Report | Kulturation 2011 | Ina Merkel | Laudatio für Dietrich Mühlberg zum 75. Geburtstag Eine Feier der Kulturinitiative ´89 im Berliner Salon Rohnstock ehrte ihn | ![](_bilder/_dyn/2011/Ina_Merkel_Laudatio.jpg) |
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Lieber Dietrich, liebe Anwesende,
es ist mir eine
große Freude, heute anlässlich Deines 18. Geburtstages – ja ich weiß,
der Witz hat einen Bart, dennoch handelt es sich um eine unumstößliche
Tatsache – Dir eine Rede halten zu dürfen, sogar eine Lobrede.
Vielleicht fragst Du Dich, und auch die Eine oder Andere im Raum, warum
gerade ich die Ehrenrede halte, war ich doch weder Deine Schülerin noch
jemals Deine Mitarbeiterin. Sicher, ich habe bei Dir Vorlesungen gehört
und Prüfungen abgelegt, Du warst auch Gutachter sowohl bei der
Dissertation (da hast Du mir Ableitungsmarxismus vorgeworfen und nur
cum laude gegeben), als auch bei der Habilitation. Ich habe viel von
Dir gelernt, Du hast mich stets wohlwollend gefördert und mich einmal
aus einer tiefen wissenschaftlichen Krise gerettet, aber ich war nie
Mitglied in Deinem Klub, habe nicht zum „inner circle“ der
Arbeiterforscher gehört. Ihr wart mir sogar viele Jahre lang höchst
suspekt.
Erst nach eigenen Erfahrungen mit historischem
Arbeiten, der Auseinandersetzung mit archivalischen Quellen ist mir der
Reiz des geschichtlichen Arbeitens aufgegangen. In diesem Gang von der
philosophisch-kulturtheoretisch-abstrakten Betrachtung mit ihrem
Anspruch auf Gesellschaftserklärung hin zur empirisch fundierten
Interpretation allerdings ähneln sich unsere wissenschaftlichen Wege.
Es ist diese Erfahrung, aus der heraus ich die Herangehensweise, das
historisch-kritische Denken, das Interpretieren in Ambivalenzen, das
Hin- und Herwenden einer Sache, wie es für Dein Denken charakteristisch
ist, schätzen gelernt habe. Wenn ich mich heute nicht nur geehrt,
sondern auch berufen fühle, Dir eine Rede zu halten, dann deshalb, weil
ich eine geistige Verwandtschaft fühle, die mir wichtig ist.
Als
Du am 29. Februar 1936 geboren wirst, können sich Deine Eltern nicht
für einen Namen entscheiden, daher bekommst Du drei, nämlich Dietrich,
Peter und Otto und fragst Dich fortan, mit welchem Du wohl am besten
durchs Leben schreiten solltest. Es ist das Jahr, in dem der spanische
Bürgerkrieg beginnt und in Nazi-Deutschland Olympiade inszeniert wird.
In Berlin wird eine Straße nach Dir benannt, wie Du mir einmal erzählt
hast, weil Du das erste in dieser neugebauten Straße geborene Kind
warst. Deinem Vater war diese Aufmerksamkeit gar nicht recht, er war
bekannt als politisch aktiver Linker. Es ist auch das Jahr, in dem in
New York der Chaplin-Film „Moderne Zeiten“ uraufgeführt wird, den Du
wahrscheinlich erst 20 Jahre später in Westberlin gesehen hast. Und es
ist das Jahr der Feuer-Ratte. Feuer-Ratten sind charmant, intelligent,
humorvoll, gesellig, treu, kreativ, wissbegierig, strebsam, sparsam und
heiter aber auch ungeduldig. Sie strotzen nur so vor Kraft, die sie
gerne für innovative Projekte und abenteuerliche Forschungsvorhaben
einsetzen.
Welche dieser Eigenschaften und Ereignisse haben Dein
Leben geprägt? Du bist als ein klassisches Kriegskind aufgewachsen,
also mit Elend, Angst, Not, Hunger konfrontiert gewesen, aber das hat
Dich nicht zu einem ängstlichen oder sparsamen Menschen gemacht. Als
ich mich einmal in die These verrannt hatte, dass aus Entbehrung und
Mangel ein Hang zum pragmatischen Konsum folge, hast Du mir die
Geschichte erzählt, wie Ihr Euch als Kinder 1945 nach Kriegsende Mehl,
Zucker, Butter und Kirschen vom Munde abgespart habt, um einen Kuchen
zu backen und Euch einmal richtig den Bauch voll zu stopfen. Im
Ausstellungsband „Anfänge der Arbeiterfreizeit“ von 1989 schreibst Du,
dass „die Unsicherheit der Verhältnisse wie Kargheit und Flüchtigkeit
der gelegentlichen Genüsse einen elementaren Hedonismus“ erzeugt
hätten. Er zeige sich nicht nur in ruinös-verschwenderischen
Geldausgaben (etwa für Alkohol, Luxusspeisen und modische Kleidung),
sondern auch im Durchbrechen der vorgeschriebenen Zeitordnung, im
Bummeln und Blaumachen. [1]
Die kurzen aber heftigen Genüsse
wurden später zu einem Deiner Leitthemen. Dich selbst hat der Hunger
zum Gourmet erzogen, das Elend zum Hedonisten gemacht. Deine
Großzügigkeit als Gastgeber und Deine Kochkünste sind jedenfalls
sprichwörtlich. (Übrigens sagt man den im Winter geborenen Ratten
Esslust und Feinschmeckerei nach.)
Du bist im Nachkriegs-Berlin
zur Schule gegangen, hast Abitur gemacht und studiert. Dein Jahrgang
bleibt verschont vom Armeedienst (Du hast wohl nur so eine Art
sechswöchiger Grundausbildung absolviert), so bist Du im Alter von 23
Jahren mit dem Studium fertig: Philosophie, Ästhetik, Germanistik und
Kunstgeschichte, und gehst als wissenschaftlicher Assistent nach
Greifswald, wo Rudolf Bahro, mit dem Du zusammen studiert hattest, die
Universitätszeitung leitete. Wie viel Begeisterung und Idealismus für
die sozialistische Sache stecken da noch in Euch?
Mit Mitte 20
wirst Du für zwei Jahre nach Sofia delegiert. Du hättest bei einem
Ausflug ans Schwarze Meer meinen Eltern begegnen können, die zum ersten
Mal in ihrem Leben im Ausland Urlaub machten, wovon sie noch Jahrzehnte
schwärmten, aber ich weiß nicht, ob Bulgarien auch das Land Deiner
Träume war.
Mit 27 Jahren kehrst Du als Doktorand an die
Humboldt-Universität zurück, fünf Jahre später promovierst Du über
„Dialektischen Determinismus im historischen Kulturprozess. Versuch zu
den philosophischen Grundlagen der Kulturauffassung der sozialistischen
Gesellschaft“. Da bist Du schon seit drei Jahren Leiter der Abteilung
Kulturtheorie am Institut für Ästhetik. Eine rasante Karriere, nicht
nur nach heutigen Zeitmaßstäben. Als knapp Dreißigjähriger hast Du
einen neuen Studiengang nicht nur mit aufgebaut, sondern regelrecht
erfunden. Du hast gelehrt und zugleich an der Habilitation über „Die
Herausbildung einer wissenschaftlichen Kulturauffassung der
Arbeiterklasse. Die philosophische Grundlegung durch Karl Marx und die
aktuelle Situation“ gearbeitet. Mit 38 Jahren, das ist 1974, wirst Du
Professor. Du bist das zweite Mal verheiratet und hast drei Kinder.
(Übrigens sagt man Feuer-Ratten nach, sie seien sehr gefühlsbetonte
Zeitgenossen. Sie hätten einen ausgeprägten Familiensinn und würden
ihre Kinder über alles lieben.)
Aber zurück zur
Kulturauffassung. Würde ich aufgefordert werden, die Berliner
Kulturwissenschaft, so wie ich sie Ende der 70er Jahre studiert habe,
auf einen Begriff zu bringen, so wäre es der einer weiten Auffassung
von Kultur als Lebensweise, verkündet und für wahr befunden von Kurt
Hager, Politbüromitglied und späterem Verfechter der These, man müsse
sich nicht verpflichtet fühlen, seine Wohnung zu tapezieren, nur weil
der Nachbar dies täte. Auf der 6. Tagung des ZK der SED 1972 –
unvergesslicher Prüfungsstoff – vertrat er das Konzept eines weiten
Kulturbegriffs, in dem die „Gesamtheit der Lebensbedingungen, der
materiellen und geistigen Werte, Ideen und Kenntnisse“ gefasst ist. [2]
Berliner Kulturwissenschaftler hätten das Gefühl haben können, als
würde er aus einem ihrer Studienhefte zitieren. Oder hattet Ihr selbst
Hager zugearbeitet, wart Ihr die Stichwortgeber für einen neuen
kulturpolitischen Kurs?
Und woher kam dieser neue Gedanke, der
ja beinhaltete, dass man die individuelle Subjektivität, individuelle
Aneignungsprozesse akzeptierte und ernst nahm? Auch wenn sich das mir
damals als eine originäre Idee der DDR-Kulturwissenschaft darstellte,
weiß ich doch heute, dass in Großbritannien bereits in den 50er Jahren
eine dezidierte Auseinandersetzung mit einem wertenden,
hochkulturellen, bürgerlichen Begriff von Kultur geführt worden war.
Raymond Williams hatte seine These von Kultur als umfassender
Lebensweise 1958 publiziert. War etwas von diesem Denken in der DDR
angekommen, schließlich handelte es sich um marxistische Positionen?
Oder war angesichts der populärkulturellen Entwicklungen in Europa
einfach nur die Zeit dafür reif, und es gab in Ost und West ähnliche
Überlegungen?
Mag sein, dass sich hier theoretische Konzepte
kreuzten, die Einführung des Begriffs der Lebensweise bedeutete für die
DDR-Kulturwissenschaft jedenfalls die Abkehr von der Vorstellung, die
Produktionsbedingungen würden das Leben determinieren. Dagegen habt Ihr
behauptet, die Individuen würden sich die gegebenen Verhältnisse
schöpferisch aneignen. Es ging Euch um nichts Geringeres als die
„Ausbildung ... individueller Subjektivität und Persönlichkeit“. [3]
Das je „historische Maß der individuellen Freiheit“ [4], das war für
Euch die kulturelle Frage. Und darin steckte eine gehörige Portion
Idealismus.
Wann, lieber Dietrich, ist er Dir abhanden gekommen? Oder hast Du ihn nur historisch gewendet?
1974
– es muss unmittelbar nach Abschluss der Habilitation gewesen sein –
begibst Du Dich in ein neues Forschungsfeld, Du gründest Deinen Klub,
die Forschungsgruppe Kulturgeschichte des Proletariats. Du suchst die
Zusammenarbeit mit Volkskundlern. Die Marginalisierten ganz unter sich.
Du fängst akademisch gesehen noch einmal von vorne an und landest einen
unerwarteten Treffer. Du rehabilitierst die Lebensweise einer Klasse
als Kultur, der bis dahin und noch lange danach, um mit Kuczynski zu
sprechen, nur „ein verdünnter Aufguss oder eine Simplifizierung der
Kultur der herrschenden Klassen“ zugestanden wurde. Weiter Kuczynski
1981: „Was es an Kultur unter den ausgebeuteten Werktätigen gab,
(waren) ... einige(r) Volkslieder und Gedichte, die aber wohl nicht von
Werktätigen verfasst wurden. Eine wirklich zweite Kultur, eine echte
Kultur der Werktätigen, von der Lenin so eindringlich spricht, hat erst
die Arbeiterklasse schaffen können.“ [5] Solche Sprüche müssen Dich
provoziert haben. Das ging gegen Deine Vorfahren, von denen Du
Geschichten kanntest und Bilder hattest, die etwas anderes erzählten.
Eines dieser Bilder hängt in Deiner Wohnung, Du hast es oft
veröffentlicht: Dein Großvater mit grandiosem Schnauzer am Stehtisch
mit der Molle in der Hand.
So habe ich Dich kennen gelernt.
Nicht mit dem Bier in der Hand, das nun nicht gerade, jedenfalls nicht
gleich, aber so in sich ruhend, selbstgewiss, locker. Als ich 1978 in
Berlin mit dem Studium begann, hast Du auf mich einen sehr entspannten
Eindruck gemacht, skeptisch, manchmal zynisch, selbstironisch,
unprätentiös, ohne jeden Eifer, irgend eine Art von Wahrheit zu
verkünden. Da hattest Du Dich bereits von den Höhen der Kulturtheorie,
dem „Ableitungsmarxismus“, verabschiedet und in die Niederungen der
Empirie begeben. Du hattest Dir ein marginalisiertes Forschungsfeld
gewählt: Die Lebensweise des Proletariats um 1900, das wenig
Anerkennung versprach und politisch heikel war. Du hattest begonnen,
nach den absichtlich verschütteten sozialdemokratischen Denktraditionen
zu fahnden, Du wolltest dem Proletariat eine eigene Kultur zusprechen
und ihre Lebensweise als selbstbestimmte und eigenwillige Form der
Aneignung gegebener Verhältnisse interpretieren – war das
größenwahnsinnig oder einfach nur intellektuelle Lust, wider den
Stachel zu löcken?
Ich habe das damals nicht verstanden. Für
mich war die Vorstellung, sich mit Geschichte zu befassen, seinerzeit
eine grausige. Geschichtsschreibung in der DDR, auch noch über
Arbeiter, das war mir zu eng mit herrschender Ideologie verkoppelt.
Alles schien klar und längst tausendfach gesagt zu sein, die
Deutungsmuster waren festgelegt, alle Geschichte wurde als die
Geschichte von Klassenkämpfen aufgefasst – in diesem Konzept schien mir
für Widersprüche und Ambivalenzen kein Platz zu sein. Aber genau das
war Dein Ansatzpunkt: Das kann doch nicht schon alles gewesen sein: die
ärmste Klasse, die revolutionärste Klasse, die führende Klasse – immer
nur Elend und Klassenkampf und keine Kultur, nirgends. Die
Erbe-Diskussion der 70er Jahre, in der vor allem geistige und
künstlerische Hinterlassenschaften betrachtet und für die
sozialistische Kultur „aufgehoben“ wurden, ging am proletarischen Erbe
fast vollständig vorbei. Es übersah, dass die großstädtischen Arbeiter
eine neue Lebensweise kreiert hatten. Die Suche nach diesem historisch
Neuartigen bestimmt in den nächsten Jahren Deine Forschungsarbeit. Mit
Marx erkennst Du als Elemente der neuen proletarischen Lebensweise das
an, was von anderen denunziert und abgewertet wird: „universelle
Bedürftigkeit, allgemeine Arbeitsamkeit und wissenschaftliche Denkweise
(das neue industrielle Produktionsdenken eingeschlossen)“ und mit Lenin
„die Klasse, die sich die gesamte städtische, industrielle,
großkapitalistische Kultur zu eigen gemacht hat“ und „proletarische
‚Tugenden’ wie Fleiß, Ordnung, Leistungsstreben, Wettbewerbsverhalten,
Qualitätsarbeit, sparsamer Umgang mit Arbeitszeit, Energie und
Material“ ausgebildet hat. Was den revolutionären Führern der
Arbeiterklasse verdächtig erschien und als systemstabilisierendes
Verhalten geächtet wurde – auch die „unbegründete Reserviertheit
gegenüber den Freizeitbeschäftigungen der Arbeiter, die rigorose
Verurteilung jeder Nutzung der Angebote des kapitalistischen Marktes
und Staates für Erholung, Entspannung, Unterhaltung, Geselligkeit“,
adelst Du nun als kulturelle Errungenschaft. [6] Später wird Alf Lüdtke
dafür den Begriff „Eigensinn“ prägen.
Von heute aus gesehen
macht es den Eindruck, als habest Du absichtlich ein Thema abseits der
großen Sprüche und Meriten gewählt, war Dir das damals auch schon klar,
wohin das führen würde? Wusstest Du, dass Du damit provozieren würdest,
wenn Du Bebel und Kautsky, den alten Liebknecht und Weitling ausgräbst,
wenn Du dem Arbeiter in die Trinkhallen und Vergnügungsetablissements
folgst? Oder hatte Dich einfach nur das historische Material gepackt
und ließ Dich nicht mehr los? Ich könnte es Dir nachfühlen. Der Gang in
die Geschichte ist kaum dazu gut, gültige Antworten zu finden, er wirft
nur immer neue Fragen auf. Das wurde Dein Lehrprinzip, so wie ich es
erlebt habe, keine Antworten mehr, statt dessen Fragen, Skepsis und
immer neue Denkfäden und Interpretationsangebote.
Eine Deiner
Forschungsthese lautet 1978: „Die proletarische Kultur ist als
Lebensweise... nicht nur ‚Gegenkultur’ zur bürgerlichen Kultur, sondern
in den höheren Entwicklungsphasen auch alternatives soziales Programm
einer nachkapitalistischen Nationalkultur und somit die kulturelle
Voraussetzung der sozialistischen Gesellschaft und ihrer Kultur.“ [7]
Diese These war vielleicht nicht leicht zu verstehen, aber sie passte
ganz gut ins politische Selbstverständnis des Arbeiter- und
Bauernstaates DDR. Viel heftiger dürfte gewesen sein, dass Du auf dem
gleichen Kolloquium verkündest: „Wir sehen im sozialdemokratischen
Selbstverständnis der Arbeiterbewegung als Kulturbewegung eine wichtige
ideologische Tradition sozialistischer Kultur in der DDR.“ [8] Schon
klar, es ging um die Zeit vor 1914. Dennoch dürfte das als klare Ansage
verstanden worden sein. Wieso haben die das eigentlich geschluckt?
Und
dann gehst Du noch einen Schritt weiter und wirfst den Vordenkern der
Partei (aus dem ZK, der Gewi-Akademie) vor, sie könnten auch die
moderne Lebensweise Werktätiger im Sozialismus nicht verstehen, wenn
sie schon die Lebensweise der Proletarier nicht verstünden und meinten,
„der Entfremdung in der sinnentleerten Arbeit entspreche in der
Freizeit ein ‚Rückzug ins Private’; das Leistungsprinzip erziehe
‚Konsumidioten’, die die geistigen Werte gering schätzten; ... die
Arbeiter (verfielen) nun der neuen industriellen Massenkultur; sie
seien nicht auf der Höhe der Bildung ihrer Zeit und ohne jeden
Kunstsinn, statt dessen nähmen sie mancherlei Kitsch an, ließen sich
mit Surrogaten abspeisen usw.“ [9] Irgendwie klingt dieser Aufsatz von
1981, den Du zusammen mit Isolde Dietrich verfasst hast, ungeduldig,
fast wütend. Der Kampf für die Anerkennung des Vergnügens und der
Genüsse ist zu Deiner Mission geworden.
Du hast mit dieser Wende
zum empirischen Arbeiten auch, wie ich erst viel später begriffen habe,
das Lustprinzip, nach dem Du selbst gelebt hast, historisch gewendet.
Du hast Dich gefragt, ob bei dem ganzen Arbeiten und Kämpfen nicht auch
ein kleines bisschen Spaß dabei gewesen war und ob es diesen Spaß nicht
wert war. Du hast die moralinsaure Aufregung über Kinovergnügen,
Schund- und Schmutzliteratur, die Kneipe gar nicht verstanden, weil Du
selbst gern ins Kino gegangen bist und selbst gern ein Bier getrunken
hast. Du hast Dir eine andere Perspektive, einen anderen Blick erlaubt:
auf die Lebensweise, den Alltag, das ganz normale Leben – vielleicht
nicht jenseits von Klassenkämpfen, aber doch nicht immer und jederzeit
politisch, klassenkämpferisch, parteilich. Die Quellen waren gewiss
amüsant und aufschlussreich. Sie erzählten etwas über
Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse, über Vergnügen,
Massenmedien, Konsum, über Kleinbürgerlichkeit, Religiosität, Laster
und Verfehlungen, über patriarchale Familienverhältnisse, Sexismus,
Konservativität. Es ging Dir um die Legitimierung der neuen Genüsse von
Arbeitern (Kino, Detektivromane, Alkohol) als die „von intensiv und
hart arbeitenden Menschen..., die nur über Freizeit, nicht aber über
die Muße ehemals herrschender Klassen verfügten“. [10]
Mitte der
80er Jahre erscheinen Schlag auf Schlag die Ergebnisse jahrelangen
Arbeitens. In „Woher wir wissen, was Kultur ist“ von 1983 erlaubst Du
Dir mehrere Kapitel über „wissenschaftliche Kulturauffassung in der
deutschen Arbeiterbewegung“, 1985 erscheint als Gemeinschaftsproduktion
„Arbeiterleben um 1900“ und 1986 „Proletariat. Kultur und Lebensweise
im 19. Jahrhundert“, zwei quellengesättigte Darstellungen der
Lebensweise großstädtischer unterbürgerlicher Schichten. Dem
Proletariat wird eine eigene Kultur zuerkannt – mit eigener Lebensweise
und eigenen Kulturvorstellungen, nicht als „niedere Kultur, sondern
eine andere, eine Kultur industrieller Leistung und des Widerstandes,
wirkungsvoller Genüsse und der Bekämpfung des Mangels, persönlich
unabhängigen Lebens unter Massen und der Organisation durch
Solidarität.“ [11]
Während der erste Band den Fokus auf die
deutsche Geschichte legt, zeichnet sich der zweite durch einen
gesamteuropäischen Zugang aus. Die europäische Perspektive war für mich
damals besonders erhellend, wurde darin doch irgendwie klar, dass wir
in Ost und West eine gemeinsame Geschichte miteinander teilten. Darüber
muss es mit Dir eine politische Auseinandersetzung gegeben haben, von
der ich nur aus Andeutungen und Halbsätzen etwas weiß. Anlass war wohl
ein gemeinsam mit Helmut Hanke verfasstes Forschungskonzept – heute
würde man sagen Strategiepapier – „zu europäischen Trends kultureller
Entwicklung“. [12] Davon wüsste ich gern mehr, wie überhaupt die Art
und Weise der Verbindung von Wissenschaft und Politik, Forschungs- und
Parteiarbeit der Aufarbeitung harrt. Weißt Du noch, wie Du einmal vor
versammelter Mannschaft – Lehrende und Studierende waren in einer
Abteilungsparteiorganisation – Jürgen Kuttner angebrüllt hast? Und er
brüllte immer wieder zurück, bis er schließlich Türen knallend den
Vorlesungsraum verließ. Oder dass es Redeabsprachen gab, wenn ein
Mitglied höherer Parteiorgane zu Gast war? Wie war das miteinander
verwoben, das Hochschullehrerdasein und das Genosse-Sein?
Zur
750-Jahrfeier Berlins 1987 wird maßgeblich auf Deine Initiative hin das
Arbeitermuseum in der Husemann-Straße eröffnet. Die ebenfalls dort
gezeigte Sonderausstellung „Anfänge der Arbeiterfreizeit“ wandert 1989
noch vor der Wende nach Westberlin. Du willst das Museum „als Werkstatt
zum Nachdenken und ideellen Projektieren“ verstanden wissen. „Zugleich
wäre da auf vergnügliche Weise das Selbstverständliche infrage zu
stellen, das Vorurteil sachte zu erschüttern und Mut zu machen, die
eigenen kulturellen Klischees zu belächeln“, sagst Du im Juni1989 auf
einer Tagung zur Arbeiterkulturforschung in Westberlin. [13]
Als
ich, um mich auf diese Laudatio vorzubereiten, in Marburg nach
Schriften von Dir suchte, war ich erstaunt, dass sich die wichtigen
Bücher und die MKF fast vollständig in unserer Bibliothek befanden.
Wahrscheinlich war Dieter Kramer, der in MR studiert hat, nicht
unwesentlich an der Anschaffung beteiligt. Dein Name hatte in Marburg
einen guten Klang. Ihr habt das Interesse an der
Arbeiterkulturforschung geteilt, das sich in den 70er Jahren in Ost und
West gleichzeitig herauszubilden begann. Ihr kanntet Euch von Tagungen
in Tübingen, von Ausstellungen in Berlin. Warum erlebte dieses
Interesse gerade in den 70er Jahren so einen Aufschwung? Hatte es etwas
mit der Auflösung der alten arbeiterlichen Lebensstrukturen zu tun?
Dass es Arbeiter im alten proletarischen Sinne nicht mehr gab, dass sie
eine aussterbende Art geworden waren, gewissermaßen reif für das
Museum? Dass nur noch Mythen im Umlauf waren, Heroisierungen, Tabus
aber kein wirkliches Wissen? Wenn man sich Deine Beschäftigung mit dem
Ossi ansieht, könnte der Verdacht entstehen, dass darin vielleicht eine
Traditionslinie verborgen ist. Dietrich, hast Du es mit den
aussterbenden Arten? Oder geht es dabei um etwas ganz anderes, um den
Kampf gegen kulturelle Abwertung, um die Ungerechtigkeit des Vergessens?
Als
1989 die Wende kommt, bist Du 53 Jahre alt, so alt wie ich heute. Du
hast sie ohne Zögern willkommen geheißen, wenngleich nicht ohne
gesundes Misstrauen. Ich erinnere, wie Du mich knallhart aus meiner
Euphorie gerissen hast mit der Bemerkung, am 4.11. hätten nicht die
Arbeiter demonstriert, sondern die Angestellten, wobei Du Dich und mich
großzügig da mit eingerechnet hast. Du hast Dich auch nicht der
intellektuellen Beschimpfung angeschlossen, die Mehrheit der
DDR-Bevölkerung habe „nach dem Bauch“ für die D-Mark optiert, sondern
Verständnis eingefordert: „Trotz der (für viele schon damals
absehbaren) unvermeidbaren Einbußen an sozialer Sicherheit sahen sie
darin für sich mehr Freiheit, mehr Handlungsspielraum, mehr
Herausforderung, mehr Möglichkeiten, sich als Individuen zu betätigen
und bestätigt zu fühlen.“ [14] Du hast die Kulturinitiative `89
gegründet, den lange vorher geplanten Verein der
KulturwissenschaftlerInnen, und Du hast zu meinem Bedauern Deine
Kulturgeschichte moderner Geschlechterverhältnisse, an der Du gemeinsam
mit Annette Mühlberg gearbeitet hast, erst beiseite gelegt und
schließlich aufgegeben. Es gebe kein Interesse daran auf dem westlichen
Buchmarkt, hast Du gemeint. Schon 1987 hattet Ihr die Arbeitsgruppe
Kulturgeschichte des Proletariats aufgelöst, Du führst diese Arbeit
1989 nicht weiter, warum eigentlich nicht?
Die Abwicklung an der
Universität verlief radikal, schmerzhaft und demütigend, aber
existentiell gesehen – im Vergleich zur Leipziger Kulturwissenschaft –
verteilt über mehrere Jahre einigermaßen glimpflich. Du hast Dich
geweigert, Deine eigenen Leute abzuwickeln, und bist nicht in eine der
neu gegründeten Berufungskommissionen gegangen. Und Du hast uns
teilhaben lassen an Deinen Westkontakten, hast nicht darauf gesessen
wie eine Glucke und die Eier für Dich allein ausgebrütet. Du hast mir
Wege in die westdeutsche Wissenschaftslandschaft gezeigt, hast mich
unterstützt, wo Du nur konntest, obwohl ich gar nicht zu Deinem Laden
gehört habe – Dietrich, das werde ich Dir nie vergessen.
Mit
der Dir eigenen ironischen Distanz hast Du das Tun Deiner neuen
Kollegen aus dem Westen beobachtet, die Dich ignoriert, aber irgendwie
auch haben machen lassen. Ich habe 1989 dieses unglaubliche Gefühl
intellektueller Befreiung erlebt, nicht nur sagen zu können, was man
denkt, sondern denken zu können, ohne politische Rücksichten nehmen zu
müssen. Hat es auch für Dich mehr intellektuelle Freiheit bedeutet als
vorher? Hast Du Dich 1991 in Deinem großartigen Aufsatz über die
kulturellen Ursachen des Scheiterns des Staatssozialismus in der DDR
frei geschrieben oder nur endlich zu Papier gebracht, was Du vorher
schon wusstest, z.B. dass „der von Marx prognostizierte große Gewinn an
individueller Subjektivität ... ausgeblieben“ ist? [15] Deine
grundsätzliche Kritik an der „... ganze(n) kulturelle(n) Verfassung der
späteren DDR...: die verordnete Kulturbringerei, die wohlmeinende
Gängelei, mit der die Arbeiter/das Volk an ‚die Schätze’ herangeführt
wurden; die überhebliche Erziehungsmission der eingebildeten
‚Kulturträger’; die zwangsläufige Ausgrenzung Andersdenkender, ihre
Anschwärzung und Verfolgung als Agenten des ‚anderen Lagers’, also ‚des
Gegners’; die selbstverständliche Unterordnung von Wissenschaft,
Journalismus, Künsten, Bildung usw. unter ein von Autodidakten
entwickeltes Einheitskonzept; der Drang nach einer einheitlichen
Gegenkultur (der durch die Systemkonfrontation bis zur Absage an die
(wie immer verstandene) nationale kulturelle Einheit der Deutschen sich
wendete.“ [16] habe ich damals sehr genossen. Auch, dass Dich diese
grundsätzliche Kritik nicht daran hinderte festzustellen, dass dennoch
„das ideale (und sicher auch utopische) Sehnen nach einer alternativen
menschlich geprägten Sozialordnung“ bleibt. [17] Auch wenn sich das
jetzt so anhören mag, ich verstehe diese Sätze nicht als die Wiederkehr
eines früheren Idealismus, sondern als Ausdruck eines tiefen Verstehens
dessen, was die Menschen in unseren ausufernden, grenzenlosen,
konfliktreichen, ungerechten, weißen, postindustriellen Gesellschaft
umtreibt. Vielleicht ist es romantisch, aber ohne dieses Sehnen nach
einer solidarischen Welt, nach Gerechtigkeit, nach Europa, nach Welt,
nach Diskussion, Denken, Freundlichkeit kann ich mir ein Leben nicht
vorstellen. Und ich habe das Gefühl, Du kannst das auch nicht.
Seit
Anfang der 90er Jahre treibt Dich nun schon die Mission um, den
Westlern den Osten zu erklären. Du tust dies geduldig, unermüdlich,
überzeugend und klug. Ich weiß nicht, ob Dein Kampf gegen abschätzige
Betrachtungen des Ostens – als anders, abartig, fremd und verzwergt –
im Westen nachhaltig zur Kenntnis genommen wurde, aber er hat eine
große Bedeutung für uns Ostler. Deine intellektuelle Freude am
Relativieren, am Hin- und Herwenden einer These, am Umdeuten und an
überraschenden Wendungen ist ansteckend, lehrt Distanz und einen
gewissen Gleichmut gegenüber wiederkehrenden Zumutungen. Auf die Frage,
ob ostdeutsche Wissenschaftler überhaupt das Vermögen zu einer
Aufarbeitung der eigenen Geschichte haben, ob sie nicht selbst zu stark
ins staatssozialistische System eingebunden waren, hast Du schlicht
geantwortet – mag sein, dass dem so ist, sicher, man könne ihnen die
notwendige Distanz absprechen, aber man könne ihnen „nicht das
Bedürfnis nehmen, sich mit der eigenen Vergangenheit
auseinanderzusetzen“. [18] Und sicher könne man nach kulturell
Trennendem oder Unterschieden fragen, aber „Jeder von uns“, so sagst
Du, „lebt in kulturellen Mehrfachbindungen, gehört verschiedenen
Kulturen an.“ [19]
Eine Laudatio, so habe ich gelesen, soll man
mit der Frage beenden, was Dich, den hier zu ehrenden, von uns
„normalen“ Menschen unterscheidet? Tja Dietrich, alte Feuer-Ratte, was
soll ich dazu sagen? Ratten scharen große Bekannten- und Freundeskreise
um sich, sie lieben Clubs und Vereine. Sie erstrahlen in der
Gesellschaft, und es fehlt ihnen auch nie an Bewunderern. Das alles
trifft auch auf Dich in ganz genialer Weise zu. Aber eines halte ich
für besonders bemerkenswert: Die Ratte gibt niemals auf, sie hat immer
einen Plan. Und darauf freue ich mich, auf Deinen nächsten Plan.
Mächtig, gewaltig.
[1] Anfänge der Arbeiterfreizeit. Eine Ausstellung, Berlin (West) 1989, S. 63 f.
[2]
Kurt Hager zitiert in: Isolde Dietrich/Dietrich Mühlberg:
Voraussetzungen und Schwierigkeiten beim Erforschen proletarischer
Kulturauffassung, in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen
Forschung, Berlin (DDR), Heft 3/1978, S. 9.
[3] Autorenkollektiv
unter Leitung von Dietrich Mühlberg: Der Beitrag von Marx und Engels
zur wissenschaftlichen Kulturauffassung der Arbeiterklasse. Entwurf.
Manuskriptdruck Berlin (DDR) 1975, S. 10.
[4] Dietrich Mühlberg:
Zur Diskussion des Kulturbegriffs, in Wulf D. Hund/Dieter Kramer (Hg.):
Beiträge zur materialistischen Kulturtheorie, Köln 1978, S. 237-269, S.
245.
[5] Jürgen Kuczynski: Erlebnisse beim Schreiben einer
Geschichte des Alltags des deutschen Volkes seit 1600, in: Kultur und
Lebensweise, Berlin (DDR), Heft 1/1981, S. 18-23, S. 20.
[6]
Dietrich Mühlberg/Isolde Dietrich: Zu proletarischen Traditionen in der
Lebensweise der sozialistischen Gesellschaft, in: Kultur und
Lebensweise, Berlin (DDR), Heft 1/1981, S. 23-36, S. 32f.
[7]
Dietrich Mühlberg: Zu aktuellen Fragen der Kulturgeschichte der
deutschen Arbeiterklasse, in: Mitteilungen aus der
kulturwissenschaftlichen Forschung, Berlin (DDR), Heft 4/1978 S. 7-75,
S. 16.
[8] Ebd., S. 32.
[9] Dietrich Mühlberg/Isolde
Dietrich: Zu proletarischen Traditionen in der Lebensweise der
sozialistischen Gesellschaft, in: Kultur und Lebensweise, Berlin (DDR),
Heft 1/1981, S. 23-36, S. 26.
[10] Autorenkollektiv unter Leitung von Dietrich Mühlberg: Arbeiterleben um 1900, Berlin (DDR), S. 64.
[11] Dietrich Mühlberg (Hg.): Proletariat. Kultur und Lebensweise im 19. Jahrhundert, Leipzig 1986, Einband.
[12]
Dietrich Mühlberg: Die DDR als Gegenstand kulturhistorischer Forschung,
in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung, Berlin,
Heft 33/1993, S. 7-85, S. 75.
[13] Dietrich Mühlberg:
Arbeiterkulturforschung und historische Museen, in: Mitteilungen &
Materialien, Hochschule der Künste Berlin (West), Heft 31/1990, S.
9-22, S. 17.
[14] Dietrich Mühlberg: Kulturelle Ursachen für das
Scheitern des Staatssozialismus in der DDR, in: Mitteilungen aus der
kulturwissenschaftlichen Forschung, Berlin, Heft 29/1991, S. 19-35, S.
22.
[15] Ebd., S. 25.
[16] Ebd., S. 30.
[17]
Dietrich Mühlberg: Arbeiterkulturforschung und historische Museen, in:
Mitteilungen & Materialien, Hochschule der Künste, Berlin (West),
Heft 31/1990, S. 9-22, S. 10.
[18] Dietrich Mühlberg: Kulturelle
Ursachen für das Scheitern des Staatssozialismus in der DDR, in:
Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung, Berlin, Heft
29/1991, S. 19-35, S. 30.
[19] Dietrich Mühlberg: Deutschland
nach 1989: politisch geeint – kulturell getrennt? Vortrag anlässlich
der 11. Helmstedter Universitätstage am 23. September 2005,
kulturation. Online Journal für Kultur Wissenschaft und Politik,
http://www.kulturation.de/ki_1_text.php?id=29.
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