Report | Kulturation 2015 | Volker Gransow | Wissenschaftliche Capricen. Zur Kulturgeschichte der Homosexualiät Eine interessante Textsammlung zur Kulturgeschichte der Homosexualität | Rüdiger Lautmann (Hg.): Capricen. Momente schwuler Geschichte. Hamburg (Männerschwarm) 2014, 300 S.
Was ist „LSBT“ ? „Lettuce, Sandwich , Beans, Tomato“
(kalifornischer Salat)? Oder „Lesbisch, Schwul, Bi, Transsexuell“? Die
Bezeichnungen für Geschlechterbeziehungen scheinen sich immer schneller
zu verändern. Wenn derzeit „queer“ en vogue scheint, so drückt sich
darin einerseits aus, dass nach wie vor ursprünglich pejorativ gemeinte
sexuelle Etiketten von Betroffenen übernommen werden - wie etwa
„schwul“ oder „gay“ seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Der
Kulturwissenschaftler und spätere Freud-Experte Peter Fröhlich konnte
sich bei seiner US-Einbürgerung im Jahre 1946 noch „Peter Gay“ nennen,
ohne dass sein Name mit Homosexualität assoziiert wurde.
Andererseits werden mit den Umetikettierungen auch sachliche
Veränderungen gemeint. Zumindest teilweise sexuell definierte soziale
Gruppen sind mit dem „labeling approach“ (Lüdderitz) nicht mehr zu
fassen, weder „Devianz“ noch „Perversion“ reichen aus. Der Buch- und
Filmerfolg „Fifty Shades of Grey“ ist eine sentimental-kitschige Story
mit SadoMaso - Sauce, demonstriert aber gleichzeitig, dass ein von
zunehmender Prüderie und Lustfeindlichkeit auch in Westeuropa und
Nordamerika gelangweiltes Publikum stärker gewürzte kulturelle Kost
möchte (1) . Neben solchem Schund wird auch eine erotisch akzentuierte
intelligente Dystopie wie Houellebecqs „Soumission (Unterwerfung) “
breit rezipiert. Drittens schaffen die „queeren“ sozialen Bewegungen
sich wie einst die Arbeiterbewegung ihre eigene Akademisierung. Neben
Biologie, Soziologie, Philosophie, Psychologie , Politikwissenschaft,
Sexuologie und Soziologie tritt zunehmend die Geschichtsforschung. Das
illustriert die vorliegende (nicht so genannte) Festschrift zum 65.
Geburtstag des Berliner Historikers Manfred Herzer . Ausgehend von den
zahlreichen bahnbrechenden Arbeiten des in der oft „Zunft“ genannten
Fachwelt eher unetablierten Gelehrten wird in dem von Rüdiger Lautmann
ingeniös edierten Sammelband ein historisches Bild schwuler Geschichte
gezeichnet, das von Raymond Pascal in Avignon (1365) über den
homophoben General Karl von Einem (1835 bis 1934) bis hin zu Marsden
Hartleys Deutschlandreisen immer neue Facetten des Begehrens aufdeckt.
Wichtig scheint dem Rezensenten auch die differenzierte Sicht
auf Philipp Prinz von Eulenburg-Hertefeld und seinen „Liebenberger
Tafelrunde“ oder „Liebenberger Kamarilla“ durch Norman Domeier. Dass
Eulenburg wie Kaiser Wilhelm II. vermutlich bi-, homo- oder
multisexuell war – das ist sattsam bekannt. Zuerst löste Maximilian
Harden später breit dokumentierte Krisen und Skandale aus (vgl.
Nikolaus Sombart: „Sündenbock und Herr der Mitte“ Berlin 1997). Die
Akzentuierung der friedenspolitischen Seite durch Norman Domeier in
„Capricen“ stellt aber einen anderen Kontext dar. Eulenburg, seine
Tafelrunde und u.U. Durchlaucht höchstselbst liebten häufiger Männer –
das ist wohl nicht so überraschend. Interessant ist hingegen, dass es
vielleicht um eine Alternative zum deutschen Imperialismus ging, eine
mögliche historische Weggabelung jenseits vom derzeitigen
„Schlafwandel“- Bild (Clark), nämlich beim preussisch-deutschen „Griff
nach der Weltmacht“ ( Fritz Fischer). Da ist ziemlicher
Forschungsbedarf – man denke nur an den Nazi-Kronjuristen Carl Schmitt,
sein bipolares Freund / Feind – Denken sowie seine
Großmachtsphantasien. Zumindest für den Verfasser dieser Besprechung
finden sich noch weitere Überraschungen. Kevin Dubout und Jens Dobler
zeigen, dass nicht nur der zu Recht omnipräsente Magnus Hirschfeld und
sein Wissenschaftlich - Humanitäres Komitee eine unmittelbare
Vorgeschichte von 1894 bis 1897 hatten und sich Parallelen zu
Hirschfeld in Reinhold Gerlings Zeitschrift „Das Geschlecht“ finden
lassen.
James D. Steakley liefert eine aufschlussreiche Analyse von
„kommunistischen Kraftkerlen und schwulen Zombies“, also dem
marxistisch-leninistischen Männlichkeitswahn in der US-amerikanischen
Kommunistischen Partei der frühen 1930er Jahre. Siegfried Tornow bietet
fundierte Informationen über orientalische Gelassenheit und europäische
Moderne, die bei allem Respekt vor Houellebequs Islamskepsis das heute
oft zutreffende Bild vom schwulenfeindlichen Orient historisch
korrigieren. So wird kulturhistorisch mit manchem Vorurteil kritisch
umgegangen und der Horizont von Leserinnen und Lesern erweitert. Es sei
hier aus der Vielzahl der von Rüdiger Lautmann edierten Beiträge nur
noch der Essay von Marita Keilson-Lauritz über Hans-Dietrich Hellbach
und die Freundesliebe im 18. Jahrhundert erwähnt.
Aus der Ferne erscheinen die Alpen bekanntlich blau, Bergsteiger sehen
das anders. Die Lautmannsche Kollektion belegt nicht nur die Vorteile
genauer kulturhistorischer Recherche, sondern auch den kulturellen
Wandel, der diesen Forschungen erst Resonanz verleiht. Es geht nicht
nur um neue Sichtweisen auf Avignon oder Eulenburg, sondern auch um
Veränderungen der derzeitigen Gesellschaft. „Geschlechter – wenn
überhaupt – wie viele?“ fragt Lautmann (vgl. „Soziologische Revue“ Nr.2
/2014). Das bipolare Geschlechterbild (2) kommt wissenschaftlich wie
politisch ins Wanken – das zeigt sich auch an politisch – rechtlichen
Fragen wie Adoption oder Insemination.
Anmerkungen
(1) Vgl. Horst Groschopp: Anstiftung zum Vanillasex. In: „Humanistischer Pressedienst“ vom 19. Februar 2015.
(2) Eine prononciert andere Meinung vertritt etwa Ferdinand Fellmann:
Sexuelle Vielfalt und die Polarität der Geschlechter. In: „Sexuologie“,
Nr.3-4/2014.
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