KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ReportKulturation 1/2006
Dieter Segert
Welche Bedingungen braucht die Freiheit?
Für Dieter Segert war ein Buch von Jens Bisky - Die deutsche Frage. Warum die Einheit unser Land gefährdet (Berlin: Rowohlt 2005. 221 S., 12,90 €.) - Anlass und Gelegenheit, seine eigene Sicht auf die Situation der Deutschen zu überdenken und sich gemeinsam mit ihm auf die Suche nach der Überwindung des Ost-West-Grabens in Deutschland zu begeben. Nachstehend seine kritischen Erwägungen.

„Manches fiele heute leichter, hätte man das Vereinigungsmanagement einem Mann wie C. R. MacNamara anvertraut. … In wenigen Stunden gelingt es dem Chef der Coca-Cola-Fliale West-Berlin, den fanatischen Jungkommunisten Otto Ludwig Pfiff in einen adretten Demokraten zu verwandeln…“(7) Ein schöner Anfang allemal, die deutsche Vereinigung als Paraphrase zum Kultfilm Billy Wilders „Eins, zwei, drei“ aus dem Jahr 1961. Aber ein solcher Anfang ist nur für den passend, der diesen Film kennt, also für jemanden, der zur Generation der West-68er gehört. Irgendwie fügt sich dieser Stein doch zu einem Mosaik: ein Thema des Buches ist es, dass Ost und West heute immer noch nicht dieselbe Sprache sprechen, es ist auch keine Aussicht auf Besserung, das gegenseitige Unverständnis scheint mit der Zeit noch größer zu werden.

Gute Bilder kürzen ab. Das „Modell MacNamara“, so Jens Bisky, hat nach 1990 leider nicht funktioniert. Die deutsche Frage, die doch mit der Vereinigung gelöst schien, ist heute auf neue Art wiedererstanden. Fahre man wie bisher fort, sei Deutschland gefährdet. (Das genau meint der etwas kryptische Untertitel des Buches.) Es gäbe auch in Zukunft nicht die Möglichkeit, die Angleichung des Ostens an den (alten) Westen zu erreichen. Zudem sei diese „innere Einheit“ aus Sicht Biskys nicht wünschenswert, zu sehr liege in diesem Begriff die Vorstellung, es gehe um eine Verwischung aller Unterschiede zwischen den Menschen. (48) Soweit seine erste These.

Eine zweite lautet: Die Deutschen erwarteten zuviel vom Staat und trauten sich selbst zu wenig zu. (18) Das wird vielfach variiert. Beim Aufbau Ost habe sich gezeigt, dass der Staat prinzipiell nicht in der Lage sei, einer eigenen Wirtschaftsstruktur zum Leben zu verhelfen. (96 f., 170 f.) Positiv lautet seine These: die Ostdeutschen müssten stärker zu Entscheidungsfreiheit und Eigeninitiative finden. (143 f.) Von einem „politisch wachen Bürgertum“ (212) erwartet er die Lösung der neuen deutschen Frage. Das alles sind sehr voraussetzungsvolle Thesen, denen man natürlich nicht folgen muss.

Jede der deutschen Teilgesellschaften trete mit ähnlichen Erwartungen an den Staat heran, erwarte gleichermaßen, dass mit seiner Hilfe wie früher Wachstum und Sicherheit für jeden Bürger garantiert werden könne. Das Ziel sei die Wiederkunft der Vergangenheit der Bundesrepublik, die goldenen achtziger Jahre. Die Ostdeutschen wollten den Nachbau West und die Angleichung der Lebensverhältnisse an den Westen. Die Westdeutschen unterstützten dies, weil sie für sich ebenfalls eine solche Restauration anstrebten. Auch die am Beginn des Jahrtausends begonnenen Reformen des Sozialstaates zielten auf nichts anderes als auf die Sicherung dieses Status quo. Der damit verbundene Verteilungskonflikt zwischen Ost und West werde allerdings „patriotisch korrekt“ beschwiegen. (33)

Sein eigener Gegenvorschlag lugt fortlaufend zwischen den Zeilen hervor, wird aber konzentriert erst auf den letzten 20 Seiten des Buches formuliert: Ein Politikwechsel sei nötig, eine neue Einheit müsse erkämpft werden, der Staat müsse sich auf sein Kerngeschäft konzentrieren, allen eine moderne Bildung ermöglichen, der Sozialstaat könne zukünftig nicht mehr tun, als Elend zu vermeiden und Lebenskrisen zu überbrücken helfen, für den Osten müsse die Politik vor allem so agieren, dass Mutlosigkeit und Resignation überwunden werden können, der unaufhaltsam vor sich gehende regionale Schrumpfungsprozess müsse gestaltet, die damit verbundene Krise moderiert werden, schließlich folgt ein Plädoyer für Gelassenheit gegenüber Unterschieden innerhalb Deutschlands. (191 ff.) Das eigentliche Problem sei die Gefährdung der „bürgerlichen Kultur“ und ein politisch waches Bürgertum sei unerlässlich. (212) Seine Überzeugung, dass die junge Generation in Ost und West bereits dahin aufgebrochen ist, hatte er bereits vorher deutlich werden lassen. (143 f.)

Soweit wichtige Positionen des Journalisten, der selbst der mittleren Generation zugehörig (Jg. 1966) und aus dem Osten kommend im Westen der Republik beheimatet ist. Das Buch ist in der Kritik und besonders der kritischen Darstellung dessen, was schief gelaufen ist seit 1990, klarer und überzeugender als in der Therapie. Das muss nicht stören, anderen geht es ebenso. Nun aber ein paar kritische Überlegungen, die in einem zentralen Unterschied ansetzen: ich teile nicht den Glauben Biskys an eine voraussetzungsfreie, geradezu unerschöpfliche schöpferische Kraft freier Individuen. Es reicht nicht, sich die irdischen Schranken und Hemmnisse eines freien Schöpfertums einfach aus dem Kopf zu schlagen. Um fliegen zu können, benötigen Menschen Startkapital, und die einen haben von ihren Eltern mehr davon mitbekommen und die anderen weniger. Es geht dabei nicht nur um Bildungsgerechtigkeit, auch wenn ich hier am weitesten mit Bisky übereinstimme. Die im Prozess der deutschen Vereinigung manifestierte und sich weiter vertiefende Ungleichheit zwischen Ost- und Westdeutschland, aber auch innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung selbst lässt sich nicht allein durch einen Appell an ein politisch waches Bürgertum überwinden. Hier bedarf es der demokratischen Debatten und politischer Veränderungen.

Die Unterschiede unserer Positionen zeigen sich auch am für mich interessantesten Punkte, dem Modell Biskys über die beiden deutschen Teilgesellschaften und ihr Gegeneinander in den neunziger Jahren. Bisky kritisiert anders als viele vor ihm nicht nur der Osten für dessen mangelnde Bereitschaft, sich zu verändern, er zeiht auch den Westen dieser Sünde. Der Westen hätte durch sein Herangehen an die deutsche Einheit zuerst produktive Potenzen der DDR-Wirtschaft zerstört, den Osten dann aber durch umfassende soziale Absicherung ruhig gestellt. Es sei den maßgeblichen politischen Akteuren mehr um die Ruhe in der Gegenwart, als um die Überwindung der dauerhaften und länger wirkenden produktiven wirtschaftlichen Schwächen gegangen: „die Bundesrepublik agierte in den frühen neunziger Jahren gleichsam staatssozialistisch.“ (70) Der ostdeutschen Wagenburgmentalität steht aus Sicht Biskys eine ebenso falsche westdeutsche Selbstgerechtigkeit an der Seite. (137)

Kritikfähig beschreibt er die Defizite des Ostens. Er nutzt dafür allerdings auch einen problematischen Begriff von Alexander Thumfart, der in einer 2002 bei Suhrkamp veröffentlichten Studie über die Integration Ostdeutschlands von einer „Duldungsstarre“ der Ostdeutschen spricht. (175) Damit wird eine spezifische Haltung gekennzeichnet, die sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre verfestigt habe. Bisky findet dafür den passenderen Begriff einer „stillen Gesellschaft“, einer „stillen Überlebensgemeinschaft“ (142), welche erkannte Konflikte nicht öffentlich austrägt, dafür sich in Ressentiments gegen oben und außen (d. h. gegen den Westen) vereint fühlt, die Öffentlichkeit meidet und sich nur erlaubt daheim (in der Familie, im Freundeskreis) zu kritisieren, gewissermaßen verantwortungsbefreit zu meckern. Als Konstrukt dieser nörgelnden Protestidentität sei im Osten die „Kleine-Leute-Gesellschaft“ (des Staatssozialismus) immer noch erhalten geblieben. Vorwurfsvoll verharre man „auf den unteren Rängen“. (115) Diese soziale Haltung in den neuen Bundesländern stehe quer zu den eigentlichen Anforderungen und entspreche auch nicht der tatsächlich stark differenzierten sozialen Lage Ostdeutscher. Wenn man sich die Analysen des Soziologen Rainer Geisler zu diesem letzten Punkt ansieht, muss man Bisky unbedingt Recht geben. „Die“ Ostdeutschen als unterschiedslose Wir-Gruppe sind ein Konstrukt. Ich würde trotzdem dieses Wir-Gefühl nicht in gleichem Maße wie Bisky als Hemmnis der Entwicklung ansehen – es reagiert nämlich auf die Überwältigung der Ostdeutschen nach 1990 durch die Art der deutschen Einheit und auf dabei entstehende Vermögens- und Machtunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen, die man sich eben nicht einfach aus dem Kopf schlagen kann. Das Wir-Gefühl ist auf der Suche nach einer möglichen kollektiven Bewältigungsstrategie.

Die geringere Präsens der Ostdeutschen in den Medien scheint mir anders als im rezensierten Buch auch nicht vor allem das Ergebnis irgendeiner privatisierenden, schmollenden Protestmentalität (einer Abschottungsstrategie des Ostens: 56) oder eines tradierten staatsozialistischen Ohnmachtgefühls zu sein. Sie hat aus meiner Sicht mit der geringeren Ressourcenausstattung der Ostdeutschen in der Welt der Massenmedien ebenso wie in der Sphäre der politischen Parteien zu tun. Bezogen auf die intermediären Institutionen hat Heidrun Abromeit dieses Defizit einmal als „Vertretungslücke“ bezeichnet. Aus meiner Sicht wirken hier strukturelle Ungleichgewichte, die ihrerseits Verhältnisse von Macht und Herrschaft repräsentieren. Aus beiden Unterschieden in der Deutung ergibt sich aus meiner Sicht auch eine andere politische Aufgabe – im Vordergrund steht eben nicht die Überwindung von Mentalitätsunterschieden durch das individuelle Wagnis der Freiheit sondern die Beseitigung institutionell verfestigter Demokratiedefizite des deutschen politischen Systems, um den besonderen Interessen der Ostdeutschen als Bürger des deutschen Gemeinwesens ein stärkeres Gewicht zu geben. Freiheit kann nicht nur Ergebnis eines individuellen Entschlusses sein, sie bedarf institutioneller Unterstützung.

Ähnlich würde ich in der Analyse der bisherigen Vereinigungsprozesse andere Schwerpunkte als Bisky setzen. Dafür zwei Beispiele: Zum einen verweist der Autor auf das Versagen der Treuhand in der Aufgabe, eine ostdeutsche Unternehmerklasse zu bilden (S. 76: das sei der eigentliche „Sündenfall“ der Privatisierung gewesen), unter den Ursachen hebt er dann allerdings die tradierte ideologische Verblendung der alten bundesrepublikanischen Eliten hervor, welche generell vor möglichen sozialen Unterschieden im Ergebnis einer stärkeren Beteiligung Ostdeutscher an der Privatisierung des Staatseigentums zurückgeschreckt sei. (76) Hier wäre es aus meiner Sicht sinnvoller gewesen, den wirksamen Strategien von starken Interessengruppen und Einzelkonzernen im Privatisierungsprozess genauer nachzuspüren. Zweitens kritisiert Jens Bisky einige Seiten des Elitenaustausches nach 1990. Er hebt Kränkungen und Demütigungen hervor, die bis heute nachwirken (130), betont den größeren Eifer beim Auswechseln der staatssozialistischen Eliten im Vergleich zum Elitenwechsel nach 1945 in den Westzonen. In seiner Argumentation fällt allerdings auch auf, dass immer wieder relativiert, die Schärfe der Wertung wieder zurückgenommen wird. So heißt es bei ihm, ein sanfter Elitenaustausch nach einer Revolution sei eine zwar wünschenswerte aber doch „einigermaßen wirklichkeitsfremde“ Vorstellung. (136) Wozu erst das Mitgefühl und die guten Worte, wenn es besser doch gar nicht gegangen wäre? Mir als einem Teilnehmer dieses Prozesses an den Universitäten Ostdeutschlands hingegen scheint es durchaus, dass man auch in einer grundlegenden Umbruchssituation vieles hätte anders erledigen können, als durch eine – vor allem in den Sozial- und Geisteswissenschaften zu beobachtende – ungezügelte Klientelpolitik zugunsten westdeutscher und zu Lasten ostdeutscher Bewerber. Als ob die Alternative allein in einer entweder umfassenden oder aber gar nicht stattfindenden Säuberung bestanden hätte, wie es mit dem Verweis auf die Stiftung Weimarer Klassik nahe gelegt wird. (137) Es ist weiterhin unangemessen, den Ostdeutschen ihre durch die institutionell und politisch gepanzerte Vormachtstellung der westdeutschen Eliten erzwungene Einsicht in ihre Unterlegenheit schließlich auch noch als Rückzug auf eine Sonderidentität Ost und in eine private Schmollecke vorzuwerfen. Es wäre umgekehrt höchste Zeit, die erstaunlichen Erfolge vieler ostdeutscher Wissenschaftler/innen unter anhaltend prekären Verhältnissen ohne Aussicht auf eine Perspektive dauerhafter Beschäftigung öffentlicher zu würdigen. Möglich wäre das auch auf den Seiten der liberalen „Süddeutschen Zeitung“.

Ich möchte abschließend eine der Thesen des Buches hervorheben, der ich mit unbedingt zustimmen möchte. Jens Bisky vermisst in der deutschen Politik eine wünschenswerte Alternative, ein anziehender Zukunftsentwurf, der Lust auf Experimente macht und die Neugierde der Einzelnen auf die unentdeckten Möglichkeiten unterstützt. Ich leide auch, wie er, an dem Geist von Reformen, die mit dem „Sex-Appeal von Brandschutzmaßnahmen“ daher kommen. (162) Das Bedürfnis nach Visionen, Utopien, Zukunftsentwürfen sind keine Krankheitssymptome, sie sind unentbehrlich für diejenigen, die sich vor dem Wagnis des Neuen nicht fürchten. Auch der „Kommunismus“ erfüllte einmal eine solche Aufgabe, bevor er sich in einer gewaltsamen und bürokratischen Diktatur diskreditierte. Nach dem Verlöschen dieses Glaubens ist manchen, auch mir, die Sehnsucht nach einer anziehenden Alternative geblieben. Bisky hat seine Utopie die „neue deutsche Frage“ genannt und eine „Kultur der Freiheitsgewinne“. Diesen Denken zumindest stehe ich näher als der verbreiteten Sehnsucht nach der Wiederkehr irgendeiner guten alten Zeit.