Report | Kulturation 1/2006 | Dieter Segert | Welche Bedingungen braucht die Freiheit?
| Für Dieter Segert war ein Buch von Jens Bisky - Die deutsche Frage. Warum die Einheit unser Land gefährdet
(Berlin: Rowohlt 2005. 221 S., 12,90 €.) - Anlass und Gelegenheit,
seine eigene Sicht auf die Situation der Deutschen zu überdenken und
sich gemeinsam mit ihm auf die Suche nach der Überwindung des
Ost-West-Grabens in Deutschland zu begeben. Nachstehend seine
kritischen Erwägungen.
„Manches fiele heute leichter, hätte man das Vereinigungsmanagement
einem Mann wie C. R. MacNamara anvertraut. … In wenigen Stunden gelingt
es dem Chef der Coca-Cola-Fliale West-Berlin, den fanatischen
Jungkommunisten Otto Ludwig Pfiff in einen adretten Demokraten zu
verwandeln…“(7) Ein schöner Anfang allemal, die deutsche Vereinigung
als Paraphrase zum Kultfilm Billy Wilders „Eins, zwei, drei“ aus dem
Jahr 1961. Aber ein solcher Anfang ist nur für den passend, der diesen
Film kennt, also für jemanden, der zur Generation der West-68er gehört.
Irgendwie fügt sich dieser Stein doch zu einem Mosaik: ein Thema des
Buches ist es, dass Ost und West heute immer noch nicht dieselbe
Sprache sprechen, es ist auch keine Aussicht auf Besserung, das
gegenseitige Unverständnis scheint mit der Zeit noch größer zu werden.
Gute Bilder kürzen ab. Das „Modell MacNamara“, so Jens Bisky, hat
nach 1990 leider nicht funktioniert. Die deutsche Frage, die doch mit
der Vereinigung gelöst schien, ist heute auf neue Art wiedererstanden.
Fahre man wie bisher fort, sei Deutschland gefährdet. (Das genau meint
der etwas kryptische Untertitel des Buches.) Es gäbe auch in Zukunft
nicht die Möglichkeit, die Angleichung des Ostens an den (alten) Westen
zu erreichen. Zudem sei diese „innere Einheit“ aus Sicht Biskys nicht
wünschenswert, zu sehr liege in diesem Begriff die Vorstellung, es gehe
um eine Verwischung aller Unterschiede zwischen den Menschen. (48)
Soweit seine erste These.
Eine zweite lautet: Die Deutschen erwarteten zuviel vom Staat und
trauten sich selbst zu wenig zu. (18) Das wird vielfach variiert. Beim
Aufbau Ost habe sich gezeigt, dass der Staat prinzipiell nicht in der
Lage sei, einer eigenen Wirtschaftsstruktur zum Leben zu verhelfen. (96
f., 170 f.) Positiv lautet seine These: die Ostdeutschen müssten
stärker zu Entscheidungsfreiheit und Eigeninitiative finden. (143 f.)
Von einem „politisch wachen Bürgertum“ (212) erwartet er die Lösung der
neuen deutschen Frage. Das alles sind sehr voraussetzungsvolle Thesen,
denen man natürlich nicht folgen muss.
Jede der deutschen Teilgesellschaften trete mit ähnlichen
Erwartungen an den Staat heran, erwarte gleichermaßen, dass mit seiner
Hilfe wie früher Wachstum und Sicherheit für jeden Bürger garantiert
werden könne. Das Ziel sei die Wiederkunft der Vergangenheit der
Bundesrepublik, die goldenen achtziger Jahre. Die Ostdeutschen wollten
den Nachbau West und die Angleichung der Lebensverhältnisse an den
Westen. Die Westdeutschen unterstützten dies, weil sie für sich
ebenfalls eine solche Restauration anstrebten. Auch die am Beginn des
Jahrtausends begonnenen Reformen des Sozialstaates zielten auf nichts
anderes als auf die Sicherung dieses Status quo. Der damit verbundene
Verteilungskonflikt zwischen Ost und West werde allerdings „patriotisch
korrekt“ beschwiegen. (33)
Sein eigener Gegenvorschlag lugt fortlaufend zwischen den Zeilen
hervor, wird aber konzentriert erst auf den letzten 20 Seiten des
Buches formuliert: Ein Politikwechsel sei nötig, eine neue Einheit
müsse erkämpft werden, der Staat müsse sich auf sein Kerngeschäft
konzentrieren, allen eine moderne Bildung ermöglichen, der Sozialstaat
könne zukünftig nicht mehr tun, als Elend zu vermeiden und Lebenskrisen
zu überbrücken helfen, für den Osten müsse die Politik vor allem so
agieren, dass Mutlosigkeit und Resignation überwunden werden können,
der unaufhaltsam vor sich gehende regionale Schrumpfungsprozess müsse
gestaltet, die damit verbundene Krise moderiert werden, schließlich
folgt ein Plädoyer für Gelassenheit gegenüber Unterschieden innerhalb
Deutschlands. (191 ff.) Das eigentliche Problem sei die Gefährdung der
„bürgerlichen Kultur“ und ein politisch waches Bürgertum sei
unerlässlich. (212) Seine Überzeugung, dass die junge Generation in Ost
und West bereits dahin aufgebrochen ist, hatte er bereits vorher
deutlich werden lassen. (143 f.)
Soweit wichtige Positionen des Journalisten, der selbst der
mittleren Generation zugehörig (Jg. 1966) und aus dem Osten kommend im
Westen der Republik beheimatet ist. Das Buch ist in der Kritik und
besonders der kritischen Darstellung dessen, was schief gelaufen ist
seit 1990, klarer und überzeugender als in der Therapie. Das muss nicht
stören, anderen geht es ebenso. Nun aber ein paar kritische
Überlegungen, die in einem zentralen Unterschied ansetzen: ich teile
nicht den Glauben Biskys an eine voraussetzungsfreie, geradezu
unerschöpfliche schöpferische Kraft freier Individuen. Es reicht nicht,
sich die irdischen Schranken und Hemmnisse eines freien Schöpfertums
einfach aus dem Kopf zu schlagen. Um fliegen zu können, benötigen
Menschen Startkapital, und die einen haben von ihren Eltern mehr davon
mitbekommen und die anderen weniger. Es geht dabei nicht nur um
Bildungsgerechtigkeit, auch wenn ich hier am weitesten mit Bisky
übereinstimme. Die im Prozess der deutschen Vereinigung manifestierte
und sich weiter vertiefende Ungleichheit zwischen Ost- und
Westdeutschland, aber auch innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung
selbst lässt sich nicht allein durch einen Appell an ein politisch
waches Bürgertum überwinden. Hier bedarf es der demokratischen Debatten
und politischer Veränderungen.
Die Unterschiede unserer Positionen zeigen sich auch am für mich
interessantesten Punkte, dem Modell Biskys über die beiden deutschen
Teilgesellschaften und ihr Gegeneinander in den neunziger Jahren. Bisky
kritisiert anders als viele vor ihm nicht nur der Osten für dessen
mangelnde Bereitschaft, sich zu verändern, er zeiht auch den Westen
dieser Sünde. Der Westen hätte durch sein Herangehen an die deutsche
Einheit zuerst produktive Potenzen der DDR-Wirtschaft zerstört, den
Osten dann aber durch umfassende soziale Absicherung ruhig gestellt. Es
sei den maßgeblichen politischen Akteuren mehr um die Ruhe in der
Gegenwart, als um die Überwindung der dauerhaften und länger wirkenden
produktiven wirtschaftlichen Schwächen gegangen: „die Bundesrepublik
agierte in den frühen neunziger Jahren gleichsam staatssozialistisch.“
(70) Der ostdeutschen Wagenburgmentalität steht aus Sicht Biskys eine
ebenso falsche westdeutsche Selbstgerechtigkeit an der Seite. (137)
Kritikfähig beschreibt er die Defizite des Ostens. Er nutzt dafür
allerdings auch einen problematischen Begriff von Alexander Thumfart,
der in einer 2002 bei Suhrkamp veröffentlichten Studie über die
Integration Ostdeutschlands von einer „Duldungsstarre“ der Ostdeutschen
spricht. (175) Damit wird eine spezifische Haltung gekennzeichnet, die
sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre verfestigt habe. Bisky
findet dafür den passenderen Begriff einer „stillen Gesellschaft“,
einer „stillen Überlebensgemeinschaft“ (142), welche erkannte Konflikte
nicht öffentlich austrägt, dafür sich in Ressentiments gegen oben und
außen (d. h. gegen den Westen) vereint fühlt, die Öffentlichkeit meidet
und sich nur erlaubt daheim (in der Familie, im Freundeskreis) zu
kritisieren, gewissermaßen verantwortungsbefreit zu meckern. Als
Konstrukt dieser nörgelnden Protestidentität sei im Osten die
„Kleine-Leute-Gesellschaft“ (des Staatssozialismus) immer noch erhalten
geblieben. Vorwurfsvoll verharre man „auf den unteren Rängen“. (115)
Diese soziale Haltung in den neuen Bundesländern stehe quer zu den
eigentlichen Anforderungen und entspreche auch nicht der tatsächlich
stark differenzierten sozialen Lage Ostdeutscher. Wenn man sich die
Analysen des Soziologen Rainer Geisler zu diesem letzten Punkt ansieht,
muss man Bisky unbedingt Recht geben. „Die“ Ostdeutschen als
unterschiedslose Wir-Gruppe sind ein Konstrukt. Ich würde trotzdem
dieses Wir-Gefühl nicht in gleichem Maße wie Bisky als Hemmnis der
Entwicklung ansehen – es reagiert nämlich auf die Überwältigung der
Ostdeutschen nach 1990 durch die Art der deutschen Einheit und auf
dabei entstehende Vermögens- und Machtunterschiede zwischen Ost- und
Westdeutschen, die man sich eben nicht einfach aus dem Kopf schlagen
kann. Das Wir-Gefühl ist auf der Suche nach einer möglichen kollektiven
Bewältigungsstrategie.
Die geringere Präsens der Ostdeutschen in den Medien scheint mir
anders als im rezensierten Buch auch nicht vor allem das Ergebnis
irgendeiner privatisierenden, schmollenden Protestmentalität (einer
Abschottungsstrategie des Ostens: 56) oder eines tradierten
staatsozialistischen Ohnmachtgefühls zu sein. Sie hat aus meiner Sicht
mit der geringeren Ressourcenausstattung der Ostdeutschen in der Welt
der Massenmedien ebenso wie in der Sphäre der politischen Parteien zu
tun. Bezogen auf die intermediären Institutionen hat Heidrun Abromeit
dieses Defizit einmal als „Vertretungslücke“ bezeichnet. Aus meiner
Sicht wirken hier strukturelle Ungleichgewichte, die ihrerseits
Verhältnisse von Macht und Herrschaft repräsentieren. Aus beiden
Unterschieden in der Deutung ergibt sich aus meiner Sicht auch eine
andere politische Aufgabe – im Vordergrund steht eben nicht die
Überwindung von Mentalitätsunterschieden durch das individuelle Wagnis
der Freiheit sondern die Beseitigung institutionell verfestigter
Demokratiedefizite des deutschen politischen Systems, um den besonderen
Interessen der Ostdeutschen als Bürger des deutschen Gemeinwesens ein
stärkeres Gewicht zu geben. Freiheit kann nicht nur Ergebnis eines
individuellen Entschlusses sein, sie bedarf institutioneller
Unterstützung.
Ähnlich würde ich in der Analyse der bisherigen
Vereinigungsprozesse andere Schwerpunkte als Bisky setzen. Dafür zwei
Beispiele: Zum einen verweist der Autor auf das Versagen der Treuhand
in der Aufgabe, eine ostdeutsche Unternehmerklasse zu bilden (S. 76:
das sei der eigentliche „Sündenfall“ der Privatisierung gewesen), unter
den Ursachen hebt er dann allerdings die tradierte ideologische
Verblendung der alten bundesrepublikanischen Eliten hervor, welche
generell vor möglichen sozialen Unterschieden im Ergebnis einer
stärkeren Beteiligung Ostdeutscher an der Privatisierung des
Staatseigentums zurückgeschreckt sei. (76) Hier wäre es aus meiner
Sicht sinnvoller gewesen, den wirksamen Strategien von starken
Interessengruppen und Einzelkonzernen im Privatisierungsprozess genauer
nachzuspüren. Zweitens kritisiert Jens Bisky einige Seiten des
Elitenaustausches nach 1990. Er hebt Kränkungen und Demütigungen
hervor, die bis heute nachwirken (130), betont den größeren Eifer beim
Auswechseln der staatssozialistischen Eliten im Vergleich zum
Elitenwechsel nach 1945 in den Westzonen. In seiner Argumentation fällt
allerdings auch auf, dass immer wieder relativiert, die Schärfe der
Wertung wieder zurückgenommen wird. So heißt es bei ihm, ein sanfter
Elitenaustausch nach einer Revolution sei eine zwar wünschenswerte aber
doch „einigermaßen wirklichkeitsfremde“ Vorstellung. (136) Wozu erst
das Mitgefühl und die guten Worte, wenn es besser doch gar nicht
gegangen wäre? Mir als einem Teilnehmer dieses Prozesses an den
Universitäten Ostdeutschlands hingegen scheint es durchaus, dass man
auch in einer grundlegenden Umbruchssituation vieles hätte anders
erledigen können, als durch eine – vor allem in den Sozial- und
Geisteswissenschaften zu beobachtende – ungezügelte Klientelpolitik
zugunsten westdeutscher und zu Lasten ostdeutscher Bewerber. Als ob die
Alternative allein in einer entweder umfassenden oder aber gar nicht
stattfindenden Säuberung bestanden hätte, wie es mit dem Verweis auf
die Stiftung Weimarer Klassik nahe gelegt wird. (137) Es ist weiterhin
unangemessen, den Ostdeutschen ihre durch die institutionell und
politisch gepanzerte Vormachtstellung der westdeutschen Eliten
erzwungene Einsicht in ihre Unterlegenheit schließlich auch noch als
Rückzug auf eine Sonderidentität Ost und in eine private Schmollecke
vorzuwerfen. Es wäre umgekehrt höchste Zeit, die erstaunlichen Erfolge
vieler ostdeutscher Wissenschaftler/innen unter anhaltend prekären
Verhältnissen ohne Aussicht auf eine Perspektive dauerhafter
Beschäftigung öffentlicher zu würdigen. Möglich wäre das auch auf den
Seiten der liberalen „Süddeutschen Zeitung“.
Ich möchte abschließend eine der Thesen des Buches hervorheben, der
ich mit unbedingt zustimmen möchte. Jens Bisky vermisst in der
deutschen Politik eine wünschenswerte Alternative, ein anziehender
Zukunftsentwurf, der Lust auf Experimente macht und die Neugierde der
Einzelnen auf die unentdeckten Möglichkeiten unterstützt. Ich leide
auch, wie er, an dem Geist von Reformen, die mit dem „Sex-Appeal von
Brandschutzmaßnahmen“ daher kommen. (162) Das Bedürfnis nach Visionen,
Utopien, Zukunftsentwürfen sind keine Krankheitssymptome, sie sind
unentbehrlich für diejenigen, die sich vor dem Wagnis des Neuen nicht
fürchten. Auch der „Kommunismus“ erfüllte einmal eine solche Aufgabe,
bevor er sich in einer gewaltsamen und bürokratischen Diktatur
diskreditierte. Nach dem Verlöschen dieses Glaubens ist manchen, auch
mir, die Sehnsucht nach einer anziehenden Alternative geblieben. Bisky
hat seine Utopie die „neue deutsche Frage“ genannt und eine „Kultur der
Freiheitsgewinne“. Diesen Denken zumindest stehe ich näher als der
verbreiteten Sehnsucht nach der Wiederkehr irgendeiner guten alten
Zeit.
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