Report | Kulturation 1/2009 | Ronja Stock | Bolivianische Impressionen einer Korrespondentin
| Unsere
Amerikakorrespondentin Ronja Stock traf - aus Kuba kommend - in der
größten und wichtigsten der bolivianischen Städte, in La Paz ein,
gerade als der große Reformator Evo Morales in Moskau seine Europareise
begonnen hatte. Sie hat ihre Eindrücke für kulturation notiert und in mehreren e-Mails übermittelt. Teils werden diese Notizen hier nach den eingegangenen Dateien wiedergegeben.
In der höchsten (heimlichen) Hauptstadt der Welt (so um die 4000
über dem Meer) ist die Luft schon recht dünn: ganz oben wohnen die
Armen, in den tieferen und wärmeren Lagen, in der Zona Sur, die
Begüterten.
Alle Fotos sind Aufnahmen mit dem Korrespondentenhandy von R. Stock
Gleich hinter den Bergen liegt der größte Binnensee der Welt.
Ohne Bootsfahrt auf dem Titicacasee hat man nichts von Boliviens
Schönheit gesehen. Von Copacabana aus fuhr unsere Korrespondentin zur
Isla del Sol, der Sonneninsel. Ein historischer Ort, denn bekanntlich
hat hier der Sonnengott den ersten Inka auf die Erde gesetzt.
Seine Nachkommen hüten heute das Vieh, auch die Lamas, die die
beste Wolle der Welt „geben“. Und sie posieren für die internationalen
Touristen, die mit den Schiffen auf die Insel kommen.
Im Gegenzug reisen viele Indigenas in die Hauptstadt und betreiben
dort kleine Verkaufsstände. Dass sie die traditionelle Kleidung tragen,
macht sie zu Fotoobjekten, ist aber kaum der Aufforderung durch das
Tourismusbüro geschuldet.
Von La Paz aus steuerte unsere Korrespondentin Cochabamba an, eine
Großstadt leicht westlich von der Mitte Boliviens. Der wohlklingende
Name stammt aus der Sprache der Quechua: „sumpfige Ebene“. Bis nach
Berlin wurde er im Jahre 2000 bekannt, da brach in Cochabamba der
„Wasserkrieg“ aus, als die Einwohner gegen die erzwungene
Privatisierung der städtischen Wasserbetriebe kämpften, in deren Folge
der us-amerikanische Besitzer die Preise drastisch erhöht hatte. Das
Wasser gehört seitdem wieder der Stadt.
Im Herbst kommen aus dem Hochland viele arme Hochlandbäuerinnen.
Sie sind mit ihren Kindern auf Lastern viele hundert Kilometer
gefahren, um hier zu betteln.
Stock notiert: „Das Leben der Hochland-Indigenas ist durch die
strengen Witterungsbedingungen und den kargen Boden auf 3 und 4000m
Höhe so hart, dass die Frauen aus Potosi viele hundert Kilometer mit
ihren 2, 3 oder 4 kleinen Kindern fahren, um in Cochabamba ein paar
Wochen zu betteln. Während dieser Zeit leben sie auf der Straße.“
In allen Städten fallen die Indigenas in ihrer farbenprächtigen Kleidung auf.
Es folgte ein Besuch in der Unruheprovinz Chapare. Hierher waren
über die letzten drei Jahrzehnte indigene Campesinos und Minenarbeiter
gezogen, die auf der Hochebene ihre Existenzgrundlage verloren hatten.
Gegen den Willen und die Gewalt der Obrigkeit haben sie Chapare zum
Zentrum des Koka-Anbaus gemacht. Hier ist 1978 auch die Familie des
späteren Anführers ihres Widerstands hängen geblieben, der bald nicht
nur die Bewegung der Kokabauern führte, sondern auch den Movimento al
Socialismo (MAS) prägte. 1997 wurde Evo Morales für den MAS – damals
noch eine 4%-Partei – Parlamentsabgeordneter; seit Januar 2006 ist er
Präsident des Landes.
Unsere Korrespondentin machte zunächst in Villa Tunari, einer
Kleinstadt am Rio Chapare halt. „Nun sitze ich auf der Terrasse einer
Lodge in einem wunderschön angelegten tropischen Garten mitten in
dieser üppigen Natur, genieße den Stillstand nach den vielen
Erlebnissen und Gesprächen.
Ich weiß nicht, ob es jemals wieder aufhört zu regnen. Gestern gab
es ein paar trockene Stunden, die ich am Fluss verbrachte. Bolivien
fasziniert mich vor allem wegen des politisch neuen Versuchs von
Morales, der auf dem Lande und mindestens in La Paz sehr geschätzt wird
- wie gemalte Aufschriften an Mauern im Stile von "Evo si" bestätigen.
Und dann wegen der natürlichen Extreme, es gibt drei Klimazonen. Und
dann beeindruckt mich die Kultur der Indigenas - wie die Menschen mit
Indianerabstammung hier in Südamerika genannt werden.
Kultur und Religion sind lebendig und scheinen tief im Alltagsleben
verwurzelt. Selbst die bolivianische Popmusik hat starke Elemente der
traditionellen Musik. Frauen wie Männer sind oft ausgesprochen „schön“,
voll gelassener Anmut und mit klaren Gesichtern. Sobald man sie
anspricht, lächeln sie verschmitzt. Ihnen mehr Einfluss, ein besseres
Leben zu geben und ihre Kultur zu fördern, wie es Evo Morales
beabsichtigt, ist absolut unterstützenswert. Auch weil er in vielerlei
Hinsicht eine Alternative zur europäischen Kultur und Politik
entwickelt. Selbstverständlich wird er deshalb von den Mittel- und
Oberschichten abgelehnt, die amerika- und europaorientiert sind. Auch
die katholische Kirche bangt um ihre Existenz; sie hat hier weit
verzweigte Projekte - viele entstanden durch westdeutsche Initiative,
unter süddeutscher Leitung - eines für drogensüchtige Straßenkinder
habe ich besucht. Morales unterstellt ihnen - sicher nicht ganz
unberechtigt - politische Einflussnahme. Ich hoffe, dass er sein Volk
ähnlich instinktsicher durch die Fallstricke aller Widersacher führen
wird, wie es Fidel Castro über 50 Jahre vermochte.“
Stock notiert für uns: „Den Hochlandbauern, die mit etwa zwei
Dritteln den größten Teil der Bevölkerung ausmachen, könnten
DDR-Argarleute mit LPG-Erfahrungen sicher helfen. Sie würden, basierend
auf den Dorfgemeinschaften der Inkas, den Aufbau von Kooperativen
unterstützen und zugleich deren Kulturpflanzen und Pflanzenkultur
wiederbeleben, Landwirtschaftstechnik einführen und anwenden. Soweit
ich das erkennen konnte, gibt es aber kaum noch agrarische
Dorfgemeinschaften, sondern vor allem ganz bescheiden ausgestattete
Einzelhöfe. Da geht es den Cocabauern hier im Tiefland weitaus besser,
denn Coca bringt Geld. Allerdings haben die Amerikaner den Anbau für
illegal erklärt und maffiaartige Strukturen aufgebaut, um die
Pflanzungen zu vernichten, was für die Bauern große Verluste bedeutet.
Deshalb kämpft Morales für die Legalisierung des Cocaanbaus. Weil viele
Hochlandbauern ins attraktivere Tiefland abwandern, werden immer mehr
Regenwälder abgeholzt, um neue Cocaanbauflächen zu schaffen.“
Im Chapare beginnt mit dem Rio Chapare das Amazonasbecken. Im
Hintergrund die Gipfel der Anden. Doch unsere Korrespondentin zog es
weiter ostwärts an den Rio Ichilio. Es ging nach Puerto Villeroil, dem
ersten
Hafen an diesem Fluss. Hier ist es ihr gelungen, eine Hängematte
auf der San Aurelio zu buchen, die einen Benzintanker von hier nach
Trinidad schleppt. Zunächst ein Blick auf die Passagierkabine der San
Aurelio:
Diese Passage sollte Sozialkontakt mit Regenwald-Feeling pur
werden. Derartige Schiffsreisen sind hier ganz normal – seit Bolivien
seinen Zugang zum Meer im Salpeterkrieg 1884 verloren hat, spielten der
Amazonas und seine Zuflüsse eine wachsende wirtschaftliche Rolle. Und
so schipperte auch unsere Korrespondentin auf dem Ichilio in Richtung
Trinidad.
Stock notiert für uns: „Nun sitze ich auf dem Deck des kleinen
Tankers "San Aurelio" mit dem ich von Puerto Viarroel nach Trinidad
reise. Anderthalb Tage habe ich in Viarroel gewartet, bis der Tanker
mit 460 000 Liter Benzin gefüllt war, die vierspurige Dorfstraße von
ca. 300 m hinaufbummelnd, um etwas Essbares zu finden - bei schriller
Musik aus dem Karaoke-Automaten. Ich genieße den Anblick des
Regenwaldes und den Gleichlauf des Rio Iliochi. Der Fluss verändert
permanent seinen Lauf. Er wäscht die Kurven an ihren schnell fließenden
Außenseiten immer stärker aus, so dass Pflanzen, Bäume und Erde ins
Wasser stürzen, was das Wasser erdig verfärbt, und lagert das Material
an den Innenseiten an, so dass neue Flächen entstehen, auf denen als
erstes die üppigen Farne in den Himmel sprießen.
Vier Tage dauert die Passage und sie gehört zum Schönsten, was ich
erlebt habe. Nicht nur wegen der nahezu unberührten Natur und den
wenigen Indianersiedlungen, die wir am Flussufer sehen. Nur drei
Frachtschiffe und vielleicht 20 Kajaks sind uns in vier Tagen auf 600
km begegnet. Insgesamt fahren 15 Frachter auf dieser Strecke.“
Den Bezintank im Schlepp vor Augen notiert Stock weiter: „Ich
genieße das einfache Leben hier an. Bord. Ich habe wie die alltäglichen
Reisenden in einer Hängematte geschlafen, die einfachen Mahlzeiten der
Crew aus entweder getrocknetem Fleisch oder frischem Fisch mitgegessen;
es ist eine Kunst, ohne Kühlschrank zu leben. Und ich habe die
„einfachen Leute“ besser kennengelernt als alle anderen Indigenas,
denen ich – meinen Freund Rodrogo ausgenommen - immer nur flüchtig
begegnet bin. Diese sieben Männer - 16 der Jüngste, 60 der Kapitän als
Ältester - und Marisol arbeiten und leben gemeinsam, gleich einer
Familie, jeder hat eine Aufgabe, der Rest wird gemeinsam bewältigt. Sie
lachen und erzählen viel - was ich wegen der Mischung aus Quetchua und
Spanisch kaum verstehe. Hier ein Foto der Köchin Marisol (zusammen mit
ihrem Freund):
Drei der Jungen sind von ihren Eltern abgehauen und haben auf dem
Schiff - vielleicht erstmals - ein Zuhause gefunden. In Bolivien
verlassen viele Kinder ihre überforderten Familien vorzeitig mit 10
oder 12 Jahren, weil sie mehr Schläge als Essen bekommen. Sie leben
dann meist - in altersgemischten Gruppen - auf der Straße vom Stehlen.
Ihre Drogenkarriere ist vorprogrammiert, wie mir in Cochabamba Nicole,
die Initiatorin und Chefin vom Straßenkinderprojekt erklärte. Gegen die
Straße ist das Schiff eine paradiesische Alternative mit einem Dach
über Kopf, einem eigenen Bett, und drei Mal täglich Essen - auf die
ihre Kinder oft wochenlang gewartet haben.
Das erklärt wohl auch die disziplinierte Unterordnung unter den
Kapitän, der mit liebevoller Hand sehr konsequent führt - die
Routinearbeiten wie Anlanden und Festmachen laufen wortlos, sobald sich
der Abend neigt und der Käptn das Ufer ansteuert. Wenn es etwas zu
regeln gibt, z.B. ob von einem Indianerkajak, das am Schiff festmacht,
eine Oma nach Trinidad mitgenommen wird, eine junge Indianerin mit Baby
an der Brust sich vor dem peitschenden Regen schützen darf
oder ob ein prachtvoller Fisch, den Indianer bringen, gegen einen
Beutel Reis getauscht werden darf – immer entscheidet da der Kapitän.
Alles wird kommentarlos ausgeführt. Sie sind freundlich zueinander: Die
Jungs helfen gern der Köchin und sie ihnen beim Wäschewaschen; übrigens
alles mit Flusswasser. Auch die Körperreinigung mit dem Wassereimer als
Dusche. Und das sehr gründlich, mindestens zweimal täglich, bei
drückender Hitze häufiger. Es duftet immer nach der kernigen Frische
einfacher Seifen.“
Ronja Stock genoss das ruhige Leben auf dem Fluss, klagte aber
auch: „Leider gab es auf dem Schiff nur an zwei Abenden Strom. Und nur
dann, wenn nach Einbruch der Dunkelheit der lärmende Generator
angeschmissen wurde, um den Fernseher einzuschalten. An einem Abend
wurden Videos einer verkitschten Band angeschaut, am zweiten Abend gab
es amerikanische Filme, die mit dem Dschungelleben soviel zu tun haben,
wie Afrika mit Eskimos. Das war wirklich hart und ich sage mir: Die
Macht des amerikanischen Fernsehens konstituiert die Macht des
amerikanischen Kapitalismus. Übrigens war der Kapitän nie dabei und am
zweiten Abend meiner Reise verbot er das Anwerfen des Generators, weil
wir ganz nahe einer Indianersiedlung festgemacht hatten. Die drei
Matrosen, die nicht zum Angeln waren, nahmen es ohne zu murren hin und
verzogen sich blitzschnell in ihre Kajüten unter die Moskitonetze. Denn
die Stechtierchen werden, sobald kein frischer Fahrtwind mehr weht,
richtig brutal. Um in den Tropen zu überleben, ist es eine
Grundbedingung, sich immer und immer wieder einzucremen und trotz der
Hitze eine lange, stichfeste Kleidung zu tragen. Kurz, als ich
kulturation versprach, vom Schiff aus Nachträge zu liefern, wusste ich
nicht, dass es dafür keinen Strom geben wird.“
Inzwischen ist unsere Korrespondentin in Trinidad eingetroffen und
nach kurzem Aufenthalt weiter nach Santa Cruz geflogen. Von dort ihre
letzte Nachricht: einige Fotos vom beginnenden Karneval.
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