Report | Kulturation 1/2004 | Raj Kollmorgen | Russische Verkehrsverhältnisse
Beobachtungen in Sankt Petersburg
| Sankt Petersburg im Februar. Sein Verkehr überfiel mich so schlagartig wie sein nasskaltes Wetter.
Nach erster Verarbeitung von winterlichem Matsch und Dreck,
ohrenbetäubendem Lärm und überfüllten Straßen fiel mir ein scheinbar
mit Paris vergleichbares Verhältnis zwischen vorgeschriebenen
Verkehrsregeln und deren Anwendung auf. Nicht nur Parkverbotszonen und
Verkehrsführungshinweise werden in dieser Stadt gründlich missachtet,
sondern mit gleicher Konsequenz Geschwindigkeitsgrenzen und ebenso
symptomatisch: Vortrittsregeln für Fußgänger.
Was die Geschwindigkeit betrifft, kann ich mich nicht erinnern,
jemals in einer Stadt gewesen zu sein, in der auf so allgemeine und
rücksichtslose Weise gerast wurde. Nicht nur auf den großen Alleen
(russ.: Prospekty), sondern auch in den kleineren Straßen ist –
soweit es deren Zustand zulässt – eine Geschwindigkeit bis 50 km/h eher
die Ausnahme. Normal sind zwischen 60 und 80 km/h; es geht aber auch
deutlich schneller. Ich selbst habe in einem Auto gesessen, dass mit
fast 100 km/h eine innerstädtische Ringstraße an der Newa – dem
hier in den Finnischen Meerbusen mündenden Fluss – entlang sprintete,
wobei der Umstand, dass alle so schnell und schneller fuhren, mich erst
nach einigen Minuten wegen der Notwendigkeit, die jeweils bezeichneten
Sehenswürdigkeiten mit hastigen Halsbewegungen verfolgen zu müssen, auf
das Tachometer schauen ließen. Dass diese Geschwindigkeiten keineswegs
eine Ausnahme darstellen, lässt sich täglich auf dem spätabendlichen Newskij Prospekt
verfolgen. Zugegeben, oft sieht das Rasen recht elegant aus – Übung
macht eben den Meister – und sind es überwiegend „West-Schlitten“, so
dass sich die Lärmbelästigung in Grenzen hält. Indes bleibt das
Überqueren der breiten Prospekte als Fußgänger trotz dieses Trainings
ein echtes Vabanquespiel, und nicht allein der Geschwindigkeit wegen.
Mindestens ebenso wichtig ist die Ideologie des russischen Autofahrers.
Für diesen ist nämlich das schwächste Glied der Kette keineswegs zu
schonen, wie etwa in Paris oder Rom. Im Gegenteil, der Fußgänger hat
immer damit zu rechnen, Spiel- oder um es makaber auszudrücken:
Flugball des Autoverkehrs zu werden. (Das vor laufender Kamera von
Ulrich Wickert zelebrierte „blinde“ Überqueren des Pariser Place du
Concorde in der rush hour – und zwar ohne jegliche Beschädigung – gilt
daher in Petersburg als Märchen.) Ich selbst habe miterlebt, wie ein
unvorsichtiger Mann von der Mitte einer Kreuzung „gemäht“ wurde, da der
Raser den „illegal“ dort Wartenden nicht bemerken wollte oder wegen der
Geschwindigkeit – die trotz hohen Verkehrsaufkommens um die 70, 80 km/h
betragen haben muss – nicht ausweichen konnte.
Aber auch auf normalen Ampelkreuzungen jenseits der Prospekte gilt
es, Vorsicht walten zu lassen. Der gewöhnliche Autofahrer fährt an, bevor
es für ihn Grün wird. Er durchschneidet die minderbemittelte
Fußgängermeute beim Rechtsabbiegen, und wer sich dem als Autofahrer
nicht anschließt, muss mit wüsten Beschimpfungen der hinter ihm zum
Stehen Verurteilten rechnen. Dieses Verhaltensmuster gilt aber auch nach
der Grünphase. Zwar mag die Ampel für den Autofahrer bereits Gelb oder
gar Rot zeigen: wenn es für das geübte Auge gegenüber dem querenden,
wohlgemerkt: Autoverkehr noch möglich erscheint, die Kreuzung in Gänze
zu passieren oder links bzw. rechts abzubiegen, wird dies behände getan
und zwar ohne den bereits gestarteten Passanten eine größere
Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen.
Ein besonderes Phänomen stellen die Petersburger Fußgängerüberwege
dar. Auffallend ist aus Beobachterperspektive zunächst deren
Allgegenwart. Tatsächlich ist es unmöglich, mehr als hundert Schritte
zu gehen, ohne auf einen „Zebrastreifen“ und das auch aus Deutschland
bekannte Verkehrsschild zu treffen. So überraschend die Ubiquität
dieses Fußgängerschutzes ist, sie wird von der Regelmissachtung
übertroffen. Regel und symbolischer Ausdruck gelten im russischen
Großstadtverkehr für Autofahrer schlicht als nicht existent, so dass,
wer sich auf diese als Fußgänger berufen will, vorab Notar und
Bestatter aufgesucht haben sollte.
Dass dieses Recht des Stärkeren und zuerst Kommenden kein Jota
weniger für den Verkehr der Kraftfahrzeuge untereinander gilt, kann
nicht wundern. Besonders eindrücklich ist hier einerseits das Verhalten
an Kreuzungen, d.h. das Los- und Heranfahren, wobei man sich in
Beschleunigungstests und Bremsmanövern zu überbieten trachtet,
andererseits die teils höchst gefährlichen Wechsel der nicht
vorhandenen, weil nicht markierten Fahrbahnen. Es hat durchaus
Unterhaltungswert, den Verkehrsfluss auf imaginär dreispurigen Straßen
am späteren Nachmittag zu beobachten. Nicht Eingeweihten dürfte es eher
an chaotische Bewegungen beschleunigter Gasmoleküle in einer Röhre
erinnern und weniger an ein geordnetes großstädtisches Transportsystem.
Und so wie die Gasmoleküle in der Röhre zwar eine hohe
Fließgeschwindigkeit aufweisen, sich dabei aber permanent aneinander
reiben, zusammen- und abprallen, so geschieht es auch im russischen
Verkehr. Insofern kann man nur für kurze Zeit verblüfft sein, wie wenig
Unfälle angesichts der Verhältnisse zu geschehen scheinen. Ein längerer
Aufenthalt belehrt. So waren fast alle meine längeren Spaziergänge oder
Fahrten von Unfallbeobachtungen begleitet. An einem Tag wurde ich
innerhalb weniger Minuten Zeuge zweier Unfälle von Pkw bzw. Pkw und
Lkw, anderentags auf einer langen Fahrt quer durch die Stadt
registrierte ich drei, davon einen schweren mit einer Straßenbahn.
Die Missachtung „untergeordneter“ Verkehrsteilnehmer und darauf
bezogener Regeln hat seine Spuren auch im Umgang mit einem
Fortbewegungsmittel hinterlassen, das in den westeuropäischen Städten
seit den 70er Jahren – keineswegs widerstandslos – eine Renaissance
feiert: dem Fahrrad. Wenn nun bereits in westeuropäischen Großstädten
die Nutzung dieses zwittrigen Verkehrsmittels ein Gefahrenpotential in
sich birgt, so ist sie in russischen Metropolen nur todesverachtend zu
nennen. Ohne jegliche Fahrradwege und eingedenk der automobilen
Verhaltensmaxime, Radfahrer nur als Konkurrenten um Platz und
schnellstmögliche Zielerreichung zu identifizieren, bedarf die Nutzung
eines Drahtesels höchster Risikofreude oder ausgeprägter
Risikoblindheit. Da beides auch in Russland wenig verbreitet ist,
lassen sich auf Petersburger Straßen tatsächlich kaum Fahrradfahrer
beobachten; und bei den wenigen Ausnahmen handelt es sich vor allem um
Jugendliche oder Ausländer, die das System noch nicht begriffen haben
oder es nicht begreifen wollen. Der russische Autofahrer belächelt aber
diese Devianz nur müde: Wer nicht hören will, muss fühlen.
Nicht zuletzt das Schicksal der Radfahrer verweist auf einen
beeindruckenden Umstand in diesem Spiel. Die Schwächeren des Systems
begehren nicht oder bestenfalls ausnahmsweise auf. Männer, Frauen und
Kinder als Passanten fügen sich in ihr unvermeidlich scheinendes
Schicksal und lassen den Stärkeren den Vortritt. Ich habe mir mehr als
einmal zu Beginn meines Besuchs die Augen reiben müssen, als ich sah,
wie Fußgänger bei für sie grüner Ampel rechtsabbiegenden Automobilen
Platz machten, sie passieren ließen oder beschleunigten, um deren
ungehinderte „Durchfahrt“ zu erlauben. Aber wirklich atemberaubend war,
daß die Passanten ihr stoisches Verhalten auch dann noch zeigten, wenn
dieses Arrangement – im Vollsinne des Wortes – nicht reibungslos
funktionierte und sie unsanft aus dem Weg geräumt wurden. Offenbar sind
in der russischen Verkehrsordnung die absolutistisch-autoritäre
Herrschaftstradition und die normative Formierungskraft des faktischen
Konkurrenzkampfes eine unheimliche Symbiose eingegangen: das „survival of the fittest“ gilt auf russischen Straßen als legitim.
Weitere interessante und wenn man so will: unmittelbar
gesellschaftspolitische Phänomene stellen Straßenbau und öffentlicher
Nahverkehr dar. Die meisten Straßen befinden sich in einem erbärmlichen
Zustand: Risse, Löcher, abgesunkene Fahrbahnteile sind allgegenwärtig,
auch wenn eine Reihe der Hauptverkehrsstraßen, nicht zuletzt vor dem
Hintergrund der 300-Jahrfeier Sankt Petersburgs (2003), repariert bzw.
auf längeren Teilstücken komplett erneuert wurden. Drei Erscheinungen
sind besonders auffällig: Erstens und wie schon angesprochen die
fehlenden Fahrbahnmarkierungen, was eben auch für neue Straßen gilt.
Zwar wurde mir versichert, das sei „schon immer so gewesen“. Indes
bleibt mir der tiefere Grund jenseits einer Kostenersparnis
verschlossen. Ich sehe hier nur Gefahren und die Lust am freien
Aushandeln optimaler Wege. Zweitens ist es eine Eigenheit russischer
Fahrbahnerneuerungen, dass das streckenweise Aufbringen neuer Beläge
keineswegs notwendig das Bemühen einschließt, die dadurch auftretenden
Niveauunterschiede in irgendeiner Weise durch eine Schräge
auszugleichen; vielmehr „trifft“ der Autofahrer auf zehn bis fünfzehn
Zentimeter hohe Absätze, deren Existenz durch keinerlei Hinweis
angekündigt wird – und vermutlich schon manchem die Achse gekostet hat.
Aber „Erneuerung“ muss nicht zwingend das Auf- und Abtragen neuen
Straßenbelags, sondern kann auch nur „Abtragen“ bedeuten. Die Existenz
von Petersburger Bordsteinen mit Höhen zwischen 20 und zuweilen 35 cm
bliebe sonst kaum erklärbar. Aber egal wie es zu diesen gigantischen
Bordsteinhöhen kommt: wer nicht einen Geländewagen sein eigen nennen
kann, hat nach wenigen Wochen mit Sicherheit eine kaputte oder fehlende
Frontschürze, da wegen der enormen Breite der großen Alleen überwiegend
quer zur Straßenführung geparkt wird. Die einzige Möglichkeit, dies zu
vermeiden, besteht darin, höchst hartnäckig den Pkw ein gutes Stück vor
dem Bordstein zum Stehen zu bringen, damit indes vor allem bei den
langen Kutschen (wozu auch die einheimischen Wolga zählen) die
Fahrbahnen deutlich zu verkleinern und obendrein eigene Heckschäden in
Kauf zu nehmen. Drittens jedoch erscheinen jene Idiosynkrasien des
Straßenbaus nur solange unverständlich, solange nicht bedacht wird,
dass gleichartige Überraschungen und Fahrzeugbeschädigungen jederzeit
durch alte Straßen, ihre Risse, Spalten und klaftertiefen Löcher,
speziell um die Straßenbahnschienen herum, möglich sind. Insofern
reproduzieren noch die Instandhaltungsarbeiten den allgemeinen Zustand,
bestätigen die Normalität und: halten sie damit akzeptanzfähig – auch
das eine russische Eigenheit. Immerhin ist zuzugestehen, dass der
nordeuropäische und dazu in Petersburg sehr wetterwendische Winter
jeden Straßenbaumeister schier zur Verzweiflung treiben kann: An jedem
gerade geschlossenen Loch nagt unbarmherzig die Kombination von Eis,
Salzwasser und Temperatursprüngen.
Die Straßenbahnschienen weisen den Weg zum öffentlichen Nahverkehr. Zweifellos besitzt diese Millionenmetropole an sich
ein vielfältiges und dichtes Nahverkehrssystem, das es einem erlaubt,
praktisch jede Ecke der Stadt auch ohne eigenes Auto zügig zu
erreichen. Leider fehlt dem An-sich ein Für-sich und Für-uns, so dass nicht nur einzelne Elemente „leiden“, sondern das Gesamtsystem zunehmend seine Funktionalität einzubüßen droht.
Am ehesten erhalten ist die Metro, die Petersburger U-Bahn,
mit ihrem verzweigten Ringnetz und den überwiegend aus den 30er Jahren
stammenden, mit reichlich Zuckerbäcker-Stuck und sowjetsozialistischer
Ornamentik gestalteten und bis zu 35 Meter tief liegenden Bahnhöfen.
Bereits hier stößt man allerdings auf drei gegenüber der westlichen
Moderne ins Auge springende Merkwürdigkeiten, die für den ganzen
Nahverkehr gelten: Zeit als wenig knappe und kaum getaktete Ressource,
billigste Tarife bei hohem Personalaufwand und eine gewisse Lockerheit
hinsichtlich Fahrtüchtigkeit, Qualität und Komfort. Konkret bedeutet
das: Die Züge fahren je nach Tageszeit in bestimmten, meist kurzen,
zwei- bis fünfminütigen, aber keineswegs wirklich fixen Intervallen.
Die Benutzung kostet zurzeit sechs Rubel, d.h. etwa zwanzig Cent, und
noch die Rolltreppen werden von Aufpassern kontrolliert. Aber, und
damit zu Punkt drei: viele der Rolltreppen funktionieren auch nicht,
die Bahnhöfe sind zwar sauber, bedürfen aber der Renovierung. Die Züge
selbst werden teils schon Jahrzehnte auf dem Buckel haben und leiden an
Alterskrankheiten.
Was freilich bei der Metro noch „läuft“, ist bei den anderen
öffentlichen Verkehrsmitteln bereits Stillstand, bestenfalls Siechen:
Die teils strom-, teils dieselgetriebenen Busse kommen (nicht), wann
sie wollen – ein Fahrplan existiert nur als festgelegte
Streckenführung. Es sind jedenfalls in den Stoßzeiten immer zu wenig
Busse, wie sowohl die Menschentrauben vor den Türen als auch das
ausgebaute System privat betriebener Sammeltaxen beweisen. Die Fahrt
mit dem Trolleybus kostet gar nur fünf Rubel, wobei dieser Obolus an
einen sich durch die Massen schiebenden Schaffner zu entrichten ist,
was – sofern es sich um dickleibige Personen handelt – zwar für
zusätzliche Unruhe und Platzprobleme, oft aber auch für Unterhaltung
sorgt. Unterkapazitäten, Unruhe und das alltägliche Verdichten der
„Nahverkehrenden“ durch heftiges Schieben der Einsteigenden nehmen die
Russen freilich ganz locker, ebenso den jämmerlichen technischen
Zustand, in dem sich sehr viele Busse befinden: Wenn sie denn überhaupt
fahren, dröhnt, brummt, stinkt und klappert es; die Türen klemmen und
es zieht an allen Ecken und Enden – im Winter mehr als eine Petitesse.
Die Straßenbahnen fügen sich in diese Beschreibung nahtlos ein und
bedürfen bis auf die Bemerkung, dass sie in manchen Gegenden aufgrund
aufragender und abschüssiger Schienenstränge Bergseilbahnen gleichen,
keiner gesonderten Behandlung. Zwar werden jedem Kenner
realsozialistischer Verhältnisse diese Beschreibungen des öffentlichen
Nahverkehrs in ihren Grundzügen eine bekannte Melodie vorspielen: Es
war in allen sozialistischen Großstädten das gleiche – nur die
Hauptstädte waren ein bisschen gleicher. Jedoch bestehen zwei
gravierende Unterschiede zwischen Real- und Postsozialismus: Was damals
infolge von Mangelwirtschaft, Planbürokratie und volkseigentümlichen
Schlendrians mehr schlecht als recht, aber immerhin überhaupt
funktionierte, bewegt sich heute wegen der Not der öffentlichen
Haushalte ständig am Rande eines Zusammenbruchs. Allerdings gab es
früher nur bescheidene Ergänzungen bzw. Ersatz durch Schwarztaxis und
Privatverkehr. Heute hingegen floriert nicht allein das (unter
reichlichem Korruptionseinsatz oligopol geschlossene und somit wirklich
profitabel arbeitende) System unternehmerischer Sammeltaxen – für zehn
Rubel mit Kleinbussen auf festen Strecken mit individuellem Ein- und
Ausstieg. Auch die Zahl der privaten Pkw hat sich seit
staatsozialistischen Zeiten vervielfacht. So sehr ich den Petersburgern
diese Freiheit und den Autobesitz gönne: Aufgrund des annähernd gleich
gebliebenen Fahrbahnplatzes, der mangelhaften Infrastruktur und nicht
zuletzt wegen der im Regelfall noch nicht in der westlichen Moderne
angekommenen Abgaswerte verstopfen und verdrecken die hunderttausenden
von Autos Tag für Tag auf fürchterliche Weise die malerische Stadt an
der Ostsee.
Sich dieser gegenüber realsozialistischen Zeiten gewandelten
Situation zu vergewissern, bedeutet nicht zuletzt einem Phänomen
nachzugehen, das zunächst fallende Kinnladen provoziert. Ich selbst
kenne keine Stadt, in der so viele Luxuskarossen sichtbar sind wie in
Petersburg. Natürlich sind es gerade die großen Prospekte der
Innenstadt, auf denen sich – bewegt und geparkt – ein Luxusschlitten an
den anderen reiht. Da drängen sich vor allem die Mercedesse der alten
und neuen S-Klasse und eingedenk der beschriebenen Straßenverhältnisse
nicht wenige des neuen Off-Roader-Modells (M-Klasse?), die 7er BMW und
auch hier das neue Luxus-Gelände-Modell, die großen Audi und Volvo,
aber auch amerikanische Marken. Blickt man hundert Meter voraus,
überschaut man links und rechts mühelos Blech, Leder und Gummi im Wert
von mehreren Millionen Euro. In dieser Massierung habe ich das selbst
in Frankfurt (am Main versteht sich) und – die Bad Homburger mögen mir
verzeihen – seinen Vororten nicht entdecken können. (Die größere
Sichtbarkeit in Rußland verdankt sich wohl auch einem weiteren Mangel:
dem an überdachten Park- und Garagenplätzen, gerade in der Innenstadt.)
Aber das Frappierende sind nicht nur diese Berge stahlgewordenen
westlichen Reichtums, die vor fünfzehn Jahren gänzlich unbekannt waren
und von einer Klasse superreicher Bisnessmen künden. Auch deren Rahmung von den Resten staatssozialistischer Autobaukunst, wie sie sich vor allem in den Wolgas und Ladas
älterer und neuerer Modellreihen mit ihren Abgas- und Lärmpegeln
präsentiert, und die – jenseits der Prachtstraßen – allgegenwärtige
öffentliche und private Armut lassen in doppelter Hinsicht schwer
atmen. Dennoch, so einmalig dies zunächst scheinen mag, all diese
Phänomene verdichten sich zu einem typischen Panorama von Metropolen
der sog. „Dritten Welt“. Ein Panorama, das im Kleinen nicht nur die
russische Gesellschaftsstruktur, sondern auch die des Weltsystems
wiederholt: reicher Kern – arme Peripherie, superreiche Oberschicht –
arme und ärmste Unterschicht. Wer Petersburg aus seinen Leningrader
Tagen der 70er Jahre kennt, weiß: vieles vom Verfall ist direkte
Erbschaft oder mindestens Folge des sozialistischen Experiments. Eine
solche Schere zwischen Arm und Reich hat es damals aber nicht gegeben.
Bild und Problemlagen des „neuen Südens“, zu dem, wie A.
Przeworski bereits 1991 formulierte, der Osten wurde, bleiben auch bei
zwei Anschlussphänomenen präsent: beim Verbrechen und dem Schutz vor
ihm.
Es liegt auf der Hand: Wo der Reichtum ostentativ der Armut gezeigt
wird und die Ursachen beider nur begrenzt legitimiert erscheinen, ist
das Verbrechen nicht weit. Die Geschichten über geklaute Westwagen sind
daher Legion, wobei nicht wenige der gestohlenen Luxuskarossen beim
Klau bereits das zweite Mal illegal den Besitzer wechseln. In den
letzten Jahren haben sich indes die Warnanlagen und Sicherheitssysteme
derart verbessert, dass sich die Anzahl dieser Delikte drastisch
verminderte. Mehr noch, mit den billigeren Alarmanlagen werden seit
einigen Jahren auch die einheimischen Mittelklassewagen ausgestattet
bzw. nachgerüstet, an denen sich die Banden im Übergang zum Teil
schadlos zu halten versuchten. So nachvollziehbar diese Aufrüstungen
waren und sind, sie resultieren in einem schier unablässigen Sirenen,
Piepen, Mauzen und Hupen jedweder Tonhöhe und Lautstärke, da die
stolzen Besitzer ihre Anlagen oft und dabei immer mit Kontrolltönen
ein- und ausschalten. Zusammen mit dem ehedem vorhandenen Spaß am Hupen
ergibt sich so ein exotischer und betäubender Klangteppich auf den
Straßen, der für Fremde in der Tat gewöhnungsbedürftig ist, den
Petersburgern indes – wie Nachfragen ergaben – kaum in den Ohren hallt;
der Mensch auch hier ein Gewohnheitstier.
Der Schutz besitzt aber noch ein zweites, personales Gesicht in Gestalt der Miliz,
der russischen Polizei. Diese ist vor allem in den inneren Bezirken mit
Patrouillen und Fahrzeugkontrollen sichtbar. Bei letzteren fällt dem
Beobachter recht schnell zweierlei auf. Zum einen kontrollieren oft
genug einzelne Milizionäre, zum anderen sind es weit mehr die Klein-
und Mittelklassewagen, die angehalten und überprüft werden, kaum aber
die Luxusschlitten. Die Erklärung, die mir dafür schlüssig erteilt
wurde, lautet, dass eben die einfachen Polizisten mit ihren
jämmerlichen Gehältern ein Zubrot benötigen wie jeder sonst auch.
Legale und „schwarze“ Nebentätigkeit bzw. Doppelarbeit sind im heutigen
Russland für viele überlebensnotwendig. Dazu ist die gewissermaßen
amtliche Wegelagerei ein probates Mittel, bei dem unter Androhung
schärferer Kontrollen oder grundloser Bußgelder ein Nebenverdienst in
Höhe von zum Teil einigen hundert Rubeln erzielt wird. Logischerweise
ist diese „Erwerbstätigkeit“ bei höher gestellten Personen mit
Offizial- oder informeller Immunität, etwa in Gestalt eigener
Schutzdienste, ein ausgesprochenes Risiko und wird daher gemieden.
Lässt man die bisherigen Beobachtungen des Petersburger
Verkehrs Revue passieren, wird sein facettenreicher gesellschaftlicher
Charakter offenbar. Dabei muss man nicht mit Hegel und Marx
unterstellen, dass in einer Gesellschaft noch jedes Element in das
„Licht“ der gesellschaftlichen Wesensbestimmtheit „getaucht“
ist und von dort aus eine „Totalität“ sich stützender Momente geformt
wird. Es reicht hin anzunehmen und der russische Fall plausibilisiert
es anschaulich, dass der Straßenverkehr sich in die (auch ein Begriff
von Marx:) „gesellschaftlichen Verkehrsverhältnisse überhaupt“
eingebettet findet. Der Straßenverkehr ist in vielfältiger Weise von
gesellschaftlichen Formbestimmtheiten in Wirtschaft, Politik, Recht
usw. abhängig, spiegelt und betätigt diese, fungiert aber auch als
stützendes Moment, so wie die Individuen ihren sozialen Identitäten,
Persönlichkeiten und Handlungsorientierungen auf der Straße verhaftet
bleiben, sie aber zugleich eben hier auch ausleben und ausprägen.
Dass der Straßenverkehr in herausragender Weise Ausdruck
allgemeiner gesellschaftlicher Verhältnisse zu sein vermag, liegt an
seinem besonderen Kommunikationscharakter, d.h. seiner Öffentlichkeit,
der Interaktionsdichte, der unmittelbaren Erfahrbarkeit des
Gesellschaftlichen, und zwar in seiner individuell-zufälligen wie
systemischen, in seiner materialen wie seiner symbolischen Form,
schließlich an den Versuchen einer legitimen Ordnungssetzung und der
Steuerung des Verkehrs. All das, was Sozialwissenschaftler gemeinhin
mit differenzierter Gesellschaftlichkeit und ihren Problemlagen
verbinden, findet sich im Straßenverkehr wie in einem Brennglas wieder:
gespiegelt und zugleich konzentriert.
Der russische Großstadtverkehr repräsentiert und reproduziert
vor diesem Hintergrund das vor-, real- und post-sozialistische Erbe
einer halb traditionalen, halb modernen Obrigkeitsgesellschaft; einer
Gesellschaft, in der die Starken Macht und Reichtum hierarchiebewußt
vorzeigen und durchsetzen, während das „Fußvolk“ überwiegend
lethargisch buckelt und das Gottesgnadentum der vielen Zarewitschs
akzeptiert, auch weil man in gemeinschaftsorientierten
„Wir-ihr“-Schematismen mit zivilgesellschaftlichen Defiziten gefangen
blieb. Ironischerweise haben Perestrojka und die ab 1991 beschleunigten demokratischen und kapitalistischen Reformen von oben
jene Strukturen und Handlungsorientierungen keineswegs zerstört bzw.
ernsthaft korrigiert. Eher führten das von einigen als
Superpräsidentialismus bezeichnete Regierungssystem – jenseits der
Gewährung einiger wichtiger demokratischer Freiheiten und Rechte –,
aber auch der aufblühende staatspolitische Handels- und
Mafiakapitalismus zu einer Verschärfung des Oben und Unten, Arm und
Reich, ja zur Perpetuierung gesellschaftlicher Atomisierung und
zivil-kultureller Mängel. In dieser Gemengelage vermag sich das
materiale und symbolische Recht des Stärkeren noch ungehemmter
durchzusetzen und erfährt in den vergangenen Jahren eigene
Strukturierungen sowie Habitualisierungen, etwa bei den so genannten
„Oligarchen“ und ihren polit-ökonomischen Machtstrukturen bis in den
Kreml hinein oder auch bei den „Neuen Russen“ als originäre obere
Mittelschicht bzw. Oberschicht.
Ein spezieller und im Straßenverkehr höchst anschaulicher Aspekt
postsozialistischer Re-Strukturierungen besteht im Verhältnis von
öffentlicher bzw. Staatssphäre und privatem bzw. Marktbereich. Während
die öffentliche Infrastruktur trotz eines aufgeblähten
Verwaltungsapparates zusehends verfällt und ihre Aufgaben vom
Straßenbau bis zur öffentlichen Sicherheit nicht zu erfüllen vermag,
schießen privater Reichtum und marktliche Substitute des Öffentlichen
wie Pilze aus dem Boden (Sicherheitsanlagen, -dienste, Sammeltaxen
usf.). Tatsächlich lässt sich schon seit vielen Jahren die Dialektik
beobachten, wie das Öffentliche privatisiert wird, d.h. von einigen
privat angeeignet bzw. nur noch für wenige angeboten, das Private und
Kriminelle hingegen den Charakter des Öffentlichen, teils sogar Legalen
und Legitimen erhält: Das Reinwaschen, die auch politische Integration
und Bewunderung einiger der schon angesprochenen „Oligarchen“ stellt
dabei nur die Spitze des Eisberges dar, wobei das damit verbundene
Anwachsen von blindem Gehorsam und ziviler Ohnmacht nur ein Moment der
auf den ersten Blick „unsichtbaren“ Folgen ist.
Vielleicht beschreibt der Begriff einer fake modernity von
Piotr Sztompka die enger und weit verstandenen Verkehrsverhältnisse
nicht allein des Spätsozialismus, sondern auch des postsozialistischen
Russlands am eindrücklichsten: Das neue „Bürgertum“ entpuppt sich
hinter der schwarz lackierten Fassade modernster Luxuslimousinen als
kleinbürgerliche, oft sogar „lumpenproletarische“ Schicht mit Parvenü-
und Abenteurermentalität, die vom Geist eines „Bildungsbürgertums“
soweit entfernt ist wie von der Zivilität und Grandeur der
französischen Oberklasse. Nicht weniger täuschend erscheinen die
Modernitäten – man beachte das Homonym – von Mittelklassewagen und
Mittelklasse im heutigen Russland. Um es kurz zu machen: Beide gibt es
praktisch nicht. Hinter dem (halb-)modernen Design des neuen Lada verbirgt sich ein technisches Relikt wie sich hinter der modernen neuen Mittelklasse das Heer mittlerer „Apparatschiks“ und der technischen „Intelligenzija“
versteckt. Bei letzteren obwaltet vermutlich soviel „Inszenierung“
moderner Mittelklassekultur (Leonid Ionin), vom Wertehorizont über
Lebensstile bis zu den politischen Einstellungen, wie dem Lada-Käufer
von den Togliatti-Werken VW-Golf-Qualitäten vorgegaukelt werden.
Schließlich bezeugen jene sich zum Teil als besonders urban
maskierenden und allgemein tolerierten „kriegerischen“ Umgangsformen
auf den Straßen, wie entfernt auch das gegenwärtige Russland von einer
Moderne westlichen Zuschnitts ist; einer Moderne, in der sich nicht
wenige Russen gerade der Ober- und Mittelschicht bereits wähnen, die
aber auf jeden Fall von den maßgeblichen Eliten und der großen Mehrheit der Bevölkerung als Vorbild und nahe Zukunft Russlands betrachtet wird.
Bei meiner letzten Fahrt zum Flughafen mit einem Schwarztaxi, das
seine Aufgabe mit einer Geschwindigkeit und artistischen
Ausweichmanövern vor Mensch, Tier und Schlaglöchern absolvierte, die
mich veranlassten, den Blick stur und gottesfürchtig zur Seite zu
wenden, gewannen die russischen Verkehrsverhältnisse nicht allein in
jenem Fahrstil noch einmal sinnfällige Gestalt. Nur wenige Kilometer
vom Stadtzentrum entfernt, flogen an meinen Augen die gotisch
aufragenden Türme megalomaner Beton-Neubau-Komplexe des Leningradskij Prospekt
vorbei. Hinter diesen, teils selbst schon bröckelnden Ungetümen folgten
aber nicht gleichartige Häuserblöcke, sondern vierstöckige
Ziegelbauten, Baracken und weite Brachflächen. Ein feiner Sand strich
um die Ecken, legte sich auf den Prospekt und rieselte durch die Ritzen
des Ladas. Ich musste unwillkürlich an das Bild vom „neuen
Süden“ denken. Will Russland diesem Schicksal entgehen, bedarf es des
Abbaus von Fassadenkulturen, der Überwindung „delegativer Demokratie“
(G. O´Donnell) und Stärkung eigener demokratisch-solidarischer
Verkehrsverhältnisse – auf und jenseits der Straßen.
© 2003 Raj Kollmorgen 12/2003
e-mail: raj.kollmorgen@gse-w.uni-magdeburg.de
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