Blinder Großvater. Polnovat, 7.- 11. 9. 1935

Die Photographien zeigen Chanten, wie sie noch auf traditionelle Weise in Tschums (Jurten) und bereits in Blockhäusern wohnen, wie sie Bärenlieder singen, ihre heiligen Stätten als auch Jagd- und Begräbnisrituale. Als er 1935 hier ankommt, trifft er auf ein Territorium, das noch von endlosen Taigawäldern und einem verwirrenden Netz von Flüssen, Sümpfen und Seen durchzogen wird. Die Frauen tragen als Sommerbekleidung aus Brennesselfäden gewebte reich bestickte Kleider und die Männer den Parka, einen Kapuzenmantel, der vermutlich über die Beringstrasse nach Nordamerika und später nach Europa gelangte und bei uns in den 80ern populär war.

In Westsibirien leben noch heute Nachfahren der von Steinitz befragten Personen. Als ein Filmteam aus der DDR 1986 nach Westsibirien reiste, um einen Film über Steinitz zu drehen, waren die Begegnungen, die es erlebte außerordentlich herzlich und intensiv. Denn als sich die Nachricht verbreitete, dass die Filmcrew Photographien von Steinitz mit Aufnahmen von Verwandten mitgebracht hatten, wollte jeder der erste sein. Innerhalb kürzester Zeit sahen sie sich lachenden und weinenden Gesichtern gegenüber, denn für die meisten waren es die einzigen Fotos ihrer Eltern und Verwandten. Viele waren inzwischen gestorben oder im 2. Weltkrieg im Kampf gegen die Deutschen gefallen. Und hier nun die Erinnerung an einen Deutschen, der sie einst fotografiert hat. Viele erinnerten sich an Erzählungen über den jungen Mann, der damals erst 30 Jahre alt war. Steinitz soll sehr sprachbegabt gewesen und seinen Gesprächspartnern stets auf Augenhöhe begegnet sein. „Der Mensch ist wie ein Haus, es gibt kalte Häuser und solche, in denen man sich wie zu Hause fühlt. Wolfgang Steinitz war so ein warmes Haus, ein ungewöhnlich warmherziger Mensch“, sagte die chantische Poetin, Sängerin und Schamanin Maria K. Woldina über ihn.

Steinitz Frauen am Grab
Foto Wolfgang Steinitz
Beschriftet: Ostjakischer Friedhof. Totengedächtnisfeier der Sippe Tarlin auf dem ostjakischen Friedhof von Polnovat. Über jedem Grab wird ein „Häuschen“ errichtet mit einer Öffnung, durch die man den Toten Speise geben kann. Polnovat, 7.- 11. 9. 1935


Der erste Mensch und der der erste Bär

Wie der erste Mensch so wurde auch der erste Bär einst in einer Wiege aus dem Himmel herab gelassen. Weil er aber das Versprechen an Gott Torum, friedlich zu den Menschen zu sein, nicht einhielt, muss er seitdem auf der Erde leben. Davon erzählen die Bärenlieder, die Wolfgang Steinitz auf den Bärenfesten der Chanten in Westsibirien aufzeichnete. Der Finnougrist Wolfgang Steinitz sammelte Märchen und Mythen, die er nach Dialekten und anderen sprach- und literaturwissenschaftlichen Aspekten untersuchte, er erforschte ihre Geschichte, Sozialstruktur und ihre Glaubensvorstellungen, in denen der Schamane eine wichtige Rolle einnimmt.

Der Schwerpunkt seiner Forschung galt jedoch der chantischen Sprache, die mit dem Ungarischen, Finnischen und Estnischen verwandt ist und damit auf die interessante Geschichte dieses sibirischen Volkes verweist. Wolfgang Steinitz wirkte entscheidend bei der Schaffung der Schriftsprache der Chanten mit. Aus dieser Tätigkeit ist eine Schule von Finnougristen und Chantenforschern in Deutschland, der Sowjetunion, Ungarn und im heutigen Russland sowie bei den Chanten selbst hervorgegangen. „Seine Geduld und Genauigkeit waren beispielhaft.“, berichtet Frau Nyemysova, die ihn noch kennen lernte. Sie ist die Nichte eines seiner chantischen Erzähler von 1935 und trat in die Fußstapfen von Steinitz. Auch heute, noch mit fast siebzig Jahren, ist sie aktiv auf dem Gebiet der Popularisierung der chantischen Sprache, die dank der Neubesinnung der indigenen Völker auf die eigene Identität und Kultur seit der Perestrojka auch durch die Bildungspolitik des Autonomen Bezirks wieder gefördert wird.


Vielseitiger Forscher und kritischer Kommunist

Wolfgang Steinitz zeichnet sich durch einen ungewöhnlichen wissenschaftlichen Werdegang und ein unglaublich produktives und vielseitiges Schaffen aus. Seine politischen Überzeugungen und gesellschaftlichen Aktivitäten lassen sich nicht in eine Schablone pressen. Steinitz kam aus einem bildungsbürgerlichen jüdischen Elternhaus, er war aber kein praktizierender Jude. Er studierte entgegen dem väterlichen Willen nicht Jura, sondern Finno-Ugristik. 1927 trat er in die KPD ein. 1934 emigrierte er in die Sowjetunion und wurde mit erst 29 Jahren Professor an der Hochschule für Nordvölker in Leningrad. 1937 emigrierte er mit seiner Familie weiter nach Schweden. Nach Kriegsende wurde er Professor für Finno-Ugristik und Direktor des Finno-Ugrischen Instituts an der Humboldt-Universität Berlin. Da Fachkräfte gesucht werden, erweitert er sein Profil um das Spezialgebiet Slawistik und war als „Behelfsslawist“ tätig, wie er sich selbst nannte. Steinitz war maßgeblich an der Neugestaltung der Germanistik und Neubestimmung der deutschen Volkskunde an der Humboldt-Universität beteiligt. Darüber hinaus war er Vizepräsident der Deutschen Akademie der Wissenschaften und Direktor des Instituts für Deutsche Volkskunde, initiierte zahlreiche Kommissionen an der Akademie, unterstützte finanziell Studenten und Einrichtungen etc. etc.

Eine vorbildliche wissenschaftliche Karriere gepaart mit einem hohen Maß an gesellschaftlichem Engagement sowie Beharrlichkeit, Zielstrebigkeit und bemerkenswerter Menschlichkeit – dies bescheinigten ihm seine Wissenschafts- und Exilkollegen wie u. a. der bekannte Linguist Roman Jakobson ebenso wie ehemalige Kollegen, die die DDR wegen ihrer ideologischen und wissenschaftlichen Enge in der Ulbricht-Ära, die auch Steinitz nicht unbehelligt lassen sollte, verließen.

Allerdings glatt verlief seine Karriere nicht. Wer Wolfgang Steinitz kannte, wusste, dass sein gesamter wissenschaftlicher Werdegang untrennbar war von seiner politischen Haltung und seinen gesellschaftlichen Aktivitäten. Während seiner schwedischen Emigration war er konspirativ und gegen Kriegsende offen politisch tätig. In der jungen DDR unterstützte er den Neuaufbau des Wissenschaftsbetriebes im Sinne der neuen Politik bei gleichzeitiger Toleranz und Loyalität gegenüber Fachkräften mit so genanntem bürgerlichem Hintergrund, was ihm immer wieder vorgehalten wurde. Steinitz war unter seinen Studenten sehr beliebt. Er gehörte zu jener ersten führenden „Garde von Sozialisten bzw. Wissenschaftlern“ der DDR, die kritikfähig waren und Kritik auch gegenüber „obersten Stellen“ äußerten. Für seine unbequemen Äußerungen geriet Steinitz ins Visier von Ulbricht und der Staatssicherheit. In einer Rede vor dem Zentralkomitee kritisierte er im Juli 1955 die dogmatische Wissenschaftspolitik der SED und die diskriminierende Haltung gegenüber bürgerlichen Fachkräften sowie die wachsende Ja-Sager-Mentalität, dass man „im Ministerrat oder im Politbüro nur das sagen darf, was von einem erwartet wird“.

Das Oevre von Steinitz umfasst 400 Publikationen, darunter ein Wörterbuch der Ostjakischen Sprache. Seine wichtigsten Aufsätze und die in Westsibirien aufgezeichneten Märchen und Lieder der Chanten sind in dem vierbändigen Werk „Ostjakologische Arbeiten“ nach seinem Tode von einem Wissenschaftlerteam zusammengestellt und veröffentlicht worden, zu dessen Initiatoren seine Tochter Renate Steinitz, ebenfalls Sprachwissenschaftlerin, gehörte. Von Steinitz stammt auch das erste nach dem Krieg in der DDR erschienene Lehrbuch der Russischen Sprache, dass lange sehr populär war.


Westsibirische Tagebuchaufzeichnungen

Zurück nach Westsibirien. In protokollartigen Tagebuchnotizen dokumentiert Steinitz den Einbruch der Moderne, die durch die Oktoberrevolution nun auch in Westsibirien angekommen ist und in alle Lebens- und Arbeitsbereiche der Chanten eingreift, die bis dahin traditionell als halbnomadisches Volk vom Fischfang, der Rentierzucht, der Jagd und dem Beerensammeln lebten. Die Notizen enthalten viele ethnologische, soziale und politische Details. Soweit es ihm möglich ist, benennt er Widersprüche. Er benennt das aufkommende Übel des Alkoholismus, die Diskriminierung von Schamanen, denen das Stimmrecht aberkannt wurde. Der Kazymer Aufstand, den er erwähnt, war der Höhepunkt des Widerstands der Chanten gegen die Vereinheitlichungspolitik unter Stalin. An diesen Aufstand erinnert heute ein nach der Perestrojka in Berjosowo aufgestelltes Denkmal.

Als Wolfgang Steinitz zum Abschluss seiner Expedition durch den Nationalen Bezirk Ostjako-Wogulsk, so die alte Bezeichnung des Autonomen Bezirks Chanty-Mansijsk, der gerade fünf Jahren zuvor gegründet wurde, in die Bezirkshauptstadt kommt, heißt sie noch nicht Chanty-Mansijsk. Sie stellt eine kleine Siedlung dar, bestehend aus niedrigen Holzhäusern zugereister und dorthin verbannter Russen, neben den traditionellen Wohnsitzen der Chanten. Das heutige Chanty-Mansijsk, das nahe des Zusammenflusses von Irtysch und Ob liegt, und das in den letzten Jahren als Austragungsort der Biathlonweltmeisterschaften bekannt wurde, ist eine boomende und moderne Stadt. Sie ist eine der Städte mit den höchsten Löhnen in Russland - alles gegründet auf den Reichtum an Öl und Gas.


Die Chanten heute

Die Lebensbedingungen der indigenen Bevölkerung haben sich allerdings seit der rasanten Steigerung der Öl- und Gasförderung Ende der 80er Jahre dramatisch verschlechtert. Einer der gravierenden Gründe sind die vielen Öllecks und ölverseuchten Flüsse.

Kupfer Oeltonne
Öltonne im Fluss am Haus der Familie Nimperow, Chanten, Surguter Kreis, Autonomer Bezirk der Chanten und Mansen, Juni 2004; © Klaus Kupfer

Erst seit Mitte der 90er Jahre gibt es einen Wandel in der Politik seitens der Bezirksadministration und der Erdölindustrie. Es ist eine Verbesserung des Rechtsstatus der Indigenen und eine zunehmende Unterstützung von Projekten und Institutionen zur Förderung der Kulturen und Sprachen sowie der traditionellen Arbeitszweige zu verzeichnen. Und die Schamanen und Schamaninnen? Sie nehmen heute von ihrem „Stimmrecht“ auch auf internationalen Konzerten und Expositionen aktiv Gebrauch und geben ihr unschätzbares Wissen weiter.

Kupfer tote Fische
Tote Fische in der Salma, Nebenfluss des Pim, Surguter Kreis, Autonomer Bezirk der Chanten und Mansen, Juni 2004; © Klaus Kupfer

Steinitz hat diese Zeit nicht mehr erleben können. Überraschend verstarb er 1967 im Alter von nur 62 Jahren. Im September fand in Westsibirien aus Anlass des 100.Geburtstags von Wolfgang Steinitz und des 300.Geburtstags von Gerhard Friedrich Müller, dem „Vater“ der sibirischen Historiographie“, ein internationales Symposium statt. Organisiert und finanziert von sibirischer Seite als mehrtägige Schiffsreise, die den Expeditionsorten dieser deutschen Forscher folgte, war es eine spannende Unternehmung mit Vorträgen, Podiumsgesprächen, Filmvorführungen, Besichtigungen vor Ort und überraschenden Treffen mit Nachkommen der Gesprächspartner von Steinitz. Im Herkunftsland der genannten Sibirienforscher, in Deutschland selbst, wurden kleinere Jubiläumsveranstaltungen abgehalten, die eher unauffällig blieben. Die von Steinitz gegründete Wissenschaftstradition in Berlin aber besteht nicht mehr. Denn sämtliche Wissenschaftler sind nach einer kurzen „Integrationsphase“ im WIP (Wissenschaftsintegrationsprogramm) in den 90er Jahren abgewickelt worden.

Es bleibt ein aktueller Nachsatz. Mit dem jüngst abgeschlossenen Gasvertrag hat sich der deutsche Exkanzler Schröder ein Plätzchen in der russisch-sibirischen Gasindustrie gesichert. Hierzulande wird Anstoß genommen an seinem anrüchig schnellen Wechsel in die Wirtschaft. Unbeachtet blieb dabei die fragwürdige Forcierung des Gas- und Ölabbaus, die die Lebensbedingungen der indigenen sibirischen Völker zerstört wie auch die Mitverantwortung Deutschlands, das einen großen Teil der benötigten Energie aus diesem Gebiet importiert.