KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
 Start  Reports  Themen  Texte  Zeitdokumente  Kritik  Veranstaltungen 
 
 Editorial  Impressum     
ReportKulturation 1/2009
Ronja Stock
Bolivianische Impressionen einer Korrespondentin
Unsere Amerikakorrespondentin Ronja Stock traf - aus Kuba kommend - in der größten und wichtigsten der bolivianischen Städte, in La Paz ein, gerade als der große Reformator Evo Morales in Moskau seine Europareise begonnen hatte. Sie hat ihre Eindrücke für kulturation notiert und in mehreren e-Mails übermittelt. Teils werden diese Notizen hier nach den eingegangenen Dateien wiedergegeben.

In der höchsten (heimlichen) Hauptstadt der Welt (so um die 4000 über dem Meer) ist die Luft schon recht dünn: ganz oben wohnen die Armen, in den tieferen und wärmeren Lagen, in der Zona Sur, die Begüterten.

Blick auf die Hauptstadt
Alle Fotos sind Aufnahmen mit dem Korrespondentenhandy von R. Stock

Gleich hinter den Bergen liegt der größte Binnensee der Welt. Ohne Bootsfahrt auf dem Titicacasee hat man nichts von Boliviens Schönheit gesehen. Von Copacabana aus fuhr unsere Korrespondentin zur Isla del Sol, der Sonneninsel. Ein historischer Ort, denn bekanntlich hat hier der Sonnengott den ersten Inka auf die Erde gesetzt.

auf der Isla del Sol

Seine Nachkommen hüten heute das Vieh, auch die Lamas, die die beste Wolle der Welt „geben“. Und sie posieren für die internationalen Touristen, die mit den Schiffen auf die Insel kommen.

Touristenboot

Im Gegenzug reisen viele Indigenas in die Hauptstadt und betreiben dort kleine Verkaufsstände. Dass sie die traditionelle Kleidung tragen, macht sie zu Fotoobjekten, ist aber kaum der Aufforderung durch das Tourismusbüro geschuldet.

Fotoobjekte

Von La Paz aus steuerte unsere Korrespondentin Cochabamba an, eine Großstadt leicht westlich von der Mitte Boliviens. Der wohlklingende Name stammt aus der Sprache der Quechua: „sumpfige Ebene“. Bis nach Berlin wurde er im Jahre 2000 bekannt, da brach in Cochabamba der „Wasserkrieg“ aus, als die Einwohner gegen die erzwungene Privatisierung der städtischen Wasserbetriebe kämpften, in deren Folge der us-amerikanische Besitzer die Preise drastisch erhöht hatte. Das Wasser gehört seitdem wieder der Stadt.

Im Herbst kommen aus dem Hochland viele arme Hochlandbäuerinnen. Sie sind mit ihren Kindern auf Lastern viele hundert Kilometer gefahren, um hier zu betteln.

Bettlerin mit Kind

Stock notiert: „Das Leben der Hochland-Indigenas ist durch die strengen Witterungsbedingungen und den kargen Boden auf 3 und 4000m Höhe so hart, dass die Frauen aus Potosi viele hundert Kilometer mit ihren 2, 3 oder 4 kleinen Kindern fahren, um in Cochabamba ein paar Wochen zu betteln. Während dieser Zeit leben sie auf der Straße.“

In allen Städten fallen die Indigenas in ihrer farbenprächtigen Kleidung auf.

Indianerin mit ihren Kindern

Es folgte ein Besuch in der Unruheprovinz Chapare. Hierher waren über die letzten drei Jahrzehnte indigene Campesinos und Minenarbeiter gezogen, die auf der Hochebene ihre Existenzgrundlage verloren hatten. Gegen den Willen und die Gewalt der Obrigkeit haben sie Chapare zum Zentrum des Koka-Anbaus gemacht. Hier ist 1978 auch die Familie des späteren Anführers ihres Widerstands hängen geblieben, der bald nicht nur die Bewegung der Kokabauern führte, sondern auch den Movimento al Socialismo (MAS) prägte. 1997 wurde Evo Morales für den MAS – damals noch eine 4%-Partei – Parlamentsabgeordneter; seit Januar 2006 ist er Präsident des Landes.

Unsere Korrespondentin machte zunächst in Villa Tunari, einer Kleinstadt am Rio Chapare halt. „Nun sitze ich auf der Terrasse einer Lodge in einem wunderschön angelegten tropischen Garten mitten in dieser üppigen Natur, genieße den Stillstand nach den vielen Erlebnissen und Gesprächen.

Ich weiß nicht, ob es jemals wieder aufhört zu regnen. Gestern gab es ein paar trockene Stunden, die ich am Fluss verbrachte. Bolivien fasziniert mich vor allem wegen des politisch neuen Versuchs von Morales, der auf dem Lande und mindestens in La Paz sehr geschätzt wird - wie gemalte Aufschriften an Mauern im Stile von "Evo si" bestätigen. Und dann wegen der natürlichen Extreme, es gibt drei Klimazonen. Und dann beeindruckt mich die Kultur der Indigenas - wie die Menschen mit Indianerabstammung hier in Südamerika genannt werden.

Kultur und Religion sind lebendig und scheinen tief im Alltagsleben verwurzelt. Selbst die bolivianische Popmusik hat starke Elemente der traditionellen Musik. Frauen wie Männer sind oft ausgesprochen „schön“, voll gelassener Anmut und mit klaren Gesichtern. Sobald man sie anspricht, lächeln sie verschmitzt. Ihnen mehr Einfluss, ein besseres Leben zu geben und ihre Kultur zu fördern, wie es Evo Morales beabsichtigt, ist absolut unterstützenswert. Auch weil er in vielerlei Hinsicht eine Alternative zur europäischen Kultur und Politik entwickelt. Selbstverständlich wird er deshalb von den Mittel- und Oberschichten abgelehnt, die amerika- und europaorientiert sind. Auch die katholische Kirche bangt um ihre Existenz; sie hat hier weit verzweigte Projekte - viele entstanden durch westdeutsche Initiative, unter süddeutscher Leitung - eines für drogensüchtige Straßenkinder habe ich besucht. Morales unterstellt ihnen - sicher nicht ganz unberechtigt - politische Einflussnahme. Ich hoffe, dass er sein Volk ähnlich instinktsicher durch die Fallstricke aller Widersacher führen wird, wie es Fidel Castro über 50 Jahre vermochte.“

Beginn des Amazonasbeckens

Stock notiert für uns: „Den Hochlandbauern, die mit etwa zwei Dritteln den größten Teil der Bevölkerung ausmachen, könnten DDR-Argarleute mit LPG-Erfahrungen sicher helfen. Sie würden, basierend auf den Dorfgemeinschaften der Inkas, den Aufbau von Kooperativen unterstützen und zugleich deren Kulturpflanzen und Pflanzenkultur wiederbeleben, Landwirtschaftstechnik einführen und anwenden. Soweit ich das erkennen konnte, gibt es aber kaum noch agrarische Dorfgemeinschaften, sondern vor allem ganz bescheiden ausgestattete Einzelhöfe. Da geht es den Cocabauern hier im Tiefland weitaus besser, denn Coca bringt Geld. Allerdings haben die Amerikaner den Anbau für illegal erklärt und maffiaartige Strukturen aufgebaut, um die Pflanzungen zu vernichten, was für die Bauern große Verluste bedeutet. Deshalb kämpft Morales für die Legalisierung des Cocaanbaus. Weil viele Hochlandbauern ins attraktivere Tiefland abwandern, werden immer mehr Regenwälder abgeholzt, um neue Cocaanbauflächen zu schaffen.“

Im Chapare beginnt mit dem Rio Chapare das Amazonasbecken. Im Hintergrund die Gipfel der Anden. Doch unsere Korrespondentin zog es weiter ostwärts an den Rio Ichilio. Es ging nach Puerto Villeroil, dem ersten

Puerto Villeroil

Hafen an diesem Fluss. Hier ist es ihr gelungen, eine Hängematte auf der San Aurelio zu buchen, die einen Benzintanker von hier nach Trinidad schleppt. Zunächst ein Blick auf die Passagierkabine der San Aurelio:

Passagierkabine

Diese Passage sollte Sozialkontakt mit Regenwald-Feeling pur werden. Derartige Schiffsreisen sind hier ganz normal – seit Bolivien seinen Zugang zum Meer im Salpeterkrieg 1884 verloren hat, spielten der Amazonas und seine Zuflüsse eine wachsende wirtschaftliche Rolle. Und so schipperte auch unsere Korrespondentin auf dem Ichilio in Richtung Trinidad.

Regenwald

Stock notiert für uns: „Nun sitze ich auf dem Deck des kleinen Tankers "San Aurelio" mit dem ich von Puerto Viarroel nach Trinidad reise. Anderthalb Tage habe ich in Viarroel gewartet, bis der Tanker mit 460 000 Liter Benzin gefüllt war, die vierspurige Dorfstraße von ca. 300 m hinaufbummelnd, um etwas Essbares zu finden - bei schriller Musik aus dem Karaoke-Automaten. Ich genieße den Anblick des Regenwaldes und den Gleichlauf des Rio Iliochi. Der Fluss verändert permanent seinen Lauf. Er wäscht die Kurven an ihren schnell fließenden Außenseiten immer stärker aus, so dass Pflanzen, Bäume und Erde ins Wasser stürzen, was das Wasser erdig verfärbt, und lagert das Material an den Innenseiten an, so dass neue Flächen entstehen, auf denen als erstes die üppigen Farne in den Himmel sprießen.

Vier Tage dauert die Passage und sie gehört zum Schönsten, was ich erlebt habe. Nicht nur wegen der nahezu unberührten Natur und den wenigen Indianersiedlungen, die wir am Flussufer sehen. Nur drei Frachtschiffe und vielleicht 20 Kajaks sind uns in vier Tagen auf 600 km begegnet. Insgesamt fahren 15 Frachter auf dieser Strecke.“

Benzintanker im Schlepp

Den Bezintank im Schlepp vor Augen notiert Stock weiter: „Ich genieße das einfache Leben hier an. Bord. Ich habe wie die alltäglichen Reisenden in einer Hängematte geschlafen, die einfachen Mahlzeiten der Crew aus entweder getrocknetem Fleisch oder frischem Fisch mitgegessen; es ist eine Kunst, ohne Kühlschrank zu leben. Und ich habe die „einfachen Leute“ besser kennengelernt als alle anderen Indigenas, denen ich – meinen Freund Rodrogo ausgenommen - immer nur flüchtig begegnet bin. Diese sieben Männer - 16 der Jüngste, 60 der Kapitän als Ältester - und Marisol arbeiten und leben gemeinsam, gleich einer Familie, jeder hat eine Aufgabe, der Rest wird gemeinsam bewältigt. Sie lachen und erzählen viel - was ich wegen der Mischung aus Quetchua und Spanisch kaum verstehe. Hier ein Foto der Köchin Marisol (zusammen mit ihrem Freund):

Die Köchin und ihr Freund

Drei der Jungen sind von ihren Eltern abgehauen und haben auf dem Schiff - vielleicht erstmals - ein Zuhause gefunden. In Bolivien verlassen viele Kinder ihre überforderten Familien vorzeitig mit 10 oder 12 Jahren, weil sie mehr Schläge als Essen bekommen. Sie leben dann meist - in altersgemischten Gruppen - auf der Straße vom Stehlen. Ihre Drogenkarriere ist vorprogrammiert, wie mir in Cochabamba Nicole, die Initiatorin und Chefin vom Straßenkinderprojekt erklärte. Gegen die Straße ist das Schiff eine paradiesische Alternative mit einem Dach über Kopf, einem eigenen Bett, und drei Mal täglich Essen - auf die ihre Kinder oft wochenlang gewartet haben.


Mittagessen der Mannschaft

Das erklärt wohl auch die disziplinierte Unterordnung unter den Kapitän, der mit liebevoller Hand sehr konsequent führt - die Routinearbeiten wie Anlanden und Festmachen laufen wortlos, sobald sich der Abend neigt und der Käptn das Ufer ansteuert. Wenn es etwas zu regeln gibt, z.B. ob von einem Indianerkajak, das am Schiff festmacht, eine Oma nach Trinidad mitgenommen wird, eine junge Indianerin mit Baby an der Brust sich vor dem peitschenden Regen schützen darf

Pepe mit dem Fisch

oder ob ein prachtvoller Fisch, den Indianer bringen, gegen einen Beutel Reis getauscht werden darf – immer entscheidet da der Kapitän. Alles wird kommentarlos ausgeführt. Sie sind freundlich zueinander: Die Jungs helfen gern der Köchin und sie ihnen beim Wäschewaschen; übrigens alles mit Flusswasser. Auch die Körperreinigung mit dem Wassereimer als Dusche. Und das sehr gründlich, mindestens zweimal täglich, bei drückender Hitze häufiger. Es duftet immer nach der kernigen Frische einfacher Seifen.“

Mannschaft auf der Bruecke

Ronja Stock genoss das ruhige Leben auf dem Fluss, klagte aber auch: „Leider gab es auf dem Schiff nur an zwei Abenden Strom. Und nur dann, wenn nach Einbruch der Dunkelheit der lärmende Generator angeschmissen wurde, um den Fernseher einzuschalten. An einem Abend wurden Videos einer verkitschten Band angeschaut, am zweiten Abend gab es amerikanische Filme, die mit dem Dschungelleben soviel zu tun haben, wie Afrika mit Eskimos. Das war wirklich hart und ich sage mir: Die Macht des amerikanischen Fernsehens konstituiert die Macht des amerikanischen Kapitalismus. Übrigens war der Kapitän nie dabei und am zweiten Abend meiner Reise verbot er das Anwerfen des Generators, weil wir ganz nahe einer Indianersiedlung festgemacht hatten. Die drei Matrosen, die nicht zum Angeln waren, nahmen es ohne zu murren hin und verzogen sich blitzschnell in ihre Kajüten unter die Moskitonetze. Denn die Stechtierchen werden, sobald kein frischer Fahrtwind mehr weht, richtig brutal. Um in den Tropen zu überleben, ist es eine Grundbedingung, sich immer und immer wieder einzucremen und trotz der Hitze eine lange, stichfeste Kleidung zu tragen. Kurz, als ich kulturation versprach, vom Schiff aus Nachträge zu liefern, wusste ich nicht, dass es dafür keinen Strom geben wird.“

Inzwischen ist unsere Korrespondentin in Trinidad eingetroffen und nach kurzem Aufenthalt weiter nach Santa Cruz geflogen. Von dort ihre letzte Nachricht: einige Fotos vom beginnenden Karneval.

Karneval in Santa Cruz