Report | Kulturation 2/2003 | Lutz Haucke | Filmliste für die Schulen - wessen Bildungskanon?
Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung
| Einführungen
in die Filmgeschichte und die Filmästhetik gibt es in den Lehrplänen
der Schulen in der BRD nicht und wird es auch in absehbarer Zeit nicht
geben obwohl die Filmgeschichte im Zeitalter der elektronischen Medien
allen Anspruch hat, schulisches Bildungsgut zu sein wie die Kunst-,
Literatur- und Musikgeschichte. Kürzlich legte das
Unterrichtsministerium Bayerns ein Programm für ein Fach „Film“ vor. Es
orientiert auf die praktische Gestaltung von Filmen. Im Zeitalter der
elektronischen Medien heißt das Videogestaltung, denn 16mm- und
35mm-Filmproduktionen sind für den Schulunterricht zu kostspielig. Als
sich Mitte der 70er Jahre die germanistischen Institute auch der
Filmgeschichte und Filmanalyse annahmen (und die Romanisten und
Anglisten folgten an der Schwelle der 80er Jahre), gingen auch Impulse
an die Deutsch- und Fremdsprachenlehrer vorrangig der Gymnasien in der
BRD aus. So findet man unter den „Arbeitstexten für den Unterricht“ des
Reclam Verlages Stuttgart 1978 „Texte zur Poetik des Films“
(herausgegeben für die Sekundarstufe). Ebenfalls für die Sekundarstufe
erschien 1984 „Der Trickfilm als didaktische Aufgabe. Semiotische
Einführung und exemplarische Analysen“ (die Autoren waren Birgit Lermen
und Matthias Loewen, Hollfeld: C.Bange Verlag). In der Gegenwart wartet
die Bundeszentrale für politische Bildung im Internet mit
medienpädagogischen Hilfen und Hinweisen für Lehrer (und Interessierte)
auf. Man findet unter www.bpb.de die Filmhefte, einen (wenn auch etwas veralteten, wenn man an den Film „Filmsprache“ von Alexandrow,1984, denkt) AV-Medienkatalog für die außerschulische Bildungsarbeit, die Medienpädagogik- Online- Angebote und auch die Kinofenster-Online-Angebote mit dem Archiv zur Filmgeschichte.
Es verdient deshalb Aufmerksamkeit und Anerkennung, dass Thomas Krüger,
Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, im Juli
Filmwissenschaftler und deutsche Regisseure wie Volker Schlöndorff,
Dominik Graf, Tom Tykwer in Berlin zu einem Symposium einlud, um
Filmempfehlungen für die Schule – vorerst für die Fächer Deutsch,
Fremdsprachen und Sozialkunde – erarbeiten zu können. Man einigte sich
auf einen Bildungskanon von 35 Filmen, der der Kultusministerkonferenz
im Herbst zur Diskussion vorgelegt werden soll.
Zum Einsatz im Schulunterricht wurden vorerst empfohlen:
F.W.Murnau: NOSFERATU, 1922
Sergej M.Eisenstein: PANZERKREUZER POTEMKIN, 1925
Charles Chaplin: GOLDRAUSCH, 1926
Gerhard Lamprecht: EMIL UND DIE DETEKTIVE, 1930
Fritz Lang: M- EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER, 1931
John Ford: STAGECOACH, 1939
Victor Fleming: DER ZAUBERER VON OZ, 1939
Orson Welles: CITIZEN KANE, 1941
Ernst Lubitsch: SEIN ODER NICHTSEIN, 1942
Roberto Rosselini: DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL, 1948
Akira Kurosawa: RASHOMON, 1950
Federico Fellini: LA STRADA, 1954
Alain Resnais: NACHT UND NEBEL, 1955
Alfred Hitchcock: VERTIGO, 1958
Bernhard Wicki: DIE BRÜCKE, 1959
Jean-Luc Godard: AUSSER ATEM, 1959
Billy Wilder: DAS APARTMENT, 1960
Stanley Kubrick: DR.SELTSAM ODER WIE ICH LERNTE, DIE BOMBE ZU LIEBEN, 1964
Michelangelo Antonioni: BLOW UP, 1966
Wolfgang Reithermann: DAS DSCHUNGELBUCH, 1967
Konrad Wolf: ICH WAR NEUNZEHN, 1969
Francois Truffaut: DER WOLFSJUNGE, 1969
Wim Wenders: ALICE IN DEN STÄDTEN, 1973
Martin Scorsese: TAXI DRIVER, 1975
Rainer Werner Fassbinder: DIE EHE DER MARIA BRAUN, 1978
Andrej Tarkowski: STALKER, 1979
Ridley Scott: Blade Runner, 1981
Chris Marker: SANS SOLEIL, 1982
Claude Lanzmann: SHOAH, 1985
Kryszof Kieslowski : EIN KURZER FILM ÜBER DAS TÖTEN, 1987
Abbas Kiarostami: WO IST DAS HAUS MEINES FREUNDES, 1988
Ange Lee: DER EISSTURM, 1997
Atom Egoyan: DAS SÜSSE JENSEITS, 1997
Pedro Almodovar: ALLES ÜBER MEINE MUTTER, 1999
Und ein Film der Serie LAUREL UND HARDY.
Eine Liste von 35 Dokumentar- und Spielfilmen, die verbindlich sein
soll, birgt viele Probleme. Will man Näherungen an den Wandel der
„Filmsprache“ ermöglichen? Soll ein Zugang zur Filmgeschichte
(Weltfilmgeschichte, zur ost- und westeuropäischen und nationalen
Filmgeschichte) geschaffen werden? Will man berühmte Regisseure nahe
bringen? Solch eine Liste muss für viele Ansprüche herhalten. Deshalb
sind mit Sorgfalt die Kriterien der Auswahl offen zu legen. Werden
keine eindeutigen Kriterien erkennbar, beginnt der Streit um einzelne
Filmnennungen.
Wäre statt des Lamprecht-Film von 1930 sinnvoller die Orientierung auf
den französischen poetischen Realismus mit Jean Vigos BETRAGEN
UNGENÜGEND (1930)? Warum ausgerechnet Billy Wilders Komödie DAS
APARTMENT, 1960, für die schulische Bildungsarbeit? Warum der
ausgewählte Truffaut-Film und nicht ein anderer des Regisseurs? SIE
KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN (1958/59)? Weshalb hat man Andrzej Wajda
nicht bedacht (bedenkenswert wäre KANAL,1956, als Klassiker )? Warum
kein Film der Tschechischen Neuen Welle der sechziger Jahre (z.B. Jiri
Menzel SCHARF BEOBACHTETE ZÜGE, 1966)? Warum keinen Film der Ungarn
(M.Janscó, I.Szabó)? Warum Wenders mit ALICE IN DEN STÄDTEN,1973, und
nicht auch Alexander Kluge mit ABSCHIED VON GESTERN,1966, ein
Schlüsselfilm des Neuen deutschen Films? Warum Fassbinders EHE DER
MARIA BRAUN,1978, und nicht auch Margarete von Trottas BLEIERNE
ZEIT,1981? Warum nicht eine Synthese von Tanz- und Kamerachoreographie
z.B. LE BAL- DER TANZPALAST, 1983, von Ettore Scola? Man könnte solche
Fragen fortsetzen und sich damit beruhigen, dass ein Drittel der
vorgeschlagenen Filme vielleicht ersetzt wird von solchen Lehrern, die
ein pädagogisches Gespür für Gegenentwürfe zum Cineasten- und
mainstream - Kino der westeuropäischen Erlebnisgesellschaft besitzen.
Es muss also nach den Kriterien der vorliegenden Auswahl gefragt
werden. Verlautbarungen seitens der Bundeszentrale für politische
Bildung gibt es darüber nicht. Ausgegangen werden muss von der
vorliegenden Auswahl.
Zuerst lässt sich feststellen, dass die vorliegende Auswahl für die
Schule viele Filme mit Kindern und Jugendlichen aufweist (9), was
Zugänge seitens der Schüler erleichtern könnte. Über ein Drittel der 35
Filme folgt dem gängigen Genrekino (einschließlich der Dekonstruktionen
eines Genres): Vampirfilm (1), Revolutionsfilm (1), Komödie (6),
Western (1), Science Fiction (2), Kriminal-/Detektivfilm (2), Melodram
(1). Nicht ausgewählt wurde ein Märchenfilm (z.B. aus den vielen
DEFA-Märchenfilmen oder – anspruchsvoller- Jean Cocteau DIE SCHÖNE UND
DAS TIER, 1946) und auch keine Satire (z.B. Wolfgang Staudte DER
UNTERTAN, 1951, als Literaturverfilmung für den Deutschunterricht?).
Alle Gattungen der Filmkunst sind auch vertreten: Spielfilm (31),
Dokumentarfilm (2 plus 1 experimenteller Essayfilm) und
Zeichentrickfilm (1). Eine Literaturverfilmung für den
Deutschunterricht ist nicht zu entdecken. Die Liste nennt weiterhin 7
Klassiker, die Meilensteine in der Geschichte ungewöhnlicher
Erzählweisen schufen (S.M. Eisenstein, Orson Welles, Akira Kurosawa,
Federico Fellini, Jean Luc Godard, Michelangelo Antonioni, Chris
Marker). Man entschied sich für bekannte Regienamen der neueren
Filmgeschichte wie Almovodar, Fassbinder, Kieslowski, Tarkowski,
Wenders - darunter auch ein Film der Dorf- bzw. Erdbebentrilogie des
Iraners Abbas Kiarostami, Träger der Fellini-Medaille der UNESCO, und
ein Film des Kanadiers Atom Egoyan. Auffallend ist, dass in jedem
Jahrzehnt mindestens ein oder mehrere Hollywoodklassiker aufgestellt
wurden. Dem Hollywoodfilm wird also im Bildungskanon Priorität
eingeräumt. Nicht wenige Filme auf der Liste sind cineastische
Kultfilme (z.B. der mystische BLADE RUNNER von Ridley Scott, 1981). Aus
der osteuropäischen Filmgeschichte werden einzig die in Westeuropa sehr
bekannten Eisenstein, Tarkowskij und Kieslowski genannt. So gesehen,
scheint der angestrebte Bildungskanon für die Schulen der BRD vorrangig
cineastischen Ansprüchen in der westeuropäischen Erlebnisgesellschaft
Genüge leisten zu wollen. Wessen Bildungskanon ist das?
Um diese Frage beantworten zu können, muss man fragen, welche wichtigen
Tendenzen und Kristallisationspunkte der europäischen und
internationalen Filmkunst in diesem Bildungskanon überhaupt nicht
auftauchen.
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Erstens: auffallend ist, dass der cineastische Kanon Klassiker des sozialkritisch-realistischen Filmschaffens ignoriert.
Weder Vertreter der französischen noch klassische Werke der
italienischen (der ausgewählte Rosselini-Film ist eher ein Sonderfall
als ein typisches Beispiel des italienischen Neorealismus) oder der
englischen Realisten (free cinema und Nachfolger) sind zu entdecken.
Namen und Werke, die in der realistischen Tradition stehen – man denke
an de Sicas SCHUHPUTZER, 1946, oder FAHRRADDIEBE, 1948, an Tony
Richardsons BITTERER HONIG, 1961 oder DIE EINSAMKEIT DES
LANGSTRECKEN-LÄUFERS, 1962, an Paolo und Vittorio Tavianis VATER UND
HERR, 1977, an Filme von Ken Loach wie KES,1968 oder RAINING STONES,
1993. Dies sind Regisseure und Werke, die oftmals mit dokumentarer
Authentizität ein Kino der sozialen Verantwortung einforderten. Es ist
nicht nur die Tatsache bedenkenswert, dass in der BRD 2,8 Millionen
Kinder in Armutsfamilien leben, die es in der schulischen
Bildungsarbeit bedenkenswert macht, Maßstäbe für den
sozialkritisch-realistischen Film in Europa zu vermitteln. Es geht um
die Einheit von sozialethischer und ästhetischer schulischer Bildung.
In diesem Zusammenhang ist es auch notwendig an Alberto Cavalcantis
Kompilationsfilm FILM AND REALITY (1940, Britisches Filminstitut) zu
erinnern, der einen ausgezeichneten Überblick über die Anfänge und die
Entwicklung des realistischen Formprinzips in der Stummfilm- und frühen
Tonfilmära versucht hat.
Zweitens: Wenn man dem populären Genrekino Beachtung bei der Auswahl
schenkt und Hollywood in jedem Jahrzehnt mindestens einen Film
einräumt, dann sollte man gerade in der schulischen Bildungsarbeit die
außerhalb des main stream arbeitenden Regisseure, die formale
Neuerungen mit Jahrhundertthemen verbanden, nicht generell ausklammern.
Ich verweise auf die international preisgekrönten Filme von Theo
Angelopoulos (z.B.: DIE WANDERSCHAUSPIELER, 1975, oder DER BLICK DES
ODYSSEUS, 1995), die gerade für Gymnasiasten genug Stoff zur Diskussion
bieten. Dazu würde ich auch die Faschismusauseinandersetzung durch
Carlos Saura DIE JAGD, 1966, zählen und die
Stalinismusauseinandersetzung durch Tengis Abuladse in REUE, 1984. Es
ist doch bedenklich, dass die vorliegende Filmauswahl für die 80er und
90er Jahre außer dem Dokumentarfilm zur Holocaust-Problematik von
Lanzmann SHOAH, 1985, nicht einen Spielfilm zu großen geschichtlichen
Erschütterungen im 20.Jahrhundert berücksichtigte.
Drittens: Weshalb soll ein Bildungskanon für die Schule am Beginn des
21.Jahrhunderts Filmregisseure und Werke von Weltrang, die in der
Dritten Welt und nicht nur dort die politisierte Öffentlichkeit (und
nicht nur die Cineasten) aufwühlten, aussparen? Ich denke an den
afrikanischen „Klassiker“ Ousmane Sembene aus dem Senegal (z.B. für die
Schulen in der BRD empfehlenswert der in mehreren afrikanischen Staaten
verbotene Film GUELWAR, 1991/92, der Zugänge zum Islam und zu
Biographien in Afrika vermittelt). Bedenkenswert ist auch die Auswahl
eines typischen Vertreters des lateinamerikanischen Films (z.B. Jorge
Sanjines DER MUT DES VOLKES, 1971).
Die Aufzählung dieser vielen Filme macht deutlich, wie problematisch
eine Filmliste mit nur 35 Filmen ist. Ergänzende Filmlisten könnten für
die Lehrer von Nutzen sein. Wenn die Bundeszentrale folgende Filmlisten
zugängig machen würde, könnte das eine Hilfe sein:
- Die BBC hat aus Anlass der hundertjährigen Geschichte des Kinofilms
eine Liste mit 100 Filmen der internationalen Filmgeschichte seit den
30ern ausgewählt, die ein gutes Arbeitsmaterial abgibt (vgl. The
Guardian, Friday December 30 1994 /Beilage)
- Eine Liste der 100 besten deutschen Filme findet man auf der CD-Rom
Kinematheksverbund(Hg): Die deutschen Filme: Deutsche Filmografie
1895-1998 und die Top 100, Ffm, Berlin: Deutsches Filminstitut -DIF,
Ffm; Filmmuseum Berlin- Deutsche Kinemathek 2000 /ISBN: 3-9805865-2-9.
Es spricht für die Bundeszentrale für politische Bildung, dass sie auf
ihrer Internetseite seit August 2003 zu Wortmeldungen zur Liste der 35
Filme aufruft. Sie ist offen für die öffentliche Diskussion ihrer
Empfehlungen. Jeder Interessierte, jeder Lehrer ist dazu aufgerufen,
Kommentare und Änderungsvorschläge mitzuteilen. |
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