Report | Kulturation 1/2006 | Renate Schuster | Pathein/mathein – leide und lerne beim Eintritt in die Kittler-Galaxis
Danksagung für einen „heißen Tip"
| Über
Musik und Mathematik. Band 1: Hellas. Teil 1: Aphrodite, München 2006
Und über
Musen, Nymphen und Sirenen, Audio-CD
Beides von Friedrich Kittler
Liebe Freundin,
hab Dank für Deinen Tip.
Du kennst ja mein Spiel mit antiken Mythen und ihrem Weiterleben in
der bildenden Kunst und vermutest zu Recht Aufgeschlossenheit für
Friedrich Kittlers jüngste Arbeiten, der ja im Grunde auch nur spielt
mit dem hehren Kulturgut, indem er es gegen den Strich bürstet und für
seine sicher waghalsigen, aber doch auch anregenden Hypothesen
verwendet.
Meine erste Vermutung war (in Anlehnung an den berühmten
Nietzsche-Titel): Hier also wird mir erzählt von der kulturellen
„Geburt Europas aus dem Treiben der Aphrodite“ Das wäre immerhin, wenn
der Nachweis gelänge, eine doch auch erfreulich mahnende Sicht auf das
christlich moralingesäuerte, rationalistische, verklemmte, kurz
„lustfeindliche“ Europa.
Dann aber begann ich zu ahnen, was den „mythenumwobenen“, aber ja
doch wieder recht drögen Kern des Projekts vielleicht ausmachte, d.h.
dass es um europäische Ursprünge von Kulturtechniken wie Lesen,
Schreiben, Rechnen, Musizieren und ihre Transport- und Speichermedien
ging, dass z.B. das vokalisierte griechische Alphabet in seiner
Mehrfunktionalität (und „atomisierten“ Struktur) doch wohl wesentlich
erotisch und poetisch und nicht etwa wirtschaftlich, handels- oder
machtpolitisch begründet sei, nämlich geradezu erfunden, weil und damit
es den Sprachfluss (epischer, also Homerischer Gesänge) auf-schreibbar
machte, und damit nicht genug, ich sollte auch nachvollziehen, dass mit
dieser tollen Erfindung der Hellenen nicht nur alles Sag- und Sangbare
geschrieben, sondern jedem Buchstaben ein Zahlenwert zugeordnet, mit
den Buchstaben auch Musik „notiert“ werden konnte und dass dies - eine
Entdeckung der antiken Pythagoreer - begreiflich machte, warum für sie
Literatur, Musik und Mathematik in einem „Medienverbund“ standen usw.
usw.
Hier lauerten offenbar Bildungserlebnisse auf mich, denen ich mich
aber weder gewachsen, noch von meinem Interesse her zugeneigt fühlte,
d.h. der Titel des Buches hatte mich nicht hinreichend gewarnt und der
CD-Titel auf eine falsche Fährte gelockt (wie Du, liebe Freundin, ja
auch.)
Also wollte ich mich doch wenigstens an das mythologische
Rankenwerk halten in der Hoffnung auf ein paar Impulse für mein eigenes
Spiel, denn es gab ja in diesen Angeboten (Buch und CD) nahezu keine
mythologische Erzählung, keine Figur, kein poetisches Gebilde, kein
historisches Ereignis, dass nicht von ihnen in irgendeiner Nuance,
Beleuchtung, in irgendeinem Bezug erzählt worden wäre, wie man es so
noch nicht vernommen hatte, sei es nun auf eine wunderbare oder
blödsinnige, poetische oder abstoßende, anregende oder ermüdende Weise.
Die Sirenen-CD war dann insofern für mich ganz unterhaltsam, als
ich vorher den Startband des Großversuchs zum hellenischen Ursprung von
Musik und Mathematik gelesen hatte und nun der „Stimme des Herrn“ auch
akustisch lauschen durfte, dabei mich versetzt fühlte in eine nahezu
kultische „Tischgemeinschaft“ mit IHM, nicht nur wegen des eher
beiläufigen, plaudernden, auch ein wenig agitierenden Tons und der mir
nahe gelegten Andacht und Bereitschaft zu opfern, nämlich alles, was
ich bisher über diese wunderbare Welt der Mythen zu wissen glaubte,
sondern auch weil mir fast schien, als wären Kau-, Schluck– und die für
Raucher charakteristischen Atemgeräusche in mein bereitwillig
geöffnetes Ohr gedrungen.
Die unorthodoxe Herleitung und Präsentation von Denkvorgängen hatte
mich ja schon beim Lesen von „Hellas I“ zunächst irritiert, dann aber
eher amüsiert und auf die Idee gebracht, dass der Meister vielleicht
einfach nur zu allerlei Experimenten einlädt, so wie er mit seinem
gutwilligen Team die Westküste Italiens aufsuchte, um - ja was
eigentlich – um die Fahrt und Versuchung einer Kunstfigur, nämlich des
Odysseus sinnlich „nach zu erleben“ und dabei eine in der Tat
ungewöhnliche Lesart der Sirenen - Passagen zu erfinden. Ich sage
bewusst „erfinden“, denn – bei Zeus!– in der „Odyssee“ habe ich
keinerlei Andeutung darauf entdecken können, dass der „herrliche
Dulder“, der ansonsten sicher ein Schlitzohr und hervorragender Lügner
war, nun eben doch ausgestiegen ist und dies bestimmt nicht nur, um dem
Gesang zu lauschen, sondern – wohl sogar mit seinen Kumpels(!) - die
„volle Lust“ zu genießen. Dabei erinnerten mich Herrn K’s Argumente ein
wenig an euhemeristische, also rationalistische Versuche der
Mythendeutung, etwa so: Die ewig dürstenden Männer werden doch wohl
nicht eine Möglichkeit des Nachschubs versäumt haben, oder, wie das
Experiment bewiesen hatte: die lockenden Lieder der Sirenen konnten vom
Wasser her gar nicht verstanden werden, Vokale ja, aber Konsonanten
nein, und die erst machen Sprache, wie sie Odysseus acht Verse lang
vernahm, oder: Kirke, der böse Raubvogel, die Falkin, sie lügt – aus
Eifersucht, Odysseus lügt, weil er seine Zuhörer, die Phäaken, nicht
„einweihen“ will, die Gefährten können nicht plaudern, denn sie sind
alle mausetot. Also – wie nun – Homer wusste es und hat uns mit
Zweideutigkeiten dennoch hinters Licht geführt? Herr Kittler
durchschaut alles, nimmt den endlich richtig übersetzten Homer wörtlich
und beweist es durch ein Experiment? Offensichtlich braucht er diesen
„Beweis“ für die Konstruktion seiner Herleitungen von Schrift, Musik,
Mathematik. Welch ein Aufwand für am Ende doch recht abstrakte und in
Kittlers Lesart dann auch wiederum abenteuerliche Thesen!
Übrigens hinkt der Verweis auf die Argonautensage, der die
Lügenhaftigkeit Kirkes und den Durchblick des Herrn K. beweisen soll,
denn: der Sirenengesang wurde von Orpheus übertönt (in seiner
Zauberwirkung also gewissermaßen neutralisiert) und der Idiot, der ins
Meer sprang, durch Aphrodite persönlich gerettet. Ohne diese „Dea ex
machina“ hätte es also beinahe einen vorzeitigen Abbruch der Sage
gegeben und keine Rückkehr des Jason und keinen Mord an Nebenbuhlerin,
Gatte und Kindern aus Eifersucht, und wir hätten ein mythologisches
Frauenmonster (Medea) weniger, wie schade! Dass ein göttlicher Sänger
und eine Göttin eingreifen müssen, spricht nicht für die Harmlosigkeit
der Sirenen, es sei denn, man erklärt kurzerhand die Sirenen zu
Daseinsformen der Liebesgöttin. Dann ist wieder alles gut, und man muss
nur noch die anderen Seeleute um die versagte Lust bedauern, und man
muss Orpheus vergessen. Das Beste wird dann sicher sein, alle diese
Sagen, wie das ja während und nach ihrer Entstehung immer wieder
geschehen ist, überhaupt erst einmal richtig zu überarbeiten
Man könnte die Sirenendeutung Kittlers als Spielerei abtun und
ignorieren, wenn auf diesem Fundament nicht ein riesenhaftes
spekulatives Gebäude errichtet würde. Ob er dieses Geschütz auch in
Stellung bringt, um sich erneut von Adorno, von dessen „Dialektik der
Aufklärung“, überhaupt vom „Geist“ der 68er, dem philosophischen
Banausentum der „Frankfurter Schule“ zu distanzieren, das kann ich nur
vermuten, jedenfalls meinte er in einem Interview mit Herrn Maresch
(1991/92), nach diesen Zeiten gefragt, er habe es damals vorgezogen,
statt Marx Hegel zu lesen, Musik zu hören statt auf die Straße zu gehen
(na, ob das weise war?).
Übrigens muss ich Herrn Kittler dankbar sein für seine Anregung,
sowohl den 12. Gesang der „Odyssee“, in dem die Sirenengeschichte
erzählt wird, als auch die „Dialektik der Aufklärung“ noch einmal zur
Hand zu nehmen. Du kennst die berühmten Passagen sicher von früher.
Auch hier wird „klassische Erbes“ für ein theoretisches Konstrukt
ausgeschlachtet und zurechtgestutzt, dass man die Sirenen jaulen hört.
Eine Warnung auch an mich, wie man es nicht machen sollte und wie es ja
auch K. unterläuft. Davon abgesehen, fand ich aber Adornos kultur- und
sozialkritische Anmerkungen beim erneuten Lesen wieder ganz spannend,
hochaktuell, und ich kann die Abneigung K.s jetzt zwar besser
verstehen, aber nicht teilen.
Nachdem ich mich nun also durch das Buch und die CD gearbeitet hatte, drängten sich mir allerlei Fragen an Herrn Kittler auf.
Zuerst natürlich die nach der Beweiskraft seiner Quellen und den
Umgang mit ihnen, Fragen also auch nach dem „geistigen Raum“ in dem er
sich manisch-assoziativ bewegt, aus dem heraus er argumentiert,
polemisiert, in dem es immerzu „fugt“, entbirgt“ und west, aus dem er
schließlich leibhaftig - und wie er sicher glaubt - bei und mit allen
Sinnen einen „Abstecher“ an die vermeintlich realen Schauplätze seiner
fiktiven „Helden“ unternimmt, diesen Ausflug kommentiert (auf der CD),
um gleich wieder in der von ihm so verabscheuten „Textwichserei“, nun
„praxisgeläutert“ und wohl auch mit einem geheimen Wissen ausgestattet,
zu entschwinden.
Herr Kittler polemisiert gegen Adornos Deutung der
Sirenengeschichte, so als ob er mehr als Herr Wiesengrund über die
wahre Natur der Sirenen (Musen, Nymphen) wüsste, mit ihnen
gewissermaßen auf ganz intimer Basis kommuniziert hätte. Während jener
– gleichnishaft - die von Kirke beschworene Gefahr darin sah, dass der
dem Gesang erlegene Seefahrer gewissermaßen in die Vergangenheit, in
das „Unaufgeklärte“, Dunkle, Urtümliche gesaugt (entsorgt) würde,
erklärt Herr Kittler rundheraus, das heiße die Sirenen falsch deuten.
Sie seien ja eigentlich Musen, Nymphen (bei diesem Stichwort
„entbergen“ sich dem wachen Geist sofort Assoziationen zu Quellen,
Süßwasser, Leben, blühenden Wiesengründen, nicht zu vergessen Bienen,
Honig, allerlei „Nahrungsketten“ und natürlich, genau - ganz viel Spaß
bei Gesang, Tanz und Liebe), diese Wesen also nun wüssten nicht nur
alles über die Vergangenheit (auch die des Odysseus, weshalb sie ihn
bei seinem Namen anrufen könnten), sondern auch über die Zukunft. Sie
seien insofern das notwendige „Begleitpersonal“ jeglichen
Fortschreitens, fungierten zunächst in der Phase des sinnlichen Duldens
und Erfahrens (aus Leiden lernen!) gleichsam als „Lotsen“ zwischen den
Gehirnhälften (da wurde ich doch sehr an Kafkas „Strafkolonie“
erinnert, wo dem Opfer in einer endlos verlängerten Prozedur das
banale, für ihn aber tödliche Urteil „Sei gerecht“ „buchstäblich“ in
den Leib geschrieben wird), später dann seien die Göttinnen– angesichts
gewaltiger Gedächtnisanforderungen an die Sänger (Listen, Genealogien,
Kataloge etc.) - als „Souffleusen“ unentbehrlich, weshalb sie von den
Dichtern ja auch immer wieder angerufen würden, das „vor – zusagen“,
was sich sonst keine Sau merken könne (Homer : „Sage mir Muse...,“
Hesiod: „Musen am Helikon......jene lehrten...edle Gesänge“). So etwa
habe mir den Kern von Kittlers Adorno-Schelte zusammengereimt.
Das Irritierende an jener Polemik ist, dass Herr Kittler sein
„Wissen“ aus mythologischen und literarischen Quellen bezieht, dies
aber nicht (wie Adorno), um nur ein kräftiges poetisches Bild,
sinnfälliges Gleichnis für ein philosophisches oder
kulturgeschichtliches Problem zu finden und zu strapazieren, sondern
ich hatte den Eindruck, er geht damit um wie der wirklich fromme Christ
mit der Bibel, für den die Heilige Schrift das Wort Gottes, seine
Offenbarung ist, und ähnlich wird argumentiert: „es ist so und so und
so, denn.... es steht geschrieben....“ , wobei Herr Kittler selbst die
Exegese recht waghalsig betreibt, nicht nur, dass er Fiktionen beinahe
wie „Realien“ behandelt (was hätte er sonst bei den Inseln zu suchen
gehabt), er “korrigiert“ sie auch noch nach Belieben. Nun ja,
„Kirchenväter“ dürfen das wohl.
Ja ich hatte sogar das Gefühl, Herr Kittler glaubt allen Ernstes,
sich durch die nicht nur intellektuelle Annäherung an Kunstfiguren und
ihren vermuteten einstigen Erfahrungs-, Leidens-, Erlebnisraum der
wahren „Quellen“ (in ihrer mehrfachen Bedeutung) von Schrift, Musik,
Mathematik in einer geradezu kultischen Handlung bemächtigen zu können.
Das ist nur eine Vermutung, es würde aber auch die Art der
Präsentation seiner „Ausbeute“ verständlich machen, denn man kann sich
durch sie veräppelt, aber auch „eingeweiht“ fühlen, und wer nicht
kapiert, der war eben der Einweihung nicht würdig oder sowieso ein
Blödmann. Wer aber glaubt, er hätte etwas kapiert und gebärdet sich so,
kann wieder einer Illusion aufgesessen sein, weil der Meister dafür
gesorgt hat, dass die wirkliche Ausbeute prinzipiell von niemandem
durch die Lektüre des Buches und das Hören der CD angeeignet werden
kann, denn dort ist sie gar nicht zu finden. Kurzum: Bist du nicht reif
für die Insel(n), lass alle Hoffnung auf Begreifen fahren!
Ich habe nun zwar sicher nicht die höheren Weihen, aber auf jeden
Fall Anregungen empfangen, Anregungen für allerlei
Selbstverständigungsprozeduren, etwa diese:
Mein eigenes Unterfangen (antiken Mythen in der bildenden Kunst,
besonders den Zeusliebschaften nachzuforschen) hatte mich vor allem mit
der begreiflichen „Sehnsucht nach der Wirklichkeit des Mythos“
konfrontiert, einer Sehnsucht, die ja wohl auch z.B. Schliemann nach
Troja und Mykene trieb, von wo er mit großartigen Entdeckungen, vielen
Fehlschlüssen und medienwirksamen Legenden, seine eigene Person
betreffend, heimkehrte, bis heute umstritten, aber doch eben berühmt.
Große Impulse für alte Geschichte und Archäologie gingen aus von seinem
kindlichen Vertrauen in die „Bibel“ der Alten, von seiner
schwärmerischen Liebe zu den Epen. Und wenn der Archäologe Korfmann
zunächst verkündete, sein Grabungsehrgeiz in Wilusa/Troja ziele nicht
auf die Verifizierung der „Ilias“, so konnte er doch spätestens bei der
Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse (Ausstellung: „Troja –
Traum und Wirklichkeit“ 2001), unterstützt vom Homerforscher Latacz,
nicht verhindern, dass sich der interessierte Besucher natürlich und
vor allem Aufklärendes über den historischen Kern des Epos erhoffte,
und zwar nicht nur die Bestätigung eines Gerüchts, wofür „der kleine
Mann auf der Straße“, sensationslüstern und manipulierbar wie er nun
mal ist, ja immer schon ein offnes Ohr hatte, sondern vielleicht nur
wegen der Popularität Homers und der Magie, die in alledem steckt und
die einen unwiderstehlichen Reiz auch auf rationalistische Gemüter
ausübt.
Benjamin nannte es die Aura, die die Originale der Kunst umgibt,
das physische Eingebettetsein in die Entstehungsbedingungen, welches
ohne wesentliche Einbuße des ästhetischen Reizes mit der technischen
Reproduktion auf jeden Fall abhanden kommt und - Benjamin begrüßte das
– die kritiklose, anbetende Ehrfurcht vor dem „Kulturgut“ vermindert.
Aber die „Aura“ bleibt eine Sehnsucht, und wo sie sich verflüchtigt
oder sich durch den Windhauch des zerlegenden Denkens „auflöst“ wie ein
wunderbares Rätsel, wo Überlieferung gleichsam, auch durch technische
Vermittlungen, entzaubert wird, da gibt es immer auch ein Bedauern, da
gibt es Rekonstruktionsversuche, Totenbeschwörungen, neue Mythen, auf
jeden Fall aber Dankbarkeit und großes Interesse, wenn „streng
wissenschaftlich“ bewiesen werden kann, dass irgendeine Bibel eben
„doch Recht hatte“.
Und natürlich würde man Herrn Kittler liebend gerne seine wunderbar
erzählte Geschichte über Homer glauben, auch seine so einleuchtend
bündige Antwort auf die „Homerische Frage“, aber leider, leider ...sie
ist zu schlicht und schön, um ...
Ich muss mich ja selbst auch immer wieder zügeln und mein
Verständnis der Beziehung von Mythos und Geschichte prüfen, mir also
klar machen, dass die ersehnte Rekonstruktion von Geschichte aus
mythischer Überlieferung sehr fragwürdig, wenn nicht überhaupt
unmöglich ist. Wie also?
Aus Geschichte werden Geschichten: Sagen, Gesänge, Tragödien, Epen,
Textgrundlagen kultischer Spiele, poetische, also fiktive Gebilde, auf
jeden Fall „Menschenwerk“, dies aber verhüllt und daher erscheinend als
Speicher eines uralten, eben mythischen Sagens und Wissens, einer
bildhaften, gleichsam singenden Selbstdarstellung von Welt und
Weltaspekten, von den Sängern selbst ausdrücklich präsentiert als
Enthüllungen der allwissenden Musen, die ihnen, den Auserwählten, Herz
und Münder öffnen, ihnen Wahres „einhauchen“, sodass sie sich eben
„inspiriert“ fühlen und gebärden. Dass solche „Inspiration“ tatsächlich
in engem Bezug zu allerlei Quellen vermutet wurde, hat auch die
Pegasuserzählung gespeichert. Pegasos, das geflügelte Ross, welches dem
gemordeten Leib der Medusa entsprang, ein Sohn des Poseidon übrigens,
dieser Gaul hatte ja am Helikon jene - Dichterzungen lösende - Quelle
losgetreten, schade, dass er später nur noch als Transportvehikel für
die Waffen des Zeus gebraucht wurde, echter Karriereknick das. Wenn man
der Überlieferung ( z.B. Hesiod) glaubt, war am Helikon inspiratorisch
ganz schön was los.
Dass es Herrn Kittler die Musen so angetan haben, ist schon
einleuchtend, eben wegen der Quellen, und zwar der, genau der
SUESSWASSERquellen, denn ohne die gibt es keine ordentliche
Nahrungskette zwischen Pflanze, Tier und Mensch und also keinen Gesang
.Ein Hauch von Materialismus, wie schön. Das Volk sagt es bündig und
wie immer weise: Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen
(das sind die ohne Quellen) haben keine Lieder, na die haben ja
heutzutage nicht nur bald keine Lieder mehr.
Also die Sänger haben ihre Kehle geschmiert, und nun singen sie
wieder. Die edlen Hörenden wollten dabei sicher nicht den Spiegel
vorgehalten bekommen und auch keinen Geschichtsunterricht erdulden.
Vermutlich wollten sie sich nur gut unterhalten, in ihrem
genealogischen Bezug zu alledem erhoben fühlen, vielleicht
stellvertretend leiden und genießen und dabei irgendwie geläutert
werden (Katharsis wird man das später nennen).
Die „Odyssee“ schildert viermal solche Veranstaltungen
(Eigenwerbung Homers?) wobei es als besonders raffinierter Kunstgriff
Homers genossen werden kann, wenn er Odysseus zunächst die eigene
Leidensgeschichte – von einem Kollegen vorgetragen - anhören lässt, so
dass jener Mühe hat, die Tränen zu verbergen, dies aber dem sensiblen
Hausherrn nicht entgeht und er schließlich – was der Sinn solchen
Arrangements wohl sein sollte – den „herrlichen Dulder“ zum
(„authentischen“) Reisebericht vor der Phäakenrunde überreden kann. Und
solches Erzählen macht natürlich einen ganz tollen Effekt, von dem
jene, die allein fremdes Leid kolportieren können, kaum zu träumen
wagen.
Dieses: „Ich war dabei, ich habe es gesehen und erlebt. Ich war
Zeuge. Ich bin es selbst“, das hat schon was, und Odysseus kann
schamlos lügen, verdrehen, „ab- und aufrunden“ die Lebensrechnung, denn
die Zeugen sind – wie gesagt – alle tot, er aber befriedigt ja nicht
nur – wie Biographieforscher sagen würden – ein Konsistenz-Bedürfnis,
er muss auch darauf bedacht sein, die Gastgeber für seinen
Heimkehrerplan zu gewinnen. Die Pfiffigkeit des Alkinoos nun wiederum
besteht darin, dass er die Galas für Odysseus wie ein guter
Eventmanager und Sponsorenfänger organisiert, damit ihm die
Reisekosten, einschließlich der beachtlichen „Werbegeschenke“ nicht nur
auf die eigenen Füße fallen. Schließlich ist er nur „Erster unter
Gleichen“, warum sollen die „Gleichen“ dann nicht an der Hilfsaktion
finanziell beteiligt werden. All dies muss Odysseus in seinem Gesang
berücksichtigen und er macht das wirklich klasse, zur Lektüre sehr zu
empfehlen, eben ein Schlitzohr.
Dass Homer nicht als der letzte Prolo im Sängergewerbe zu gelten
hat, scheint nicht nur wegen der „heroischen“ Gegenstände seiner Epen
sehr wahrscheinlich, sondern auch anhand solcher wunderbar
geschilderten Situationen, in denen Sänger durchweg vor großen Herren
auftreten.
Unter solchen und ähnlichen Voraussetzungen konnten allerdings die
Hintergründe, die „gesellschaftlichen Rahmenbedingungen“ der
„Erzählsituation“ nur mehrfach gebrochen im Gesang aufscheinen. Auch
aus diesem Grund ist es schwierig, die poetisch verschlüsselte Wirkung
von „Zeitläufen“ auf das Erzählte zu identifizieren, Geschichte lässt
sich auf der Grundlage solcher „Texte“ (als spezifischer historischer
Spuren) also nur bedingt, nur indirekt und mühevoll, auf jeden Fall
nicht „touristisch“ erschließen, wobei es zunächst gar nicht wichtig
ist, ob solche Überlieferung mündlich oder schriftlich erfolgte, wenn
ihre Funktion unentbehrlich war, nämlich ein geistiges Band zu knüpfen
hin zu (Machtansprüche legitimierenden) Ahnen möglichst göttlichen
Ursprungs, oder zwischen weit verstreuten Volksgruppen, wie es die
Griechen waren. Auch die Frage, ob die Sänger anonym, gewissermaßen
Münder einer „Volksseele“ waren, was schon Nietzsche in seiner Baseler
Antrittsvorlesung ironisch kommentierte, oder ob klar abgegrenzte
Künstlerpersönlichkeiten, sogar in Gilden organisiert, all diese
Streitpunkte, die z.B. in der „homerischen Frage“ seit Jahrhunderten
einer Antwort harren, sagen am Ende über den „Quellenwert“ antiker
Mythen und ihrer künstlerischen Verarbeitung nur aus, was wir generell
von solchen geistigen Zeugnissen voraussetzen müssen: sie sind fiktiv
und bestenfalls ein Hinweis, der zum Weitersuchen, zu Aufdeckung
„seriöserer Quellen“ nötigt, so haben sie auf Schliemann gewirkt, und
das hatte Folgen.
Andererseits werden dann doch solche Kuriosa erfunden wie der
„Ödipuskomplex“, sicher nur ein Gleichnis Freuds, ein metaphorisches
Spiel mit Mythen, aber doch nicht immer so verstanden, kurios, deshalb,
wie nun gerade die Kunstfigur Ödipus diesen „Komplex“ mit Sicherheit
nicht hatte, denn er konnte nicht - auch nicht „unterbewusst“ – seinen
Vater töten und seine Mutter heiraten wollen, da ihm bei seinen
„Un-Taten“ die Verwandtschaftsverhältnisse noch unbekannt waren, ohne
dieses Nichtwissen wäre das ganze Stück ja auch gar keine Tragödie.
Ähnlich amüsant der Bachofen’sche „Nachweis“ einer konfliktreichen
Ablösung matriarchalischer durch patriarchalische Zustände anhand der
„Orestie“, also wieder einer literarischen Konstruktion, natürlich
legitim als Konflikt-Nachhall, aber eben nicht als Beweis. Schon Engels
hatte (im „Ursprung der Familie ...“) die Herleitung von
Gesellschaftszuständen aus „Überbauphänomenen“ (Religion, Mythologie,
Dichtung) auf die Schippe genommen und dennoch die Anregung verwertet,
aber eben z.B. mit Morgans Untersuchungen „abgeglichen“.
Herodot, dem „Vater der Geschichtsschreibung“ konnte man die
Vermischung von historischen Quellen (zu denen für ihn noch ganz
selbstverständlich Mythenerzählungen gehörten) nachsehen, wir dürfen
mit solcher Nachsicht nicht rechnen, auch Herr Kittler nicht. Ja, der
Professor ist großartig, aber doch (noch) nicht so groß wie Platon, der
geistig zwar auch über den Dingen zu stehen schien und in seinem
Idealstaat solche zweifelhaften Gestalten wie Homer wohl kaum geduldet
hätte, der sich zur Propagierung seiner Weisheiten aber gern und oft
mythischer Gleichnisse und Gegenstände bediente (z.B. Atlantis oder die
wundervolle Eros-Debatte im „Gastmahl“).
Wenn Herr Kittler den Spuren des Odysseus im Mittelmeer folgt, als
hätte er den Reisebericht eines Altertumsforscher zur Hand, wenn er von
ein paar Scherben mit „Homerischen Hexametern“, in Italien gefunden, in
Bezug auf die Epen Datierungsfragen glaubt beantworten zu können, wenn
er ... ach, es gäbe viele Beispiele dieser Art zu nennen, so scheint
mir diese Vorgehensweise bestenfalls Ausdruck jener Sehnsucht nach der
Wirklichkeit des Mythos, nach der Möglichkeit einer Fixierung, die aber
das, was außer Zweifel steht, die wunderbare poetische Leistung antiker
Dichter, eher schmälert als bereichert. Nun könnte man ja Herrn K.
zugute halten, dass er sich gar nicht berufen fühlt, den Kunstgenuss an
den Epen oder an den dramatischen Werken steigern zu helfen, obwohl ihm
gerade das mit seinen ungewöhnlichen Deutungsangeboten durchaus hin und
wieder gelingt, wofür ihm auch Dank sei (lesenswert die
Antigone-Passagen des Buches), nein, er scheint mehr und anderes zu
wollen: Er benutzt die Überlieferungen – wie vergleichsweise Bachofen –
nur und interpretiert sie eigenwillig, um seine Hypothesen zu stützen
und zu veranschaulichen, d.h., wenn ich’s nicht missverstanden habe, um
den altgriechischen Ursprüngen von Musik und Mathematik nachzufragen,
sie zu erhellen aus Gesang, Spiel, Tanz, Lebensfreude, Lebens- und
Liebesgenuss. An diese schönen Dinge aber kommt er nur über indirekte
Zeugnisse, also realiter niemals heran, was immer er auch veranstaltet.
Kittlers Buch scheint mir angelegt als ein Buch der Versuchungen,
der Experimente vor allem im Umgang mit Mythen und dem, worüber sie uns
erzählen und was uns ja wirklich noch angeht oder endlich aufgehen
sollte.
Ich lese es so, amüsiere mich, werde gut unterhalten, und da ich
mich weder - Zeus sei schon wieder Dank – an die Futtertröge der
Wissenschaft drängen noch als Rezensionenschreiber an Verlegerwünsche
orientieren muss, fühle ich mich nur angeregt, zu spekulieren über
allerlei durch ihn verschobene Kontexte meiner geliebten hellenischen
Götter und Helden.
Bei den Artefakten der Archäologen ist die Unwiederbringlichkeit
der Umstände, in denen jene einem Lebenszusammenhang angehörten,
offensichtlich, doch selbst hier liegt die Versuchung nahe, bei der
Präsentation das ausgebuddelte Knöchlein gleichsam mit Fleisch und Blut
und Leben zu umhüllen, eine Versuchung weniger für die Forscher selbst,
denn denen sagt z.B. die Scherbe alles, was sie wissen oder erfragen
müssen, sie können durch ihr Wissen hypothetisch und meist ganz
unromantisch ergänzen, d.h. ihnen genügt die Scherbe, der
Museumsbesucher aber will nicht nur den Henkel, er will die Tasse und
am liebsten das ganze Service, den Gastgeber, die Getränke, die ...
d.h. die anschauliche Präsenz des Wirkungszusammenhangs der Scherbe.
Und warum auch nicht? Wozu sonst all die Mühe und Kosten, wenn es nicht
um ein lebendiges Bild früherer Epochen geht, wenn wir uns nicht als
Erben, Geschöpfe, Lernende und wenn möglich Belehrte für eigenes Tun
fühlen sollen? Umso schmerzlicher, wenn wir begreifen müssen, dass
diese lebendigen Quellen längst versiegt sind. Versuchungen dennoch für
Wissenschaftler, Museumspädagogen, Veranstalter, Sponsoren(?),
Verleger, Journalisten etc.
Versuchungen solcher Art der Verlebendigung lauern also
buchstäblich unter jedem Stein, wie sehr dann dort, wo von
Menschengeist geformtes Erleben, Leiden, Entzücken, Verstehen uns
ergreift und zur Vergegenwärtigung, zur mitleidenden Aneignung einlädt,
wie Kerenyi so schön sagt, der Mythos umhüllt uns wie eine
Taucherglocke, mit deren Hilfe wir - maskiert, entstellt - eintauchen
in die Tiefe, in die Geheimnisse unserer Welt, um uns in und auf
unserer aktuelles Lebensproblem stürzen zu können.
Nach dem, was ich Kerenyi (einem Freund und Mitarbeiter C. G.
Jungs) abgelauscht habe, sehe ich die Schwierigkeit der Mythendeutung
etwa so:
Bildungsort, vitale Funktion und Daseinsweise mythischer Gehalte
machen sie begrifflicher Fixierung, Übersetzung in die Welt des
logischen Denkens prinzipiell unzugänglich, denn was hier „spricht“,
ist seiner Natur nach das eigentlich „Unaussprechliche“, das nie
bewusst Gewesene, das nie denkend Zerlegte und wieder künstlich
Gefügte, sondern das eben im Bild und als Bild Erscheinende, das
Gebilde, eine Ganzheit, in unendlichen Abstufungen mit allem
vermittelt, es sind erahnte und gestaltete „Lebensmächte“.
Deutung kann daher immer nur Annäherung, Gleichnis, intuitives
Erfassen und Erleben sein, sie unterliegt damit auch nicht den
Wahrheitskriterien der Wissenschaft, wohl aber den Erfolgskriterien der
Praxis, des tätigen, liebenden, leidenden fürchtenden, staunenden
Weltkontakts der Menschen, dem eigentlichen Bewährungsfeld ihres
Daseins.
Der Mythos selbst ist also keine Metapher, keine Allegorie, wenn
auch von den Späteren, wohl schon von Platon so missverstanden und
verwendet. Für uns, die wir gar nicht mehr mythisch denken (eigentlich
müsste man sagen: erleben) können, scheint dem Mythos das
Gleichnishafte, Analogische immanent, dem suchen wir auch in der Art
unserer Deutung zu entsprechen. Gelegentliche „Sprachlosigkeit“,
Unvermögen also, das „Erschaute“ in Worte zu fassen, muss nicht
Wirkungslosigkeit bedeuten. Wir verstehen, indem wir erstehen lassen,
lauschen, mitschwingen, wir sind mittendrin und nicht reflektierend
darüber, wir verstummen vielleicht gerade dann und weil es in uns zu
klingen beginnt, weil wir kreativ zu werden beginnen, ohne auf die
Richtung und das Resultat schon festgelegt zu sein.
Zum Vergleich: das Spiel.
Spieler, die sich als Spielende wissen, die ihr Spielen nicht naiv,
„wie die Kinder“ betreiben, sondern es als Ausdruck von etwas anderem
(ihrer Vitalität, Langeweile) reflektieren, können nicht mehr spielen,
ihre Distanz nimmt ihnen das Spielvermögen, versagt ihnen alle Freude,
allen Genuss.
Womit müssen wir also rechnen, wenn wir Mythen oder
Mythenbestandteilen begegnen? An den Forderungen der Ratio nach
Klarheit, Eindeutigkeit, Abgrenzbarkeit, Widerspruchsfreiheit gemessen,
mit scheinbar größter Verwirrung, mit vielfältigen Übergängen,
Varianten, und dennoch auch mit Sinnhaftigkeit, Wiedererkennbarkeit,
Mustern, Botschaften, Erhellungen, Motiven und Themen wie in der Musik,
zwar durchaus räumlich und zeitlich strukturiert, aber nur „als ob“,
d.h. selten in der gewohnten Ordnung. Zeitlich weit entfernt Liegendes
verschmilzt zu einer Begebenheit an einem Ort und schielt zugleich nach
derselben an anderer Stelle, zu anderer Zeit, unter anderem Namen.
Dieses Verschmelzen ist auch der Tatsache geschuldet, dass der
Mythos erzählbar, tradierbar sein muss, eine gewisse anschauliche,
relativ abgerundete, seine Glaubwürdigkeit und Speicherfähigkeit
erhöhende Form braucht, dass er im Kult oder in mündlicher
Überlieferung ergänzt, angereichert, gestaltet, also ständig
umgearbeitet wird.
Als ein Schmelztiegel begegnet er uns aber auch, weil er wandert
mit den Menschen, und was er vorfindet, entweder integriert, dabei
umbaut oder es sich als Ergänzung angliedert, es zu einem größeren,
immer reicheren Fluss zusammenströmen.
Dies alles vorausgesetzt: Wie gern würde ich mal in die Buddelkiste
des Herrn Kittler steigen wollen und mir ein paar Sandkörnchen
(mythische Figuren) und Förmchen (Deutungsangebote) greifen, um eigene
Förmchen zu erproben. Von der Muße, die ich dazu brauchte abgesehen,
wäre solches Spielen aber doch für mich nicht ganz voraussetzungslos,
denn:
Was immer Herr Kittler von sozialhistorischen Erklärungsansätzen
kultureller Phänomene halten mag, nämlich herzlich wenig, wie er z.B.
in seiner „Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft“ (2001) ausdrücklich
verkündet hat, ich sage mir dennoch: ach, schaden kann’s doch aber auch
nicht, so man Kurzschlüsse vermeidet, zumal ich mich dabei in recht
ehrenwerter und mir höchst sympathischer Gesellschaft befinden würde,
wenn ich nur an die „Fraktion“ solcher Kunsthistoriker wie J.
Burckhardt oder A. Warburg und seine Schüler (E. Panofsky, E. Wind
u.a.) oder C. Ginzburg denke, die sich natürlich um ihren
Untersuchungsgegenstand und seine Abgrenzung (im Unterschied zu manchen
Kulturwissenschaftlern) weniger Sorgen, wohl aber um ihre
Forschungsansätze Gedanken machten.
Wie aufregend Warburgs Entdeckung „echt antiker Gebärdensprache“
(er nennt sie später „Pathosformeln“) als Symptom für die gewandelte
emotionale Orientierung einer ganzen Gesellschaft (nämlich der des
Florentiner Quattrocento). Und wenn sich Warburg
„kulturwissenschaftliche Bildgeschichte“ wünschte, dann in dem Sinne
wie sie Burckhardt vorschwebte, von dem Warburg anerkennend sagte, er
hätte nicht die Mühe verschmäht, „dem einzelnen Kunstwerk in seinem
direkten Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Hintergrund
nachzuforschen, um die idealen und praktischen Anforderungen des
wirklichen Lebens als Kausalitäten zu erfassen“ (zitiert nach Ginzburg,
Spurensuche,S. 119). Für den sensiblen Forscher war die Abgrenzung von
leichtfertigem Determinismus genauso selbstverständlich wie aber auch
die von irrationalistischer Verherrlichung des Genies oder von nur
stilgeschichtlicher, also form- und kunstimmanenter Deutung.
Worauf müsste ich also achten bei Deutungsversuchen von kulturellen
Gebilden wie Mythen (religiösen Texten) und ihren bildkünstlerischen
und/oder poetischen (lyrischen, epischen, dramatischen) Gestaltungen?
Ganz abgesehen davon, dass sie in jedem Fall als „geistige
Fiktionen“ aufgefasst würden, d.h. nicht als „Realien“ und auch nicht
als das, was dem Historiker „harte Daten“, verlässliche Dokumente von
Ereignissen sind, dies also vorausgesetzt und eigentlich
selbstverständlich, wären die interessierenden „Gebilde“ zunächst ganz
sicher gezeichnet von den Lebensumständen, von der Weltsicht und dem
Menschen-/Frauenbild ihrer Entstehungszeit (Achilles schwer vorstellbar
in einer Welt mit Pulver und Blei wie auch die unentwegt webende und -
wie Herr Kittler anmerken würde - dabei singende Hausfrau, der Prototyp
beinahe jeder, auch göttlicher Weibsperson aus der Welt antiker Mythen
und Epen wohl kaum anzutreffen sein dürfte im Zeitalter von
Textilindustrie und urbanem Frauenleben). Es scheint banal, aber dies
nicht zu ignorieren, heißt ja auch, sich bei Datierungsfragen sicherer
zu fühlen.
Weiterhin, und das kann die Zuordnung schon wieder erschweren, muss
damit gerechnet werden, dass den Spuren der Entstehungszeit immer auch
solche früherer Epochen anhaften, sich aber am „Gebilde“ selbst nicht
klar geschieden als solche zu erkennen geben und den Schöpfern der
Gebilde oft auch gar nicht bewusst waren. Historische und
ideengeschichtliche Studien bestätigten mir immer wieder meine
Vermutung: Die von Zeus dominierte Olympierclique, in neueren
mythologischen Handbüchern und Lexika als selbstverständliches
Urgestein griechischer Mythologie unterstellt und beschrieben, scheint
ja nun doch eine vergleichsweise späte „theologische Konstruktion“ zu
sein, passend zu einer patriarchalisch und aristokratisch verfassten
Entwicklungsstufe jener „Hellenen“, die sich nach den Verwerfungen der
sog. „dunklen Jahrhunderte“ wieder zu Wort meldeten. Für diese
Gesellschaft wurde das „Olympische Dorf“, seine Hackordnung, seine
Hierarchien, sein Machtgerangel aus den mündlich tradierten Epen um 800
bzw. 700 v. Chr. von Homer und Hesiod episch gestaltet und schriftlich
fixiert.
Religionshistoriker und Mythenforscher hatten seit dem 19.
Jahrhundert den historischen Wurzeln der griechischen Kulte und
Göttervorstellungen nachgeforscht und z.B. entdeckt, dass außer Zeus
beinahe keiner der „Olympier“ genuin „hellenisch“ war, sondern
nachträglich in die „Familie“ integriert wurde. Einer der höchst
irdischen Gründe dafür könnte das Aristokrateninteresse an gewaltigen
Stammbäumen mit göttlichen oder wenigsten heroischen Ahnen gewesen
sein.
Geschichtlicher Hintergrund dieser Prozeduren bildeten aber vor
allem die Einwanderungswellen indogermanischer, nomadisierender,
patriarchalisch organisierter Hirtenbanden seit dem frühen 2.
Jahrtausends v. Ch. Die Hellenenstämme waren also Invasoren, die letzte
Welle, die der Dorer, bewirkte um 1200 den Verfall der mykenischen
Hochkultur, die das „Personal“ der etwa 400 Jahre später verfassten
„Ilias„ stellte. Alle diese einwandernden Hellenen nun verhielten sich
mehr oder weniger tolerant gegenüber den vorgefundenen Kulten, vor
allem denen der „großen Mutter“, wie sie übrigens für alle frühen
Ackerbaukulturen ursprünglich nachgewiesen sind (Mesopotamien, Ägypten,
Kleinasien, Kreta und eben auch das vorhellenische Griechenland). Es
sagt etwas über das Kräfteverhältnis von Einwanderern und Urbevölkerung
aus, dass zunächst ein Kompromiss gesucht wurde, anders als bei den
Israeliten, auch patriarchalischen Nomaden, die sich bei ihrer
Einwanderung in das „gelobte Land“ Kanaan mit seiner hoch entwickelten
Ackerbaukultur den dort geltenden Rechtsformen gegenüber sahen und sie
erbittert bekämpften. Das Alte Testament ist reich an Polemiken gegen
die „Versuchungen“ der Fruchtbarkeitsrituale.
Dennoch gab es natürlich auch in Hellas Auseinandersetzungen und
innere Spannungen, die sich „mythologisch“ entluden z.B. im Trojaepos,
in den Eifersuchtsdramen der Hera, denen geschichtlich wohl der Hass
vergewaltigter Herapriesterinnen auf jene einwandernden Hellenen
zugrunde liegt (vgl. die Zeusliebschaft mit Io, der Herapriesterin von
Argos), im Wettstreit zwischen Athene und Poseidon um Athen, in dem
Konflikt zwischen Zeus, Hades und Demeter um Persephone, in der Revolte
Apollos gegen Zeus, weil dieser seinen Sohn Asklepios töten ließ usw.
Mit dem Niedergang der griechischen Polis auch im Gefolge des
idiotischen Bruderkriegs zwischen Athen und Sparta, mit Zweifeln am
olympischen Ordnungssystem machten sich wieder stärker die scheinbar
verdrängten Urkräfte in entsprechenden Kulten und Festen geltend, in
den Mysterien zu Ehren von Demeter und Persephone, in den Dionysien.
Hier werden die Zyklen des Lebens (und Sterbens), der Fruchtbarkeit in
der Volksfrömmigkeit und kultisch belebt und gefeiert. Sie geben den
Menschen, was sie entbehren: Erdgebundenheit, Hoffnung auf
Wiedergeburt, auf ein „Nachleben“, Trost, Ekstase, nichtpolitisches
Gemeinschaftserleben, Nivellierung von arm und reich, von Männern und
Frauen. Eine ähnliche Suche nach tröstender Kompensation und göttlicher
Hilfe finden wir später im Kybele-Kult der Römer während einer
Krisensituation der punischen Kriege, in den Übernahmen von Mithras-
und Isiskulten.
Welche Mühe hat z.B. der Schwiegersohn Mommsens, Herr Baron
Wilamowitz (den Herr Kittler wohl nicht leiden kann) darauf verwendet,
bei der Beschreibung des hellenischen Glaubens den Wandel der
Göttervorstellungen vor dem Hintergrund der Wanderungs- und
Eroberungsgeschichte der Hellenen Schicht für Schicht zu
rekonstruieren, also nicht nur das Nacheinander, sondern auch das Auf-
und Ineinander von Traditionsgut zu beachten. Eine schwierige Prozedur.
Der Religionshistoriker W. Beltz hatte Ähnliches mit der biblischen
Mythologie veranstaltet, für den Erforscher einer „heidnischen“, d.h.
polytheistischen Religion lag die Schwierigkeit vor allen darin, dass
eben religiöse, kultische, mythische, dichterische Güter allerlei
heilige oder profane Ehen eingegangen waren, Assimilationsbereitschaft,
„Multikulti“ also die zeitliche und inhaltliche Abgrenzung erschwerte,
was uns zwar ein buntes, sehr menschenähnliches Götter- und
Heroenvölkchen hinterließ, all jenen aber Kopfzerbrechen bereitete, die
sich mancher Ungereimtheit gegenübersahen. So ging es wohl auch Hesiod
einst, weshalb er das Bedürfnis verspürte, in dieses Chaos ein wenig
Ordnung zu bringen. Er versuchte in seiner „Theogonie“ (um 700 v.Ch.)
das vorgefundene bunte Allerlei oft nur lokal bedeutsamer Götter in
einen genealogischen Zusammenhang zu bringen. Er systematisierte die
Überlieferung, auch auf dem Boden der Homerischen Epen, dichtete
„Stammbäume“, Zuständigkeiten, Funktionsbereiche und vollzog damit
nach, was sich historisch als Synthese von Kulten verschiedenen
Ursprungs bereits ergeben hatte.
In diesem Sinne konnte Herodot sagen, Homer und Hesiod hätten „den
Göttern ihre Titel gegeben und deren verschiedene Sphären und
besonderen Kräfte beschrieben“ und den Griechen damit ihre
Glaubensgrundlage. Aber es sind eben vergleichsweise späte und
natürlich mit dem entsprechenden „Zeitgeist“ behaftete Werke, die weder
„quellenkritisch“ sein konnten, ihre Quelle waren die „Musen“, wie sie
selbst behaupteten (also nicht ein Gott, dessen Offenbarung sie nur zu
empfangen gehabt hätten), und schon gar nicht war zu erwarten, dass sie
ihre eigene Entstehungsgeschichte reflektierten.
In allen schriftlichen Zeugnissen antiker Mythologie ist also mit
dieser „Schichtung“ zu rechnen, wobei das älteste schriftlich fixierte
Dokument, die „Ilias“, zugleich als die jüngste mythologische Schicht
betrachtet werden kann, die in sich sogar schon den Keim einer
Überwindung mythischen Denkens enthält (darin lag ja die Versuchung für
Adorno).
Schließlich wäre auch zu berücksichtigen: Mythische Erzählungen
bieten oft das, was man eine Zukunftsdimension nennen könnte in Form
von märchenhaften, gleichsam utopischen Passagen, Sehnsuchtsbildern und
damit vielleicht Hinweisen auf Defizite. Die Phäakeninsel ist so ein
„Musterländle“, weshalb sie ja in der „Odyssee“ von der
weltgeschichtlichen Bühne auch gleich abberufen wird, sobald sie ihre
Funktion erfüllt hat. (Dieser Strafaktion Poseidons stimmt der ganze
Olymp zu, Kunststück!)
Als eine Sonderform utopischer Elemente könnten auch die
„Lichtgestalten“ der Götter- und Heroenwelt eingestuft werden, die
göttlichen und menschlichen „Kulturheroen“, die Wohltäter, Beschützer,
Retter, Erfinder wie Prometheus, Athene, Demeter, Hermes, Hephästos,
Apollon, Artemis, Minos, Daedalos, Kadmos, Perseus und natürlich
Herakles, wobei es schwierig ist, ihre Funktion und damit ihre entweder
„subversive“ oder stabilisierende Rolle zu deuten. Was die zahlreichen
großartigen mythologischen Frauengestalten betrifft (immerhin in einem
streng patriarchalischen System) kann man vermuten, dass ihnen im
„Himmel“ der Erinnerung (an vielleicht matriarchalische Zeiten) und in
der kultischen Verehrung zugestanden wird, was inzwischen auf Erden
versagt bleiben muss. Dann wäre ihre Funktion also mehr
kompensatorisch, als utopisch, Herr Adorno würde sagen, auf besonders
perfide Weise „affirmativ“, irdische Herrschaftsverhältnisse
stabilisierend.
Auf jeden Fall hat mir Herr Kittler viele Fragen erregt, die ich
aber erst einmal meinem eigenen Spiel zuordnen muss, bevor ich sie
bearbeiten kann.
Stichworte könnten z.B. sein:
Vergleichende Betrachtung von Erotik und Frauenleben im antiken Sparta, Athen, Lesbos.
Sparta? Hier brauchte ich unbedingt mehr Klarheit, denn die
Beschreibung F. Kittlers ist nicht nur höchst abenteuerlich, sondern
womöglich auch falsch, wenn sie allerdings richtig wäre, müsste man
sich gruseln, während der Meister offenbar dem Verlust spartanischer
Sexualerziehung nachtrauert. Bezogen auf die Rolle von Frauen und
Erotik könnte man (frau) zugespitzt sagen: die Wahl zwischen Athen und
Sparta gleicht der zwischen Skylla und Charybdis, der Anschiss lauert
überall.
Athen: Hier begegnen uns bekanntlich solche Frauentypen wie die
Ehefrau, welche, durch ihre häusliche Abgeschlossenheit nicht nur
entrechtet, sondern auch gewissermaßen zum „Verstummen und Verdummen“
verurteilt ist, weil sie erstens die Öffentlichkeit meiden muss, damit
kein Unbefugter gereizt wird, seines „Nächsten Weib zu begehren“, und
zweitens, weil sie durch ihre Abschottung wahrscheinlich tatsächlich
verblödet und jene oft gescholtenen Untugenden ausbildet, die von den
Männern als Plage und Zumutung empfunden werden, so dass man es ihnen
nicht verdenken kann, wenn sie sich bei ihresgleichen, Knaben, Hetären
etc. wohler fühlen. Unter diesem Gesichtspunkt müsste ich mir die
einschlägigen Darstellungen von Euripides anschauen, den vermeintlichen
Frauenhasser. Ich nehme an, er war Realist. (Auch ihn mag Herr Kittler
nicht, vielleicht deshalb?)
Der Frauentyp der Prostituierten ist auch nicht gerade geeignet,
Respekt vor der Frau „an sich“ oder gar Interesse an ihrer
Persönlichkeitsentwicklung zu unterstellen. Hier wäre aber eben
unbedingte Differenzierung erforderlich zwischen dem Gros der Huren,
die wirklich nur „Triebabfuhrfunktionen“ erfüllen (vgl. bestimmte,
Frauen verachtende Coitusdarstellungen auf Keramiken), ergänzt um die
sogen. „Flötenspielerinnen und Tänzerinnen“ , beschrieben im
Zusammenhang mit den Gastmählern der reichen und/oder intellektuellen
Männer, und dann natürlich der Hurenelite, d.h. der viel besungenen
Hetären in Griechenland.(Dieser Frauentyp ist insofern interessant,
weil er immer wieder in der Geschichte - wie auch die der bildenden
Kunst bestätigt - öffentliches Interesse geweckt hat. Ich denke dabei
nicht nur an den politischen Einfluss und die Beziehung
Perikles/Aspasia oder die Mutter des Großen Alexander, sondern auch an
die mythologisch verbrämten Kurtisanenbilder der italienischen
Renaissance und des französischen Absolutismus).
Nachfragen, wie es damit in Sparta stand. Ob sie solche mehr oder
weniger institutionalisierten weiblichen „Dienstleistungsorgane für
Körper und Geist“ überhaupt kannten, ob sie sie brauchten und wenn
nicht, wie sie die entsprechenden Funktionen absicherten.
Vorstellbar wäre ja, dass der hoch gelobte Stolz und die
Freizügigkeit spartanischer Frauen, auch der verheirateten, durch die
Art, wie freie Männer lebten (kämpften, sich ertüchtigten, bündisch
absonderten etc.) fragil waren bzw. ins Leere gingen.
Unbedingt natürlich wäre zu berücksichtigen die weibliche Lebens-
und Liebeswelt der untersten Schichten, der Sklavinnen, Dienerinnen,
der Kriegsbeuten, Geraubten, der Frauen, die sich und ihre Kinder durch
Gelegenheitsarbeit durchbringen mussten in der Landwirtschaft, in den
Häusern der Reichen, im städtischen Milieu der Händler, Handwerker
etc., besonders ihre Rolle in den Hafenstädten, wo man mit großen
Nachholbedarf bei den Seeleuten nicht nur in sexueller Hinsicht rechnen
musste.
Wichtig bei alledem, Klarheit zu gewinnen über die ja durchaus
differierende und sich wandelnde Rechtsstellung der Frauen (besonders
der Ehefrauen und der Prostituierten).
Und nicht vergessen: die Knabenliebe (mythologisch z.B. Ganymed).
Was F. Kittler zum Erlernen und Ertragen der Analpenetration als
Initiationsritual zu berichten weiß, ist wirklich ekelhaft, aber es
wäre schon interessant herauszufinden, ob es überhaupt stimmt.
Sparta also: Kittlers Beschreibung der „Kinder- und Jugendkultur“,
einschließlich Sexualerziehung ist ja auf jenen mythischen Reformer
Lykurg bezogen. Wichtig wäre zum Verständnis der militarisierten
Spartakultur, die quantitativen Relationen zwischen freien und
unterjochten (Heloten, Periöken) Menschen zu beachten und die sich
daraus ergebende offenbar eugenisch/faschistoid angelegte
Bevölkerungspolitik (gegenüber den „Herrenmenschen“) mit ihren
Orientierungen auf: Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Unterwerfung unter
eine rigide Gruppenkultur vom 7. Lebensjahr an, da nämlich werden
(alles laut Kittler, ich habe es nicht überprüft) den Frauen die Kinder
weggenommen und zunächst nach Geschlechtern getrennt herangebildet,
trainiert (gezüchtet?), in der Pubertät lässt man diese Zuchtprodukte
aufeinander los, begünstigt ihre „geschlechtliche Vermischung“ zum
Zwecke der reproduktiven Paarbildung, während vorher – auf
homosexueller Basis - erste sexuelle Erfahrungen gesammelt werden
können und wohl auch sollen.
Herr Kittler erklärt, solche „Epheben“ würden bestimmt nicht auf
dem Sofa eines Psychiaters landen. Ich vermute, umso sicherer auf den
Schlachtfeldern von Messenien, Athen, oder Stalingrad, wieso
Stalingrad? Na weil mich das alles erinnert an „Lebensborn“, an
eugenische Horrorszenarien „schöner neuer (Lykurg’scher) Welten“, eben
drum Stalingrad.
In diesem Zusammenhang wäre natürlich auch wenigstens ein
Seitenblick auf die Sapphoschule zu werfen, die vergleichbare
Funktionen erfüllte. Es war eine - hier allerdings auf Mädchen
beschränkte - und sicher sublimere, kultiviertere Ausbildung des
weiblichen Nachwuchses für Ehen der gut Situierten in den typisch
weiblichen „Kulturtechniken“ von Müßiggängern. Homoerotische
Erfahrungen blieben nicht aus, waren wahrscheinlich, aus ähnlichen
Gründen wie in Sparta, sogar als „Studiengänge“ erwünscht und - bezogen
auf die Gefahr einer vorehelichen Schwängerung - ohne Zweifel optimal.
Ob die so verzärtelten, sensibilisierten, spezifisch erotisierten
Mädchen noch ehefähig waren oder nicht eher mit ihrer späteren Rolle in
Konflikt gerieten, sollte vielleicht mal ermittelt werden, eventuell
sogar anhand der Sapphofragmente. Man fragt sich natürlich überhaupt,
wenn man den Vergleich nun wieder mit der Rolle und Stellung der
athenischen Ehefrauen zieht, welchen Charakter die Ehen der aus solchen
Schulen hervorgehenden Frauen hatten, da sie sicher anderes lernten als
nur einen Haushalt zu führen, zu weben und bei Gelegenheit dem
Hausherrn für dessen Zeugungsabsichten zu Verfügung zu liegen. Ihre
Qualifikation erinnert mich fast an die von höherer Töchtern des
Bürgertums und schien offensichtlich genau um die Funktionen erweitert,
die in Athen die Flötenspielerinnen und Hetären innehatten, also:
genussvoller Sex, gehobene Unterhaltung, Amüsement. Deshalb muss ich
unbedingt mehr über die damaligen Zustände von Lesbos wissen und über
die der Regionen, die von Sapphos Schule „beliefert“ wurden. Oder haben
wird es hier mit dem“ feinen Gegenbild“ der Knabenliebe, der
homoerotischen „Männerbünde“ wie in Sparta zu tun?
Eine andere, mich interessierende Frage:
Der Agon (der Wettstreit) - ein konstitutives Moment griechischer
Kultur? (s. Mommsens Vergleich der Griechen und Römer) Entsprechen
einander: das griechische Alphabet, die Polisdemokratie, der
spezifische Polytheismus, die Wertschätzung des (freien/männlichen)
Individuums und seiner allseitigen Entwicklung und zwar als Folge
geographisch/ökonomisch bedingter Zersplitterung bei gleichzeitig sich
entwickelnder und gegen die Perser bewährter „nationaler Identität“?
Ist der Agon somit als deren „Bewegungsform“ und Anreiz für gewaltige
kulturelle Leistungen?
Gilt das, wenn es denn stimmen sollte, auch z.B. für die mich so
interessierende italienische Renaissance? Auch hier finden wir die
politischen Voraussetzungen für kulturellen Agon und in der Folge
kultureller Höchstleistungen. In beiden Fällen tragischer Niedergang,
weil das, was „Agonkultur“ begünstigte, d.h. Zersplitterung bei
gleichzeitiger Rivalität, es den mehr oder weniger
despotisch/zentralistisch organisierten lachenden Dritten leicht
machte, die innerlich geschwächten Länder zu unterwerfen und die
kulturelle Blüte welken zu lassen. (Griechenland: Beute der Makedonen, Römer, Byzantiner, Türken .... des Faschismus.
Italien: Beute der Franzosen, Spanier, Österreicher.... des Faschismus)
Du siehst liebe Freundin, es gäbe viel zu tun, wenn ich die
Anregungen F. Kittlers aufgreifen und ihnen - auf meine Spielerei
bezogen - nachfragen wollte. Insofern habe ich Dir für Deinen Tip sehr
zu danken.
Wenn Du mich allerdings fragst, ob man das Buch lesen sollte und
zwar mit Gewinn, dann könnte ich Dir nun meinerseits einen wertvollen
Tip geben: Belege unbedingt vorher ein paar Vorlesungen in:
Archäologie, Gräzistik, Alte Geschichte, Musik-, Literatur-
Medienwissenschaft, Mathematik, Informatik, Philosophie, Psychologie,
unverzichtbar Nietzsche, Lacan, Heidegger, unbedingt Heidegger, schon,
damit Du stilistisch auf alles gefasst bist, natürlich alle Werke von
Homer und Hesiod und Sappho (wie viele waren es doch gleich, siehste,
da geht’s schon los), die Tragiker, die Komiker (nein, ich meine jetzt
nicht Herrn K.), ein paar Geographie- und noch mehr Sprachkenntnisse (
als Du ohnehin schon besitzt) könnten auch nicht schaden, damit Du
beurteilen kannst, ob der Meister beim Übersetzen (der Odyssee, der
Sappho–Texte) nicht geschummelt hat, ich konnte es nicht, ich konnte
nur verschiedene Übertragungen ins Deutsche vergleichen und bin dabei
natürlich nicht so fündig geworden wie Herr Kittler. Ach übrigens, wenn
Du das Gilgamesch-Epos nicht kennst, bist Du natürlich gleich auf den
ersten Seiten aufgeschmissen.
Der Klappentext von „Musik und Mathematik“ gibt im Übrigen einen
wichtigen Hinweis auf das, was zu erwerben wäre, nämlich jenes
„dunkle(!) Wissen, das Helden erst nach Jahrzehnten des Erfahrens in
Fleisch und Blut gegangen.“ ist.
Über dem Eingang zur Kittler-Galaxis könnte stehen:
„ Leser, der du hier eintrittst,
lass alle Hoffnung auf Aufklärung fahren“
und: vergiss nicht: pathein/mathein!
Sollte das alles nicht genügen, Deinen Geist zu konditionieren für
das Werk, dann warte doch einfach die nächsten Bände der Tetralogie ab
und hoffe auf Erleuchtung.
Kurzum: pathein/mathein : leide und lerne!
Bis bald R.S.
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