Report | Kulturation 2012 | Dietrich Mühlberg | Wer will was aus unserer jüngsten Geschichte lernen?
Anmerkungen zu Geschichtspolitik und Erinnerungskultur
| Am
21. September 2012 hatte der "Verein zur Förderung
lebensgeschichtlichen Erinnerns und biografischen Erzählens" in den
Salon Rohnstock eingeladen. Er hatte eine Tagung unter dem
anspruchsvollen Titel "Krise und Utopie. Was heute aus der
DDR-Planwirtschaft für ein zukünftiges Wirtschaften gelernt werden
kann" vorbereitet. Sie hatte das Ziel, Wirtschaftslenker der DDR davon
zu überzeugen, dass es sinnvoll ist, ihre Lebens- und Berufserfahrungen
festzuhalten. Zwölf Generaldirektoren von Industriekombinaten der DDR
kamen zu Wort und bestätigten mit ihren hochinteressanten
Erfahrungsberichten das Anliegen, sie zu autobiografischem Erzählen zu
ermuntern. Wie dringlich es ist, darauf hatte Isolde Dietrich zuvor in
ihrem Text "Das Schweigen der Kombinatsdirektoren – eine
Bestandsaufnahme" (www.kulturation.de/ki_1_report.php?id=176)
hingewiesen.
Der Verein hatte Dietrich Mühlberg gebeten, diese Absicht in einem
Eröffnungsbeitrag zu erläutern. Diesen Tagungs-Prolog geben wir nach
dem Vortragsskript wieder.
Der Überschrift nach sind wir hier zusammengekommen, weil wir
herausfinden wollen, was von den Arbeits- und Lebenserfahrungen
führender Wirtschaftslenker der DDR für künftiges Tun bewahrenswert
sein könnte. Diese wohl einmalig zusammengesetzte Runde kompetenter
Zeitzeugen - zwölf ehemalige Generaldirektoren von Industriekombinaten
wirken hier mit - wollen wir in vier thematischen Komplexen und einem
Epilog darauf befragen. Was der heutige Gedankenaustausch dazu an
Anregungen auch erbringen mag und wie wir diese Erfahrungen auch
bewerten mögen - der erste und wohl wichtigste Schritt besteht darin,
sie festzuhalten, zu dokumentieren, zu bewahren
Wenn Sie die "Bestandsaufnahme" von Isolde Dietrich gelesen haben, dann
wissen Sie, wie einmalig schlecht es darum bestellt ist: "Alle
schreiben Autobiografien – nur die einstige Elite der ostdeutschen
Industrie nicht" [http://www.kulturation.de/ki_1_report.php?id=176].
Der heutige Erfahrungsaustausch hat Gewicht vor allem als Auftakt für
ein Projekt, das dies ändern soll und zwei Lücken zu schließen
versucht. Einmal fehlen in der inzwischen reichen (auto)biografischen
Literatur der Ostdeutschen die wirtschaftlichen Führungskräfte so gut
wie ganz. Und dann hat die reiche biografische Literatur deutscher
Wirtschaftsführer eine Leerstelle: es fehlen ihr die Ostdeutschen. Das
kann nicht angehen und sollte ausgeglichen werden. Noch ist es dazu
nicht zu spät.
Der Überschrift nach sind wir hier zusammengekommen, weil wir
herausfinden wollen, was von den Arbeits- und Lebenserfahrungen
führender Wirtschaftslenker der DDR für künftiges Tun bewahrenswert
sein könnte. Diese wohl einmalig zusammengesetzte Runde kompetenter
Zeitzeugen - zwölf ehemalige Generaldirektoren von Industriekombinaten
wirken hier mit - wollen wir in vier thematischen Komplexen und einem
Epilog darauf befragen. Was der heutige Gedankenaustausch dazu an
Anregungen auch erbringen mag und wie wir diese Erfahrungen auch
bewerten mögen - der erste und wohl wichtigste Schritt besteht darin,
sie festzuhalten, zu dokumentieren, zu bewahren
Wenn Sie die "Bestandsaufnahme" von Isolde Dietrich gelesen haben, dann
wissen Sie, wie einmalig schlecht es darum bestellt ist: "Alle
schreiben Autobiografien – nur die einstige Elite der ostdeutschen
Industrie nicht" [http://www.kulturation.de/ki_1_report.php?id=176].
Der heutige Erfahrungsaustausch hat Gewicht vor allem als Auftakt für
ein Projekt, das dies ändern soll und zwei Lücken zu schließen
versucht. Einmal fehlen in der inzwischen reichen (auto)biografischen
Literatur der Ostdeutschen die wirtschaftlichen Führungskräfte so gut
wie ganz. Und dann hat die reiche biografische Literatur deutscher
Wirtschaftsführer eine Leerstelle: es fehlen ihr die Ostdeutschen. Das
kann nicht angehen und sollte ausgeglichen werden. Noch ist es dazu
nicht zu spät.
Vom einladenden Verein wurde ich gebeten, für unser Treffen eine Art
Prolog zu sprechen. Und dies als Kulturwissenschaftler, also als ein in
vieler Hinsicht Fachfremder. Um mich ein wenig zu legitimieren und mein
Interesse an der Sache zu begründen, möchte ich zuerst kurz erzählen,
dass mich die Lebensgeschichte einer wirtschaftspolitischen
Führungskraft seit meiner Kindheit außerordentlich bewegte und ihre
Biografie den eigenen Lebenslauf mitbestimmt hat. Bis heute mache ich
mir den Vorwurf, sie nicht beizeiten festgehalten zu haben.
Ich spreche von meinem Vater, der (wie meine Mutter) hier gleich um die
Ecke im östlichen Zentrum von Berlin in sehr "einfachen Verhältnissen"
1909 geboren wurde und neben dem heutigen Karl-Liebknecht-Haus
aufgewachsen ist. Er war ein guter Schüler, kam in die Förderklasse,
erhielt eine Freistelle an der Realschule, absolvierte fünf Semester
Gauss-Schule, wurde Ingenieur für das Fachgebiet Kalkulation. Und
zugleich war er ein sehr linker Sozi, Sozialistische Arbeiterjugend,
Freidenker, Naturfreunde. 1945 wurde er Ortssekretär der SPD mit Büro
im Antifa-Heim. Vater und Mutter stimmten 1946 - beide SPD-Delegierte
auf dem Vereinigungsparteitag - aus tiefer Überzeugung mit "Ja" - zogen
die Lehren aus ihrer wie aus deutscher Politikgeschichte. Für sie war
es selbstverständlich, dass alles das, was da nun mühsam wieder
aufgebaut wurde, nicht denen gehören sollte, deren wirtschaftliches und
politisches Handeln Deutschland ruiniert hatte. Es sollte künftig den
arbeitenden Menschen gehören, Volkseigentum sein. Vater wurde Kursant
Nr. 46 der SED-Parteihochschule, war dann 1948 in der Deutschen
Wirtschaftskommission (der DWK) für die Kontrolle der landeseigenen
Betriebe zuständig und hatte ab Herbst 1949 im neuen "Ministerium für
Planung" eine Hauptabteilung zu leiten, zu der die Bereiche
Arbeitskräfte, Löhne, Soziales, Berufsausbildung, Gesundheitswesen und
Kultur gehörten.
Ein gutes Jahr später bescheinigten ihm Heinrich Rau und Bruno
Leuschner in einer überschwänglichen Beurteilung was er da alles
aufgebaut habe. Sie bedauerten es sehr, dass er auf eigenen Wunsch dies
Amt aufgebe. In Wirklichkeit war "auf Parteiebene" die FDJ-Gruppe gegen
ihn mobilisiert worden, die ihn für sein "Zweifeln an der Tatkraft der
Jugend" anklagte und seine Entfernung forderte. In Wahrheit flog er
(wie andere auch) wegen seiner SPD-Herkunft aus dem Ministerium und
weil er 1945 drei Monate in einem Gefangenenlazarett der britischen
Zone gelegen hatte. Hinzu kam, dass sein Konzept vom "progressiven
Leistungslohn" der neuen Losung "Normerhöhung steigert den Reallohn"
widersprach. Und überdies stand der deutsche Ingenieur mit Fachgebiet
Kalkulation einigen nun zur Vorschrift gewordenen Praktiken der
sowjetischen "Freunde" leicht skeptisch gegenüber. Aus dem
Ministerialdirigenten der Regierung wurde der Haupttechnologe und dann
der Produktionsleiter des Transformatorenwerks Oberschöneweide, und
schließlich war mein Vater Produktionsplaner in den Elektro-Apparate-
Werken "J. W. Stalin". Bis in die 50er Jahre hatte er Offerten des
Ostbüros der SPD ebenso abzuwehren wie Anschuldigungen der eigenen
Parteiführung. Freunde der Familie gingen ganz in den Westen, Vater nur
zu Agitationseinsätzen - für mich war das Familienleben zugleich
aufregende Politik- und Wirtschaftsgeschichte mit vielen heißen
Debatten. Selbstredend habe ich kaum verstanden, wie kompliziert und
eigenartig der Wiederaufbau der ostdeutschen Industrie in
sozialistischer Absicht damals war.
Die Biografie meines Vaters scheint mir eine für die erste Generation
der DDR-Wirtschaftskapitäne typische Variante zu sein (die
sozialdemokratische). Heute kann ich zwar abschätzen,
von welcher Zukunftserwartung, welchen politischen Überzeugungen und
Feindbildern sie sich leiten ließen, mit welchen fachlichen
Voraussetzungen und mit welchem Lerneifer Vater und seine Genossen wie
Kollegen darangingen, das neuartige Volkseigentum zu verwalten und zu
mehren. Doch hätte ich gern mehr gewusst. Vor allem: wie es geschehen
konnte, dass sachorientierte deutsche Ingenieure und Ökonomen zu
Sozialisten und Sachwaltern von Volkseigentum werden konnten.
Dieses Interesse gilt inzwischen auch der zweiten und dritten
Generation der wirtschaftlichen Leiter. Zwar kann ich in der
Fachliteratur nachlesen, aus welchem sozialen Milieu solche
Führungspersönlichkeiten kamen, welchen Bildungsweg sie gegangen sind.
[Vgl. dazu: Axel Salheiser, Parteitreu, plangemäß, professionell? Rekrutierungsmuster und Karriereverläufe von DDR-Industriekadern. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009 und Thomas Steger, Zwischen
Arbeitsamt und Altersheim? - Die ehemaligen DDR-Kombinatseliten und ihr
Weg durch die Transformation, in: Zeitschrift für Personalforschung,
18(4), 2004, S. 436-453.] Aber ich erfahre nicht, welche Eigenschaften,
Kenntnisse, Lebensvorstellungen, Grundsätze, moralischen Prinzipien
jemand haben musste, der ein solches Imperium wie ein volkseigenes
Industriekombinat im Interesse aller - sowohl der vielen Mitarbeiter
als auch des Gesellschaftsganzen - zu führen in der Lage war. Welche
Interessenkonflikte haben sie geprägt und welche "Innenausstattung" hat
sie zu welchen Entscheidungen geführt?
Was ich heute nicht mehr kann: mir von meinem Vater erzählen lassen,
wie er die konfliktreichen Jahrzehnte erlebt hat, was ihm Halt gab und
ihm wichtig war und worin er die Summe seines Lebens sieht - ich habe
da etwas versäumt. Dies auch, weil zu seinen Lebzeiten noch niemand von
"Oral History" redete und autobiografische Verortungen auch mit dem
damaligen Geschichtsbild der SED kaum zusammenpassten.
Zwar kann ich heute an seinen Anstreichungen in den Büchern von
Friedrich Behrens, Friedrich Zahn, Friedrich Lenz noch irgendwie
rekonstruieren, wie sich Friedrich Mühlberg einst gemüht hat, einen für
die neuen Verhältnisse praktikablen Begriff von Arbeitsproduktivität zu
gewinnen. Aber seine Autobiografie gibt es nicht, er starb vor 40
Jahren als Frührentner - davor wäre noch etwas Zeit gewesen, ihm die
Lebenserinnerungen nachdrücklich abzufordern. Er selbst, wie wohl die
meisten seiner Genossen und Kollegen, hielt das nicht für wichtig,
fühlte sich eher als Parteisoldat, der - ohne Aufhebens zu machen -
einfach seine Pflicht tat. Sie alle haben wohl nicht recht realisiert,
dass sie es waren, die Ostdeutschland aus dem Chaos von Zerstörung und
zu tilgender Kriegsschuld führten, indem sie eine leistungsfähige
Industriegesellschaft aufgebaut haben.
Ich selbst habe aus dieser erlebten frühen DDR-Geschichte meine
"Lehren" gezogen: ich wollte kein Ingenieur, kein Ökonom und kein
Politiker werden, sondern wissen, was hinter all dem steckt, nach
welchen ehernen Bewegungsgesetzen die Gesellschaft funktioniert und
schrieb mich darum zum Philosophiestudium ein.
Auf den ersten Blick schien mir in den frühen 50ern in der DDR alles
dafür zu sprechen, dass wir im Osten aus der deutschen Geschichte das
Richtige gelernt haben. Wir haben den "Irrweg einer Nation" (Alexander
Abusch) verlassen und die "Lehren deutscher Geschichte" (Albert Norden)
beherzigt. Was ich aber bald aus der (Philosophie)geschichte lernen
musste: seit ihrem Anbeginn hat es eine Debatte darüber gegeben, ob aus
der Geschichte überhaupt etwas gelernt werde oder gelernt werden könne.
Inzwischen ist auch die DDR Geschichte geworden - aber können wir
daraus lernen? Die Überschrift unserer Beratung setzt das voraus und
fragt gleich, was denn alles aus der Geschichte, und speziell aus der der "DDR-Planwirtschaft" gelernt werden könne.
Für solches Lernen scheint schon zu sprechen, dass in unserer
Gesellschaft recht viele Menschen ihr Brot damit verdienen, dass sie
"Geschichte" als Beruf betreiben (als Wissenschaftler und Lehrer, als
Archivare und Museumsdirektoren und vor allem als Medienmacher). Sie
alle wollen andere etwas aus "der Geschichte" lernen lassen. Ihr Eifer
kann stutzig machen und trägt wohl dazu bei, dass sich zugleich die
Auffassung hält, dass niemand etwas aus der Geschichte gelernt habe
oder lernen könne. Schon der Aufklärer Voltaire hat es knapp gesagt:
"Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat". Nicht ganz so
zugespitzt formuliert könnte man auch sagen: "die Geschichte" überhaupt
ist das, was die Menschen meinen aus der Vergangenheit gelernt zu haben.
Doch der von Voltaire unterstellte Konsens ist nicht wirklich
übergreifend und auch nicht dauerhaft. Denn die "aufgearbeitete
Vergangenheit", "die Geschichte" - oder besser das Geschichtsbild - ist
nicht mehr und nicht weniger als das, was Menschen aufgrund ihrer
sozialen Position aus ihr lernen wollen oder lernen können.
Der Blick auf das Vergangene ist nach sozialer Stellung, politischer
Position, nach kulturellem Milieu, nach dem je eigenen
Gesellschaftsbild usw. recht verschieden. Und "Geschichte" ist dann
genau das, was man jeweils meint gelernt zu haben, eben das, was man
sich zurechtgelegt hat, um sein aktuelles oder zukünftiges Handeln
(oder seine Absichten) zu legitimieren, zu begründen. Oder einfach das,
was man braucht, um seine Vorurteile zu bestätigen.
Wir haben das am Umgang mit der jüngsten Vergangenheit der Ostdeutschen
alle erlebt. Ausdrücklich und durch Parlamentsbeschluss bekräftigt
sollte "Geschichte" dem sozialistischen Versuch die Legitimation
absprechen, ihn als SED-Herrschaft delegitimieren. Und so ist es auch
geschehen. Das offizielle Geschichtsbild - von der historischen
Forschung bis zur Erinnerungsindustrie - hat die DDR als Unrechtsstaat,
als zweite deutsche Diktatur mit maroder Wirtschaft gezeigt. Doch
"Aufarbeitung der SED-Diktatur" klingt nicht nur wie eine Kampfparole
in volkspädagogischer Absicht. Es sagt zugleich, dass viele
Zeitgenossen die Vergangenheit offenbar "falsch", augenscheinlich
anders sehen, dass auch aus anderen Perspektiven auf die Geschichte der
deutschen Teilung geblickt werden kann.
Jedenfalls kann diese Art der "Aufarbeitung" nicht erklären, wie und
warum die Geschichte der deutschen Industriegesellschaft so und nicht
anders verlaufen ist, wie die beiden über vierzig Jahre konkurrierenden
deutschen Gesellschaften aus der widersprüchlichen Geschichte dieser
deutschen Industriegesellschaft hervorgegangen sind, sie auf
verschiedene Weise fortsetzten und nach 1990 als ein deutlich
verändertes Gebilde zusammenkamen. Eine nun vereinigte Gesellschaft -
immer noch in dieser Tradition und immer noch mit den inneren
Widersprüchen, die einst zur Gründung eines Alternativversuchs geführt
haben.
Es liegt auf der Hand: was da vom Staatssozialismus und von der
DDR-Planwirtschaft zu lernen wäre, hängt von der Interessenlage des
Betrachters ab. Wenn angesichts der Bankenkrise auf den
"Staatssozialismus" geblickt wird, dann könnten seine Erfahrungen die
Vorstellung stützen, dass der Staat die Finanzwirtschaft regulieren und
sich selbst als dirigierendes Instrument begreifen müsse. Das Spektrum
reicht hier von der Erinnerung an Lenins Nationalisierung der Banken
bis zu Merkels zaghaften regulierenden Eingriffen (aber offenbar
zugunsten des Finanzkapitals). Es kann auch das Gegenteil aus der
DDR-Geschichte gelernt werden: Der Staat müsse sich da raushalten, denn
er kann die Finanzmärkte ohnehin nicht kontrollieren. Er soll überhaupt
nichts Wirtschaftliches planen und regulieren, denn planwirtschaftliche
Systeme brechen bekanntlich zusammen.
Aber vielleicht kann da heute gar nichts gelernt werden, weil es in der
DDR gar keinen Finanzmarkt gab und sie im Kern eine
"Produktionsgesellschaft" war? Und - noch wichtiger - weil der größte
Teil des produktiven Vermögens staatlich verwaltetes Gemeineigentum war
- neben dem genossenschaftlichen und dem verbliebenen Privatbesitz -
völlig andere Verhältnisse also, nichts davon übertragbar aufs Heutige.
Doch unsere Tagungs-Überschrift ist hoffnungsvoll, sie rechnet nicht
mit heute, nicht mit Merkel, Deutscher Bank und Rösler, sondern fragt,
was für ein "zukünftiges Wirtschaften" gelernt werden könnte. Aber wer
wird da zukünftig wirtschaften und lernbegierig nach Anregungen bei
seinen Vorläufern suchen?
Es ist schon klar, dass die Strategen der "Zockerbuden", wie Sarah
Wagenknecht so abwertend die Superbanken nennt, dass die
profitorientierten Finanzmanager nichts für sie Brauchbares aus der
DDR-Wirtschaftsgeschichte lernen können. Da dient diese Geschichte
ihren politischen, medialen und wissenschaftlichen Zuträgern nur als
Exempel für die Sinnlosigkeit radikaler alternativer Programme und als
Bestätigung bestehender Verhältnisse.
Unser Blick auf die Vergangenheit hängt davon ab, wie wir
die Gegenwart wahrnehmen und welche Zukunftserwartungen wir haben. Und
da sind wir ganz optimistisch und erwarten, dass künftig nicht die
Finanzmanipulateure, sondern am Gemeinwesen orientierte Strategen der
Realwirtschaft den Ton angeben werden, die eine solidarische und
nachhaltige Ökonomie anstreben. Und sie werden dann auch auf andere
geschichtliche Erfahrungen zurückgreifen als allein am Gewinn
orientierte Profitjäger. Wahrscheinlich werden sie alle früheren
Akteure solidarischen und bedürfnisorientierten Wirtschaftens zu ihren
Vorläufern im Geiste zählen. Darum könnte es Sinn machen, deren Tun und
Lassen als geschichtliches Wissen zu bewahren.
Ist unsere optimistische Erwartung begründet? Vielleicht schon, wir
fühlen ja, dass wir am Anfang einer "Übergangskrise" stehen und dass
der "Kapitalismus, wie wir ihn kennen" (Elmar Altvater) sie wohl nicht
meistern wird, dass also Praktiken sich als nötig erweisen, die so gar
nicht zu dem heutigen Finanzmarkt-Kapitalismus passen. Und da sollten
wir in der ostdeutschen Geschichte auf Fingerzeige stoßen?
Nun war die DDR gewiss nicht die Welt, aber im Winzigkleinen stand sie
vor sehr ähnlichen "Problemen". Denn heute ist ja auf zunehmende
Ressourcenknappheit zu reagieren wie auf den Rückgang der
Arbeitskräftezahl. Selektives Wachstum ist ebenso angesagt wie der
Rückgriff auf regional Verfügbares. Den ökologischen Herausforderungen,
der Gefährdung unseres Lebensraumes muss begegnet werden und zugleich
muss mit den wachsenden zivilisatorischen Ansprüchen der Menschen in
den aufstrebenden Weltgegenden gerechnet werden. Wir brauchen wirksame
Konzepte, der wachsenden sozialen Ungleichheit zu begegnen und den
sozial Abgehängten in Europa ein anständiges Leben zu ermöglichen. Die
Konflikte drängen, uns alle darüber zu verständigen, wie wir unseren
Planeten lebenswert erhalten können und wie wir unser Verhalten
entsprechend einrichten. Das erinnert mich sehr an die knappste
Definition, die Marx für den Kommunismus gegeben hat: er ist eine
Vereinbarung über die gemeinsam zu befriedigenden Bedürfnisse.
Wie schwierig es ist, eine solche Vereinbarung herzustellen, zeigt die
"Geschichte des realen Sozialismus". Und die wird zu einem spannenden
Erfahrungsfeld, wenn nicht mehr auftragsgemäß erforscht wird, warum
Sozialismus unmöglich ist, sondern gefragt wird, wie eine solche
"Vereinbarung" mehr oder weniger erfolgreich praktiziert worden ist.
Dann ist das eigentlich Spannende (und zu Bewahrende) der
Erfahrungsschatz, den die Ostdeutschen in die gemeinsame Geschichte
eingebracht haben. Gerade mit den Lebensgeschichten der
"Wirtschaftskapitäne" könnte es gelingen, die Versuche zu alternativem,
zu solidarischem und gemeinwohlorientiertem Wirtschaften festzuhalten.
Beispielhaft könnte ihr schöpferischer Umgang mit den vielen
grenzziehenden Sachzwängen sein, ihr Verständnis von dem, was Marx "die
Selbstregierung der Produzenten" genannt hat.
Für mich ist die zukunftsweisende Kernfrage: wie haben sich die
sachorientierten deutschen Ingenieure und Ökonomen als Sozialisten und
Sachwalter von Gemeineigentum verstanden? Welche Handlungsantriebe
ließen sie jenseits profitorientierten Wirtschaftens so aktiv werden?
Welche Lebensvorstellungen, Grundsätze, moralischen Prinzipien musste
jemand haben, der ein solches Imperium wie ein volkseigenes
Industriekombinat im Interesse aller - sowohl der vielen Mitarbeiter
als auch des Gesellschaftsganzen - zu führen in der Lage war. Welche
Interessenkonflikte haben ihn geprägt und welche "Innenausstattung" hat
sie zu welchen Entscheidungen geführt? Vielleicht hat ihr
sozialistisches Wirtschaften subjektive Qualitäten freigelegt, die
aktuell oder zukünftig unbedingt gebraucht werden?
Für die Auflösung der Systemkrise liegen bekanntlich recht
unterschiedliche Angebote vor, aber alle haben eine starke historische
Komponente. Am ganz linken Flügel wird das Credo des vor fünfhundert
Jahren vom Adel besiegten Bauernheeres aufgenommen: „Geschlagen ziehen
wir nach Haus, unsre Enkel fechten's besser aus“. Die spätere
Revolutionsgeschichte wird ausgewertet und daraus geschlossen, dass
nach den beiden gescheiterten Versuchen von Pariser Kommune und
Oktoberrevolution nun der dritte Anlauf fällig sei. Nicht alle an Marx
orientierten Neuerer mögen ihn so revolutionär interpretieren und dabei
gar an die Diktatur des Proletariats erinnern, sondern setzen auf eine
schrittweise Einhegung profitorientierten Wirtschaftens durch jene
alternativen Kräfte, die praktikable Lösungsvorschläge für den Umgang
mit den grenzziehenden Sachzwängen haben. So oder so könnte sich die
Marxsche Voraussage bestätigen: "die Selbstregierung der Produzenten
wird die Profitwirtschaft durch Gemeinwirtschaft ersetzen".
Selbstverständlich wissen wir nicht, wie es ausgehen wird und ob sich
tatsächlich gemeinwirtschaftlich orientierte Kräfte durchsetzen werden.
Ungünstig wäre es in jedem Falle, wenn dann frühere Versuche einer
alternativen Ökonomie und solidarischen Wirtschaftens aus dem sozialen
Gedächtnis verschwunden wären. Darum ist es verdienstvoll und ein
würdiger Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur, wenn diejenigen, die
das unter ihren speziellen - und in dieser Art und Konstellation ganz
sicher nicht wiederkehrenden - Bedingungen erprobt haben, zu Worte
kommen und ihre Erfahrungen in Gestalt ihrer Lebensgeschichte
festgehalten werden. Dazu könnte das mit dieser Tagung eröffnete
Projekt einen würdigen Beitrag leisten.
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