Report | Kulturation 2016 | Christian F. Hunold | The Filmfestival „Berlinale“ is a great cultural institution of the german capital
| Anmerkungen unseres Filmkritikers zur 66. Berlinale (11. - 21.Februar 2016)
Die Berlinale ist das alljährliche Film-und Kinohighlight der
deutschen Hauptstadt. Zehntausende Filmschaffende aus aller Welt kommen
in diesen Februartagen nach Berlin. Hunderttausende Berliner (und
Besucher Berlins) ziehen in die vielen großen und kleinen Kinos, die
allen Ortens in den Stadtbezirken sich in Festivalkinos verwandeln. Es
werden in diesem Jahr über 400 Spiel-und Dokumentarfilme gezeigt. Die
Berlinale ist nicht nur eine achtungsgebietende Leistung des Berliner
Kulturmanagements. Sie ist ein Gigant, der sich in Details zwar ändern
kann (man erfindet von Jahr zu Jahr neue Spezialprogramme und erweitert
die bestehenden als da sind: Panorama, Forum, Perspektive Deutsches
Kino, Berlinale Classics, Forum Expanded, Kulinarisches Kino,
schwul-lesbische Filme mit dem Teddy Award, Cinema for Peace und
Retrospektiven und…und), aber an ihren Grundlagen will keiner rütteln,
die werden allgemein akzeptiert. D.h. die Berlinale vereint Wettbewerb
und weitgefächerte Publikumsprogramme. Die Berlinale fördert den
Nachwuchs. Die Berlinale vermittelt mit ihren Retrospektiven
Filmgeschichte. Auf der Berlinale erhalten Regisseure aus aller Welt
vielfältige Möglichkeiten, um über ihre Werke, Konzepte und Biografien
in der Öffentlichkeit zu sprechen (insbesondere deutsche
Rundfunkanstalten wie Deutschlandradio Kultur in „Studio 9“ oder „Im
Gespräch“ aus der Berlinale Lounge sorgen für ausgezeichnete
Publizität). Die bei den Profis verbreitete Meinung, dass es für sie
wichtig sei, in den verschiedenen Kinos auf der Berlinale beobachten zu
können, wie ihre Produktionen beim Zuschauer ankommen, lässt darauf
schließen, dass Regisseure erste Feldforschung zu ihren Filmen auf der
Berlinale machen können und wollen.
Regisseure – so Doris Dörrie in Deutschlandradio Kultur am 15.2.16- finden den Pluralismus der Berlinale gut.
Den Vorsitz der Jury des Wettbewerbes nimmt ein Weltstar aus den
USA ein: Meryl Streep, die zu den meistausgezeichneten
Schauspielerinnen in der globalen Kinowelt zählt.
Von der Öffentlichkeit wenig beachtet aber von tragender Kraft ist
der European Film Market, auf dem Produktions- und Vertriebsfirmen der
deutschen und internationalen Filmwirtschaft ihre Geschäftsabschlüsse
tätigen. Die Berlinale ist im Verborgenen ein gewaltiger Umschlagplatz
der europäischen Filmindustrie.
Hierzulande beschränkt sich die Funktion der Filmkritik meist auf
Regisseure (auch Schauspieler) und Werk. Sie ist einem seltsam
verkürzten Kritikverständnis verpflichtet, denn die Programme der
produzierenden Filmfirmen werden nie Gegenstand kritischer Analyse.
Alljährlich werden auch thematische Schwerpunkte vom
Festivalmanagement gesetzt. „In diesem Jahr will sich das Festival
besonders für Menschen engagieren, die nicht nur die Flucht, sondern
auch Verfolgung, Kriegsgewalt und Folter durchleben mussten“, so Dieter
Kosslik, der Festivaldirektor.
Ich bin gegenüber der Berlinale, die von Jahr zu Jahr mehr zu einem
Mammut mutiert, zunehmend voreingenommen, weil dieses Festival immer
mehr in einen perfekt aufgezogenen Glamour-Rummel ausartet, der viel
bietet, aber für mich in der quantitativen Vielfalt nicht mehr
überschaubar ist und Regienamen ausweist, die mir meistens unbekannt
sind und über die man auch wenig erfahren kann. Mit diesem Problem hat
man aber auf Festivals immer zu kämpfen. Der Widerspruch, in dem man
sich auf Festivals befindet - entweder dem Anspruch nachgehen zu
wollen, Tendenzen in der nationalen bzw. internationalen Filmkunst auf
dem Festival erkennen zu wollen oder eine strikte Auswahl nach
bekannten Regienamen oder Stars oder aufgrund eines interessanten
Themas oder nach Genreprioritäten vorzunehmen, wurde von mir immer
zugunsten des letzteren gelöst.
Interessant fand ich auf Festivals oft die Podiumsgespräche mit
Filmschaffenden, weil sie Einblicke in Schaffensfragen und das jeweils
diskutierte Werk vertiefen. Die Berlinale leistet hierzu Beachtliches –
vor allem mit der Berlinale Lounge.
Die Berlinale ist für alle in der Branche arbeitenden Profis eine
wichtige Hilfe: sie fördert Kontakte und Informationsflüsse. Viel wird
auch in den Nachwuchs investiert, dem eine aufwendige Palette von
Weiterbildungs- und Kontaktmöglichkeiten auf hohem Niveau geboten wird.
Und man ehrt auch das Lebenswerk von Großen der Regie, Kamera,
Darstellungskunst (Retrospektive für das Lebenswerk von Michael
Ballhaus auf der 66.Berlinale). Die Preise auf der Berlinale sind in
der globalen Filmwelt begehrt und haben einen hohen Status.
Ist also die Berlinale primär ein Festival für Profis und angehende Profis der Branche? Ja und nein.
Es wird immer wieder betont, dass die Berlinale im Unterschied zu
Cannes ein Publikumsfestival sei. Aber was will man unter dem Publikum
der Berlinale verstehen? Wie konstituiert es sich in der öffentlichen
Meinungsbildung? Kann es als Subjekt in der Kommunikation mit
Filmschaffenden auftreten oder wird es in den Mechanismen des
Berlinalegiganten immer mehr in die Rolle von Konsumenten gedrängt, die
mit Bilderwelten überschüttet werden?
In diesem Jahr können die Berliner über 400 Filme in
Großfilmtheatern bis hin zu Kiezkinos besuchen(neu unter den
Stadtbezirken, die vom Berlinale-Programm bespielt werden, ist in
diesem Jahr Wedding). Neu ist, dass die mit dem Internet gegebenen
neuen Kommunikationsformen die traditionellen öffentlichen
Kommunikationsweisen während der Berlinale, die meist nach dem Start
der Filme Öffentlichkeiten konstituieren, erweitern und damit auch die
Strukturierung des Publikums.
Die Überfülle des quantitativen Angebotes macht die Berliner zu
Zuläufern eines riesigen „Kaufhauses“, d.h. man kann „Schnäppchen“
erwerben (für allerdings während des Festivals erhöhte
Eintrittspreise). „Schnäppchen“ heißt hier: Man kriegt ´ne Menge Filme
aus weniger bekannten Filmproduktionsländern und auch aus anderen
Kulturkreisen angeboten, die man ansonsten im Kinoalltag (meistens auch
nicht im deutschen Fernsehen) nicht sehen kann. Darunter sind viele
wertvolle Filme – vom Thema her, von der Autorensicht und von der
Machart. Darunter ist aber auch allerlei Ramschware.
Der Pluralismus im Programmangebot hat auch eine ständig
fortschreitende Differenzierung der Meinungsbildung durch verschiedene
Gruppen des Publikums gebracht. Die Vernetzung (über Twitter, Facebook)
wird oftmals von den Kinogängern als Plus-Effekt der Kommunikation in
der Konstituierung des Festivalpublikums eingebracht. So gesehen
zeitigt die Berlinale heutzutage völlig neue Konstituierungen des
Publikums und verändert das, was man traditionell unter öffentlicher
Kommunikation und Meinungsbildung auf der Berlinale verstand. Die
Wirkung in die Gesellschaft hat sich verstärkt, aber auch mehr denn je
differenziert. Publikumsmeinungen sind mehr denn je Gruppenmeinungen.
Einerseits macht die Überfülle es dem einzelnen nahezu unmöglich,
qualitative Trends der Themen und Gestaltungsweisen im globalen Maßstab
zu erkennen. Er gerät aber nicht in die Rolle eines Konsumenten, der
mit der Quantität überfordert ist, weil die neuen technischen Kanäle
der Kommunikation eine neue Art der Differenzierung und Gewichtung der
Meinungen gebracht haben (insbesondere auch durch Blogger), die den
„klassischen“ Filmkritiker und dessen Definitionsmonopol relativieren,
ja entmachten. Die Bedeutung der professionellen „Meinungsmacher“ in
Bezug auf die Berlinale, die in den Printmedien, im Hörfunk und auch im
TV tätig sind, relativiert sich mit den neuen Möglichkeiten der
privaten und öffentlichen Meinungsbildung im Internet.
Offen bleibt die Frage, ob das Publikum auch durch
nichtprofessionelle, aber cineastische Kinogänger als Subjekt der
personalen Kommunikation zwischen Filmemacher, Werk und Zuschauer auf
der Berlinale auftreten könnte. Eine sachkundig argumentierende
Filmklubbewegung, die für Filmemacher ein aktiver Partner wäre, gibt es
nicht. Sie könnte auf der Berlinale in der öffentlichen Kommunikation
Akzente setzen, aber – wie gesagt – es gibt sie nicht.
Sat1-Filmkritiker Hans-Ulrich Pönack (Jg.1946), der über ein
profundes Film-und Festivalwissen verfügt und clever und ansprechend
auch im Rundfunk über Filme informieren kann (der aber wie viele
Filmkritiker in den Medien eigentlich nichts anderes als Werbung für
den Kauf von Kinokarten macht, statt Öffentlichkeit zwischen
Filmproduzenten, Filmschaffenden und Kinopublikum zu stiften),
antwortete auf Fragen von Rundfunkhörern zur 66. Berlinale in einer
Sendung von Deutschlandradio Kultur mit einem entsetzlichen Verständnis
von Berlinale und Kinos. Auf die Frage, ob denn der Glamour auf der
Berlinale überhaupt notwendig sei, verteidigte er diese Welten der
neueren Warenästhetik und plädierte dafür, die Kinos als „Tempel“ eines gloriosen Festivals zu genießen.
Dass das Kino auch als ein Ort der Konstituierung von Öffentlichkeit,
der Vergesellschaftung von Wahrnehmungen, Erfahrungen,
Wertvorstellungen in der Gesellschaft funktionieren könnte, ist mit der
Fetischisierung des Genuss-Tempels, was ja nur eine Festschreibung der
marktwirtschaftlichen Regularien ist, ausgelöscht. Die die deutsche
(Kino)Filmkultur und viele ihrer Adepten sind weit davon entfernt, im
Kino als Institution der Öffentlichkeit auch eine Institution der
Demokratie sehen zu können. Lieber Kommerzkinos, lieber einige
Arthaus-Kinos, lieber Kommunales Kino als Institution der
filmgeschichtlichen Bildung - aber „Kinos der Demokratie“ - was soll
das sein? Und das in einem Land, in einem Staat, in dem die Rechten
verschiedener radikaler Farben im Vormarsch sind (in Deutschland
flammen Protestbewegungen auf und gleichzeitig formiert sich in der
Flüchtlingskrise bereits eine partikularisierte Widerstandsbewegung,
die in den brennenden Flüchtlingsheimen sich manifestiert und die an
Gegenpolen von gewalttätigen Kommandos extremer Linker ergänzt wird).
Bei den tonangebenden Eliten der Filmkultur in diesem Lande feiert
die Saturiertheit Hochzeit mit einer selbstgefälligen Verteidigung von
Errungenschaften, die heute keine mehr sind (siehe die Retrospektive
west- und ostdeutscher Spielfilme um 1966 auf der diesjährigen
Berlinale, eine Retrospektive, die 20 Jahre zu spät kommt).
Man stelle sich vor, eine Berlinale würde veranstaltet werden zum
Thema „Demokratie“. Einige der jetzigen Berlinale-Festivalmacher und
Filmkritiker wären überfordert.
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