Report | Kulturation 1/2005 | Dieter Kramer | Schiller für Ethnologen
| Er hat Reiseberichte gelesen - aber was hat er daraus gemacht?
Alle feiern Schiller, weil der Ärmste vor 200 Jahren im Alter von
45 Jahren an vielerlei Krankheiten verstorben ist (10. 11. 1759 - 9.
Mai 1805). Dabei kennen die meisten ihn nur als kaum erträglichen
Idealisten. Schon seine Studenten klagten über seinen unangenehm
pathetischen und manierierten Vorlesungsstil. Und mit Sprüchen wie dem
aus den Xenien kann er sich bei jeder modernen Frau lächerlich machen:
Zeus zur Venus: Töchterchen, dein Geschäft sind nicht die Werke
des Krieges,/ Gehe du heim und besing Werke der Liebe, der Lust. (Xenien. Ich zitiere nach Friedrich Schiller: Sämtliche Werke in fünf Bänden. München: dtv 2004, hier I, 323).
Können Ethnologen ihm heute etwas abgewinnen? Gereist ist er eher
wenig – von Stuttgart bis Weimar, das war sein Lebenskreis, einige
Kuraufenthalte dazwischen. Aber Reiseberichte seiner Zeit
interessierten ihn. Im Brief an Goethe bekennt er, im Winter 1797/98
viel davon gelesen zu haben. James Cook wird ihm allerdings nicht wie
den modernen Ethnologen zum Beispiel einer komplizierten
Kulturbegegnung, sondern zum moralischen Motiv: „Es ist keine Frage,
dass ein Weltentdecker oder Weltumsegler wie Cook einen schönen Stoff
zu einem epischen Gedichte entweder selbst abgeben oder doch
herbeiführen könnte; denn alle Requisite eines epischen Gedichts …
finde ich darin… Es ließe sich ein gewisser menschlicher Kreis darin
erschöpfen, was mir bei einem Epos wesentlich deucht, und das Physische
würde sich mit dem Moralischen zu einem schönen Ganzen verbinden
lassen.“ Aber zu einem Drama taugt ihm der Stoff nicht. „Da
inkommodiert mich die sinnliche Breite ebensosehr, als sie mich dort
anzog; das Physische erscheint nun bloß als ein Mittel, um das
Moralische herbeizuführen“.(13. 02. 1798; die Briefe werden zitiert
nach Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. In zwei Bänden, hg. Von
Ernst von Bracken. Berlin o. J., hier: 2, S. 47; vgl. III, 973
Kommentar).
Genau das hat er auch in den Seestücken vor, für die es Entwürfe gibt, aus denen keine Dramen geworden sind. Der Dramenentwurf Das Schiff
von 1798 verspricht ein kulturelles Panoptikum (III, 972 Kommentar),
aber nur zu moralischen Zwecken: Es sollen darin „alle interessanten
Motive der Seereisen, der außereuropäischen Zustände und Sitten“
vorkommen (III, 259). Abgesehen von bescheidenen kolonialkritischen
Ansätzen ist in den Entwürfen Die Flibüstiers und Das Seestück
(III, 262 ff.) die Fremde „kaum mehr als vage exotische Kulisse für ein
konventionelles Rührstück“ (III, 973 Kommentar), unter anderem – und da
wird sie austauschbar - für sentimentalische Rückschau. „Immoralität
und erhabenste Moralität“ (III 976, Kommentar), seit den Räubern
zentrales Thema für Schiller, wären auch hier im Zentrum gewesen.
Interkultureller Dialog, bei dem Zeitgenossen Herder immerhin schon
praktiziert und von Goethe mit seiner Vorstellung von Weltliteratur
avisiert, findet nicht statt.
Schillers Moralität und Goethes Hinweis auf die Lokalität
Schiller wundert sich, dass Goethe solche Stoffe noch nicht
behandelt hat. Dieser, voll von seinen Studien zur Farbenlehre
eingenommen, entgegnet (Brief 422, Briefe 2, S. 48) und fügt, sich auf
die Lokalität beziehend, eine interessante Wendung hinzu: „…ich würde
nie wagen, einen solchen Gegenstand zu behandeln, weil mir das
unmittelbare Anschauen fehlt und mir in dieser Gattung die sinnliche
Identifikation mit dem Gegenstande, welche durch Beschreibung niemals
gewirkt werden kann, ganz unerläßlich scheint. Überdies hätte man mit
der Odysee zu kämpfen, welche die interessantesten Motive schon
weggenommen hat. Die Rührung eines weiblichen Gemüts durch die Ankunft
eines Fremden, als das schönste Motiv, ist nach der Nausikaa gar nicht
mehr zu unternehmen. … Die Narine Vaillants, oder etwas ähnliches,
würde immer nur Parodie jener herrlichen Gestalten bleiben.“ (Briefe II
49) Ohne die „unmittelbare Anschauung“ wirkt nur der „sittliche Teil“
des Gedichts. „In welchem Glanze aber dieses Gedicht vor mir erschien,
als ich die Gesänge desselben in Neapel und Sizilien las! Es war mir,
als wenn man ein eingeschlagnes Bild mit Firnis überzieht, wodurch das
Werk zugleich deutlich und in Harmonie erscheint. Ich gestehe, daß es
mir aufhörte, ein Gedicht zu sein, es schien die Natur selbst, das auch
bei jenen Alten um so notwendiger war, als ihre Werke in Gegenwart der
Natur vorgetragen wurden. Wie viele von unsern Gedichten würden wohl
aushalten, auf dem Markte oder sonst unter freiem Himmel gelesen zu
werden.“ (Briefe II, S. 49/50).
Goethe tritt uns hier entgegen als jemand, der für die Lokalität
sensibilisiert, und das muss eigentlich auch Ethnologen interessieren.
In Zeiten der „Wiederentdeckung des Raumes“ (Niels Werber) und des
faszinierten Blickes auf die wechselseitige Durchdringung von
Globalisierung und Lokalität (Glokalisierung) ist das nicht
uninteressant. Goethe, wie Aristoteles in Raffaels „Schule von Athen“
auf die Erde weisend, Schiller wie Plato ins Reich der Ideen blickend,
dort freilich auf wirkungsvolle Weise Höhen und Tiefen des moralischen
Menschen ausleuchtend, und darin liegt für mich eine besondere
Leistung.
Vielleicht, weil daran erkennbar war, zu was Menschen fähig sein
können, haben ihn auch die Gesetze für die indianischen Untertanen
fasziniert, die der Jesuitenregierung in Paraguay zugeschrieben wurden
(Jesuitenregierung in Paraguay. IV, 985-987; abgeschrieben ist der Text
aus Johann Christoph Harenbergs Pragmatische Geschichte des Ordens der
Jesuiten von 1760, 2, 2243ff., IV, 1066 Komm.). Sie heute zu lesen, ist
eine Entdeckung, denn sie erinnern in ihrer bedingungslosen Feindschaft
gegen Europäer, der absoluten Unterwerfung unter die Religion und durch
die maßlosen Versprechungen bezüglich sexueller Genüsse im Himmel für
die Opfer frappierend an heutige islamistische Vorstellungen.
Texte dieser Art sind – wie die von Herder, Rückert, Chamisso,
Lenau, Raabe und vielen anderen – Material für eine Studie über die
Verquickung der deutschsprachigen Literatur mit der Eroberung der Welt,
mit denen das auf das anglophone und frankophone Westeuropa
konzentrierte Bild von Edward Said in seinem Kultur und Imperialismus (Frankfurt am Main 1994) modifizierend-ergänzend korrigiert werden könnte.
Schillers Gegenspieler-Modell als Abwehr von Hegemonieansprüchen
Etwas anderes bei Schiller ist mir in Zeiten der Globalisierung und
neuen Hegemoniebestrebungen noch wichtiger. In der Auseinandersetzung
mit dem moralischen Menschen entwickelt er sein
„Gegenspieler-Modell“, mit dem er uns interessieren, ja vielleicht
sogar mit seinem lebensfernen Idealismus versöhnen kann. Es ist
enthalten in dem Text Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen
(1793/94, V, 570-669), geschrieben an seinen Gönner Prinz Friedrich
Christian von Schleswig-Holstein-Augustenburg, einen Anhänger der
französischen Revolution. In diesen Briefen zeigt Schiller der
Fortschrittseuphorie die Grenzen und weist einen Weg, mit dem „alten
Adam“ ohne eine idealistische, vernunftradikale Erziehungsdiktatur
zurechtzukommen.
Diese Briefe beeindrucken heute nicht so sehr, weil sie, wie
Kunstproduzenten es gern haben, die Künste ins Zentrum stellen, sondern
weil das linear und universalistisch konzipierte Fortschrittsmodell von
Immanuel Kant auf eindrucksvolle Weise dynamisiert und relativiert
wird. Er schreibt: "Einheit fordert zwar die Vernunft, die Natur aber
Mannigfaltigkeit, und von beiden Legislationen wird der Mensch in
Anspruch genommen." (4, V, 577). Und in dieser Dialektik liegt
Befreiung: "Sobald nämlich zwei entgegengesetzte Grundtriebe in ihm tätig sind, so verlieren beide ihre Nötigung, und die Entgegensetzung zweier Notwendigkeiten gibt der Freiheit
den Ursprung." (19, V, 631) Dem Terror der (politischen, ökonomischen)
Vernunft schreibt er ins Stammbuch: "Wenn das gemeine Wesen das Amt zum
Maßstab des Mannes macht, wenn es an dem einen seiner Bürger nur die
Memorie, an einem andern den tabellarischen Verstand, an einem dritten
nur die mechanische Fertigkeit ehrt [...] - darf es uns da wundern, daß
die übrigen Anlagen des Gemüts vernachlässigt werden [...]?" (6, V 584)
"Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über irgendeinem Zwecke
sich selbst zu versäumen?" (6, V, 588) So entwickelt Schiller hier, die
Widersprüche der Revolutionen seiner Zeit verarbeitend, ein attraktives
Programm, weil es eine Perspektive für das individuelle und das
gesellschaftliche Leben bietet, die Distanz und Entscheidungsfreiheit
ermöglicht: „Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf“
(9, V 595), empfiehlt er seinem Gönner.
Wir lesen in diesen Briefen freilich auch: „Hier also, in dem
Reiche des ästhetischen Scheins, wird das Ideal der Gleichheit
erfüllt.“ (27, V, 669): Das ist die Flucht, die das Bürgertum der
folgenden Jahrhunderte so gern hatte. Aber, recht verstanden, wird
dadurch das andere Prinzip, mit dem das Gegenspielermodell allen
Hegemonie-Ansprüchen widerspricht, nicht ausgehebelt, und dieses
Prinzip wendet sich eigentlich auch gegen Schillers eigenen
aufklärerischen Kulturoptimismus. Mit ihm erhält der alt-neue Adam ein
Lebensrecht, muss die Menschheit nicht immer wieder neu erzogen werden
(auch wenn Schiller das vielleicht anders sehen würde).
Der Kulturoptimismus der Universalgeschichte Schillers
Die Gedanken der „Briefe“ stehen für uns heute in merkwürdigem
Kontrast zu dem aufklärerischen Monismus der Antrittsvorlesung „Was
heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ (IV,
749-767).
Am 26. und 27. Mai 1789, wenige Wochen vor dem Sturm auf die
Bastille (IV, 1056) und der damit beginnenden französischen
Juli-Revolution, hält Schiller als Historiker seine Jenenser
„akademische Antrittsrede“ unter dem Titel „Was heißt und zu welchem
Ende studiert man Universalgeschichte?“ (IV, 749-767). Entwickelt wird
das klassische evolutionistische Programm: „Die Entdeckungen, welche
unsre europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten
gemacht haben, geben uns ein ebenso lehrreiches als unterhaltendes
Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten
Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiednen
Alters um einen Erwachsenen herumstehen und durch ihr Beispiel ihm in
Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon der
ausgegangen ist. Eine weise Hand scheint uns diese rohen Völkerstämme
bis auf den Zeitpunkt aufgespart zu haben, wo wir in unsrer eigenen
Kultur weit genug würden fortgeschritten sein, um von dieser Entdeckung
eine nützliche Anwendung auf uns selbst zu machen und den verlornen
Anfang unsres Geschlechts aus diesem Spiegel wiederherzustellen. Wie
beschämend und traurig aber ist das Bild, das uns diese Völker von
unserer Kindheit geben! und doch ist es nicht einmal die erste Stufe
mehr, auf der wir sie erblicken. Der Mensch fing noch verächtlicher an.
Wir finden jene doch schon als Völker, als politische Körper: aber der
Mensch mußte sich erst durch eine außerordentliche Anstrengung zur
politischen Gesellschaft erheben.“ (754)
Entsprechende Schauergeschichten werden erwähnt. „So waren wir.
Nicht viel besser fanden uns Cäsar und Tacitus vor.“ Menschlicher Fleiß
hat die Erde verändert. „Von dem blinden Zwange des Zufalls und der Not
hat er sich unter die sanftere Herrschaft der Verträge geflüchtet und
die Freiheit des Raubtieres hingegeben, um die edlere Freiheit des
Menschen zu retten.“ (756).
Keiner kann sich heute mit einem solchen Bild anfreunden. Die
Gleichberechtigung der Kulturen, ihre vergleichbare Kapazität, ihr
Leben und ihr Verhältnis zueinander sowie zu ihrer Umwelt zu
organisieren ist Grundlage des Denkens der Kulturwissenschaftler
geworden.
Evolutionistische Ammenmärchen, konventioneller, leicht
bekömmlicher Evolutionismus, damals noch kaum relativiert durch Herders
Aufforderung, das Telos doch bitte Gott zu überlassen, finden sich
immer wieder: Der Übergang des Menschen zur Freiheit und Humanität wird
in der Bibel und der Philosophie programmiert gesehen. Die
Verschiedenheit der Lebensweise von Tierzüchtern, Feldbauern (IV, 774),
die Aufhebung der Standesgleichheit in hierarchischen Modellen (IV,
776) werden als Stufen menschheitlicher Entwicklung betrachtet. Warum
solch linearer Evolutionismus, trotz des schönen Gegenspieler-Modells
der zitierten „Briefe“?
Vielleicht hängt es damit zusammen, dass die Vorlesung früher
geschrieben wurde, und jetzt immerhin eine Menge neuer schlimmer
Erfahrungen verarbeitet werden musste. Denn noch wenige Wochen vor der
Juli-Revolution finden wir bei dem gleichen Schiller, der in den Räubern die herrschende Moral kritisiert, in Kabale und Liebe Verderbtheit der Aristokratie angeprangert, im Don Carlos
ein Bild des Rechtsstaates entwickelt hatte, einen grenzenlosen
Opportunismus den herrschenden Mächten gegenüber: „Die Schranken sind
durchbrochen, welche Staaten und Nationen in feindseligem Egoismus
absonderten. Alle denkenden Köpfe verknüpft jetzt ein weltbürgerliches
Band, und alles Licht seines Jahrhunderts kann nunmehr den Geist eines
neuen Galilei und Erasmus bescheinen.“ (IV, 756) 1793 gab es so viele
Enttäuschungen zu verarbeiten, dass Schiller das linear und
universalistisch konzipierte Fortschrittsmodell seines geschätzten
Immanuel Kant durch sein Gegenspieler-Modell auf eindrucksvolle Weise
dynamisiert.
Die Polemik gegen die „Brotgelehrten“
Eine andere Passage aus der Antrittsvorlesung aber kann uns immer
noch erfreuen. „Fruchtbar und weit umfassend ist das Gebiet der
Geschichte; in ihrem Kreise liegt die ganze moralische Welt.“
(IV, 749, Hervorhebung DK): In diesem programmatischen Satz ist
enthalten die Subsumtion der Geschichte unter das Moralprogramm
Schillers. Ihm geht es darum, sich als Menschen auszubilden
(IV, 750) – bei Wilhelm von Humboldt lassen sich ähnliche Gedanken
bezüglich der Ziele des akademischen Unterrichts finden. Und damit
hängt die dann folgende Unterscheidung zwischen dem „Brotgelehrten“ und
dem philosophischen Kopf zusammen, die heute wieder oder noch anwendbar
ist – aber der „Brotgelehrte“ wäre, bezogen auf die Ethnologie z.B.,
nicht derjenige, der Angewandte Ethnologie betreibt, sondern eher
derjenige, der die selbstreferentielle, nur in den Bahnen des Faches
sich bewegende universitäre Ethnologie der Karriere wegen betreibt –
„nicht bei seinen Gedankenschätzen sucht er seinen Lohn, seinen Lohn
erwartet er von fremder Anerkennung, von Ehrenstellen, von Versorgung.
Schlägt ihm dieses fehl, wer ist unglücklicher als der Brotgelehrte?“
(IV, 751) Dem „philosophischen Kopf“ geht es darum, die Einheit der
Gegenstände wieder herzustellen: „Wo der Brotgelehrte trennt, vereinigt
der philosophische Geist. Frühe hat er sich überzeugt, daß im Gebiete
des Verstandes, wie in der Sinnenwelt, alles ineinander greife, und
sein reger Trieb nach Übereinstimmung kann sich mit Bruchstücken nicht
begnügen. Alle seine Bestrebungen sind auf Vollendung seines Wissens
gerichtet; seine edle Ungeduld kann nicht ruhen, bis alle seine
Begriffe zu einem harmonischen Ganzen sich geordnet haben …“ (IV, 752)
Klassiker zeichnen sich dadurch aus, dass die Lektüre ihrer Werke immer wieder anregend ist. Bei Schiller bestätigt sich das.
Dieter Kramer hat diesen Text für Journal-Ethnologie.de geschrieben, er kann bald unter www.journal-ethnologie.de nachgelesen werden.
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