Report | Kulturation 2/2006 | Volker Gransow | Ungeheuer Oben. Brecht fünfzig Jahre danach
| Berlin,
14. August 2006. Auf den Tag genau 50 Jahre nach Bertolt Brechts
Ableben. Zwei alte Herren diskutieren im Berliner Ensemble “Brecht West
- Brecht Ost”. Ernst Schumacher - früher Theater-Kritiker der (Ost-)
“Berliner Zeitung” - beklagt eloquent die drei Wellen des
Brecht-Boykotts in Westdeutschland nach dem Juni-Aufstand 1953, dem
Ungarn-Einmarsch 1956 und dem Mauerbau 1961. Aber sein Kontrahent
Günter Rühle - ehemals Feuilletonchef der “Frankfurter Allgemeinen” -
ist ebenfalls gut vorbereitet. Er zieht einen Zettel aus der Tasche und
dokumentiert, dass die meisten bisher in Deutschland ungespielten
Stücke des Dramatikers ihre Premiere in der Bundesrepublik hatten,
nicht in der DDR, wo auch erlaubte Brecht-Produktionen unter der Zensur
litten.
Gab es also im Brecht-Sommer 2006 nichts Neues in Sachen Brecht?
Wurden nur die Schlachten des Kalten Krieges in Deutschland noch einmal
geschlagen? Das behaupteten nicht einmal Rühle und Schumacher. Nur
gaben sie unterschiedliche Stichworte für eine zeitgenössische
Brecht-Rezeption. Rühle meinte, nach dem Zerfall des Realsozialismus
käme ohne politischen Ballast Brechts poetische Substanz erst voll zum
Tragen. Schumacher hingegen sah Brechts Kritik des globalisierten
Kapitalismus heute aktueller denn je. Wir wollen im Folgenden etwas
differenzierter nach dem Ertrag der Brecht-Feste 2006 in Deutschland
fragen.
Brechts fünfzigster Todestag war Anlass für eine Reihe nützlicher
Buchpublikationen. So legte Jan Knopf eine “Bertolt Brecht
Basisbiographie” vor. In dem Bändchen gibt der Herausgeber des
Brecht-Jahrbuchs und Mitherausgeber der “Großen Berliner und
Frankfurter Ausgabe” der Brechtschen Werke einen gut lesbaren Überblick
über Leben, Werk und Wirkung, ohne dabei Vieldeutigkeiten und
Ambivalenzen zu übersehen. Der Suhrkamp-Verlag brachte Brechts “Judith
von Shimoda” nach einem Stück von Yamamotu Yuzo heraus, desgleichen den
Briefwechsel mit Helene Weigel und schon 2004 die Zürcher Fassung der
Keuner-Geschichten.
Auf ganz andere Weise nützlich ist Martha Schads bereits 2005
erschienenes “Komm und setz dich, lieber Gast. Am Tisch mit Bertolt
Brecht und Helene Weigel”. Brecht schätzte alle Künste, vor allem aber
die Kunst des Lebens. In diesem Fall geht es um die Kochkunst und ihre
Zelebrierung durch Brechts Frau Helene Weigel. Die bayerische
Historikerin belegt, wie stark der Alltag von Brecht und Weigel vom
Kulinarischen geprägt war, obwohl Brecht selbst kein großer Esser war
und trotz lyrischer Branntwein-Exzesse sich mit bayerischem Bier
begnügte. Das Buch ist von der Doppelbiografie her strukturiert. Dabei
werden die Rezepte farblich hervorgehoben. Auf die Salzburger Nockerln
des begabten Fräulein Weigel aus Wien folgen 15 Jahre Exil mit
Zwischentiteln wie “die englische Küche ist lebensgefährlich “ oder
Auskünften über den Aprikosenduft in Weigels kalifornischer Küche. Die
Rückkehr nach Berlin bringt das Brecht-Weigel-Haus in Buckow, wo
fleißig Pilze gesammelt wurden und einen Exkurs über Therese Giese und
die Weißwurst. Insgesamt sind die Gerichte deftig und traditionell, so
etwa die “Fleischklopse in Biersauce”, der “Heringstopf “ oder die
“Pfifferlinge mit Speck und Sahnesauce” (vgl. Gunhild Mehlem: “Kochende
Kulturen”, Kulturation 2006).
Aus der Fülle der Neuerscheinungen sei noch verwiesen auf “O
Chicago”. Hundert Gedichte auf Brecht sind hier versammelt, von
“Altmeistern” wie Volker Braun und Robert Gernhardt bis zu dem sich
zumindest altmeisterlich gerierenden Durs Grünbein. Ditte von Arnim
legt mit “Brechts letzter Liebe” über Isot Kilian eine anrührende
Biografie vor, die ein weiteres Mal an der Legende vom Pascha und
Frauenausbeuter Brecht rüttelt. Sabine Kebir widmet sich einer anderen
wichtigen Brecht-Mitarbeiterin in ihrem neuen Buch über Ruth Berlau
“Mein Herz liegt neben der Schreibmaschine” (Algier 2006, vgl. den
Vortrag der Autorin am 13. September 2006 bei der “Kulturdebatte im
Turm”).
Ausgezeichnet geeignet für Zwecke der universitären und gymnasialen
Lehre wie für die politische Bildung ist die von der Bundeszentrale für
politische Bildung herausgegebene Zeitschrift “Aus Politik und
Zeitgeschichte” (Beilage zum “Parlament”, Nr. 23-24/2006). Der Berliner
Kultursoziologe Günter Erbe stellt hier dem Dramaturgen des Berliner
Ensembles, Hermann Beil, einige Schlüsselfragen. Auf die Frage nach der
“durchschlagenden Wirkungslosigkeit des Klassikers” etwa, die Max
Frisch Brecht einst attestierte, antwortet Beil: “Das Theater ist als
Ort des unmanipulierten Wortes immer gefährdet, aber dadurch
wirkungsvoll.” Und diese Wirkungskraft wird in weiteren Beiträgen von
Sabine Kebir, Jan Knopf und Marc Silberman eindrucksvoll bestätigt.
Der Brecht-Sommer 2006 beschränkte sich aber keineswegs auf
Publikationen. Schon im Juli 2006 richtete Brechts Heimatstadt Augsburg
ein viertägiges Festival aus. Auch unter der Schirmherrschaft von
CDU-Kulturstaatsminister Neumann und ganz in der Nähe eines
Trachtenladens mit “Sportalmdirndl” und “Wilddiebweste” zelebrierten
Schriftsteller von Volker Braun bis Feridun Zaimoglu den Lyriker Brecht
und seinen Einfluß auf ihr Werk. Damit es nicht zu weihevoll wurde, gab
es noch “Tocotronic”, den “Beat-Box-Brecht” und den “ABC Poetry Slam”.
“Das ist ja hier wie in Woodstock”, soll jemand gerufen haben. Die
romantische Brecht-Kahnfahrt durfte sowenig fehlen wie Symposien zu
“Brecht und der Tod” (in Ausgsburg und Buckow).
Ausgsburg war vielleicht so wenig Woodstock wie der Berliner
Brecht-Sommer. Aber mit dem Brecht-Fest 2006 zeigte das Berliner
Ensemble eine bisher quantitativ wie qualitativ noch nicht dagewesene
Leistung. Zu den 72 Vorstellungen vom 12.8. bis zum 3.9. 2006 kamen
rund 17 600 Besucher. Das entspreche “einer Auslastung von sage und
schreibe 95,76 Prozent”, so BE-Intendant Claus Peymann. Jeden Abend
sang, sprach, rauchte und winkte auf dem Bertolt - Brecht - Platz ein
von Karl-Ernst Hermann gestaltetes Brecht-Monument. Im Inneren des
Brecht-Theaters gab es derweil oft simultan Vorführungen, Gastspiele,
Lesungen und Diskussionen.
Dabei boten die Gastspiele immer wieder überraschende Sichtweisen
auf Brechts Aktualität. Erwähnt seien das Städtische Theater Komedija
aus Zagreb, das mit “Mutter Courage” sich dem eigenen Kriegstrauma
stellte, das Tokyo Engeki Ensemble mit “Leben des Galilei” in fast
zeremonieller Klarheit, und die Compagnia Lombardi-Tiezzi aus Florenz,
die Brechts “Antigone des Sophokles” klassisch-tragisch begann und
plebejisch-komödiantisch enden ließ. Aus Dessau waren 70 Schülerinnen
und Schüler mit dem “Jasager” und dem “Neinsager” gekommen. Sie zeigten
das ganze Potenzial dieser Schuloper, die von manchen noch heute als
dogmatischer Irrweg missverstanden wird.
Viele Veranstaltungen waren ausverkauft; die im Zentrum stehende
Brecht-Gala wurde von der ARD übertragen, so dass ein Millionenpublikum
teilnehmen konnte. Die Revue war von Hermann Beil, Jutta Ferbers und
Claus Peymann perfekt inszeniert worden. Sie hieß “Ungeheuer Oben” in
Anspielung auf eine Textzeile aus Brechts früher “Erinnerung an die
Marie A”. Der Berichterstatter und Begleitung saßen tatsächlich
“ungeheuer oben” (im II.Rang rechts letzte Reihe) und können
bestätigen, dass die Gala auch “ungeheuer oben” ein Genuss war. Es
traten auf Schauspielerinnen wie Carmen Maja Antoni, Gisela May, Angela
Winkler, Sänger wie Max Raabe und Dominique Horwitz und Schauspieler
wie Manfred Karge und Thomas Tieme. Die Kessler-Zwillinge überraschten
mit den “sieben Todsünden”, Klaus Wowereit las ganz passabel einen
ironisch ausgesuchten Brecht-Text über “die Regierung”. George Tabori
war persönlich erschienen. Stargast in der Starparade war Milva aus
Mailand mit ungebrochenem Temperament. Peymann war einst angetreten, um
die BE-“Hausgespenster” wie Brecht und Heiner Müller zu vertreiben.
Davon war nichts zu merken.
Diese Brecht-Gala am 12.August 2006 war ein künstlerischer
Höhepunkt des Brecht-Sommers. Sie demonstrierte gerade auch die
Bandbreite des Brechtschen Schaffens und seine Kompabilität mit Show
und Pop. Dem entsprach Klaus Maria Brandauers “Dreigroschenoper” im
renovierten Admiralspalast auf der anderen Seite der Friedrichstraße
gleichsam seitenverkehrt: ein absoluter Tiefpunkt. Freilich trifft
Ulrich Greiners Diktum (in der ZEIT vom 17.August 2006) nicht ganz zu:
“Pünktlich zu seinem 50. Todestag ist Bertolt Brecht in Berlin
öffentlich hingerichtet worden”. Nicht Brecht wurde hingerichtet,
sondern ein unfähiger Regisseur dokumentierte, dass er ungeeignete
Film-Schauspieler und ein überfordertes Orchester mit einem
konventionellen Bühnenbild kombinieren konnte. Zu loben war eigentlich
nur die Werbekampagne. Das Publikum war’s gleichwohl zufrieden; Josef
Ackermann und seine Deutsche Bank als Hauptsponsor wohl auch (DB-Slogan
für einen Kreativwettbewerb: “Pimp my Brecht”). Der Autor dieser Zeilen
verdrängte kurz die Frage, warum die Brecht-Erben kürzlich dem
brillanten kanadischen Regisseur Robert Lepage die Aufführungsrechte
für die “Dreigroschenoper” versagten, dieses Machwerk aber genehmigten
und tröstete sich mit dem Brechtschen “Es geht auch anders, aber so
geht es auch”.
Im Fernsehen zeigte Joachim Lang auf “Arte” am 28. Juli 2006 einen
Brecht, dem Lebenskunst und geistige Unabhängigkeit das Wichtigste
waren und beseitigte damit vielleicht das eine oder andere Klischee.
Wenig ergiebig war die Spezialsendung des “Literarischen Quartetts” im
ZDF am 11.August 2006. Helmuth Karasek demonstrierte, dass ihm seit
seinem Beitrag im “Spiegel” 1978 (“Brecht ist tot”) nichts Neues
eingefallen war; daran konnten auch Rühmkorf und Reich-Ranicki nichts
ändern. Leider noch nicht im Fernsehen zu sehen war der sehr
TV-geeignete neue Dokumentarfilm “Bertolt Brecht - Bild und Modell”.
Peter Voigt, Erdmut Wizisla und Harald Müller bieten hier Materialien
aus dem Brecht-Archiv, darunter erste Filmaufnahmen von “Mann ist Mann”
aus dem Jahre 1931.
Brecht gab der Weltliteratur Figuren wie Seeräuber-Jenny, Mutter
Courage, den Arturo Ui, die “Judenhure” Marie Sanders oder die
unwürdige Greisin. Der Brecht-Sommer 2006 bewies, dass dies
künstlerische Potenzial keineswegs ausgeschöpft ist. Desiderata wären
etwa:
- eine mit den besseren Archivmöglichkeiten nach 1989-90 möglich
gewordene umfassende Brecht-Biografie (John Fuegi hatte diese Chance
1997 verschenkt);
- ein neuer Blick auf (aus politischen Gründen) als “sperrig”
geltende Stücke wie “Die Rundköpfe und die Spitzköpfe” oder den
“Herrnburger Bericht” vom FDJ-Deutschlandtreffen;
- eine gründlichere Auseinandersetzung mit Brecht und den Themen Antisemitismus, Judentum, Holocaust;
- ein komparativer Blick auf Brechts literarisches und reales
Verhältnis zu USA und UdSSR (inklusive einer Aufarbeitung der FBI- und
KGB-Akten).
Gleich, ob wieder einmal ein Jubiläum ansteht oder nicht.
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