Report | Kulturation | Kaspar Maase | Popkultur - vom kulturellen Rand zum kulturellen Mainstream?
Kulturpolitisches Kolloquium Loccum
| Popkultur
war Thema auf dem 60. Loccumer Kulturpolitischen Kolloquium. An drei
Tagen (20. bis 22. Februar 2015) ging es da spezieller um
"Kulturpolitik für die Popkultur". Der Tübinger Kulturwissenschaftler
Kaspar Maase war eingeladen, zum Auftakt Grundsätzliches über die
Bedeutung der Popkultur "für die Gegenwartsgesellschaft und die
Aufgaben der Kulturpolitik" zu sagen. Seit mehr als vier Jahrzehnten[1]
hat Kaspar Maase die Wandlungen der Populärkultur wissenschaftlich
beobachtet und in seinen Publikationen dokumentiert, wie Popkultur zum
Gegenmodell für den alten Hochkultur-Kanon wurde und sich zunehmend als
die Hoch- und Bildungskultur der Postmoderne versteht - die kreative
Impulse aus der "Hochkultur wie aus dem Mainstream der Populärkultur
aufnimmt. Wer sich in diesem Felde kulturpolitisch positionieren will,
sollte auf die Publikationen von Maase zurückgreifen[2]. Die
Druckfassung seines Beitrags auf dem Loccumer Kolloqium wird im März in
den "Kulturpolitischen Mitteilungen" Nr. 148, I/2015 erscheinen -
zusammen mit einem ausführlichen Tagungsbericht.
„Kulturpolitik für die Popkultur“ – aber welche Popkultur?
Ein Plädoyer für den Mainstream
I.
Im letzten Halbjahrhundert ist kommerziell Populäres auf neue Weise
in die Mitte der Kultur gerückt – gemessen an der Zeit, die wir damit
verbringen, gemessen an der Bedeutung für individuelle Selbstbildung,
gemessen an Umsatz und Beschäftigung, gemessen an der Aufmerksamkeit,
die Wissenschaft und Premium-Feuilletons dem widmen, gemessen an der
Bedeutung als Ressource künstlerischer Innovation, gemessen schließlich
an dem, was man gesellschaftliche Anerkennung nennen mag.
Zum Verständnis der Veränderungen zunächst ein Blick zurück ins 19.
Jahrhundert, weil da der Aufstieg moderner Populärkultur begann. Und
weil wir dort sehen, dass ein verbreitetes Denkmuster – der guten,
anspruchsvollen Hochkultur steht eine zweifelhafte Massenkultur
gegenüber – schon damals zu schlicht war.
Die tonangebenden Deutschen, die Bürger, zogen nämlich seit dem 19.
Jahrhundert eine strikte Grenzlinie zwischen dem harmlosen und dem
gefährlichen Populären, zwischen legitimer und illegitimer Vergnügung.
Unverkennbar zog man diese Grenze im Alltag, mit der Entscheidung für
und gegen konkrete Kulturangebote. Man hatte Goethe, Schiller,
Büchmanns Zitatenschatz repräsentativ im Bücherschrank; doch praktisch
präferierten auch die Oberschichten und die Bürger, mit Ausnahme einer
kleinen Minderheit von Bildungsbürgern, das Reizvolle, Eingängige,
Spektakuläre, sinnlich Überwältigende. So unterschied man um 1900
„Amüsement“ und „gepflegte Unterhaltung“ (die eigene Vergnügung also)
von „Schund“ und „Afterkunst“ (dem Vergnügen der anderen, der Arbeiter
und Kleinbürger). Hier Operette und Musiktheater, Revue und Varieté,
Conan Doyle und Fortsetzungsromane – dort Gassenhauer und
Groschenhefte, billiger Kintopp und Witzblätter.
In den folgenden Jahrzehnten änderten sich Genres und Etiketten,
nicht aber die grundsätzliche Zweiteilung des Populären. In der jungen,
restaurativ orientierten Bundesrepublik bekämpfte man „Schund“,
„Kitsch“, Comics, „Gangsterfilme“ mit Eifer; antiamerikanische und
antikommerzielle Argumente verdichteten sich zum Feindbild der
„Massenkultur“. Andererseits bezog man in die „gute Unterhaltung“
Richtungen des Jazz ein und erteilte dem neuen Fernsehen programmatisch
einen Bildungsauftrag. Was zur guten, sauberen und was zur gefährlich
schmutzigen Unterhaltung gehören sollte, war in Einzelfällen
umstritten. Dass es sich jedoch grundsätzlich um eine sinnvolle
Unterscheidung handelte, blieb weithin Konsens.
II.
Diese Selbstgewissheit produzierte seit den späten 1950ern durchaus
ungewollte Effekte. Damals begann in ganz Westeuropa eine Entwicklung,
die das tradierte Dreiebenenmodell – Hochkultur / anerkannte und gute
Unterhaltung / problematische Massen- und Trivialkultur – erschütterte:
Es begann der Siegeszug der Popkultur auch und gerade in der
bürgerlichen Jugend.
Womit zog diese Popkultur die Kinder der gebildeten Mittelschicht
so unwiderstehlich an? Es begann mit dem Rock’n’Roll, der seit 1956
Deutschland polarisierte. Halbstarke Arbeiterjugendliche forderten mit
Bill Haley und wilden Tänzen die restaurative Ordnung heraus und
verlangten mehr amerikanischen Fortschritt; die Öffentlichkeit
debattierte über den – so zeitgenössische Headlines – „Terror der
Halbstarken“. Im Windschatten der Aufregung über die Unterschichten
begannen sich Jungs und Mädchen auf den Gymnasien über das empowerment
zu verständigen, das dem harten, direkten Sound abzugewinnen war: über
seine rebellische Kraft gegen die spießig-autoritäre Welt der Alten und
gegen eine Kultur, die ihnen als wahr, gut und schön aufgenötigt wurde
und sie nach eigenem Empfinden daran hinderte, ihre Jugend zu genießen.
Das wurde dann mit der Beatlemania zur öffentlichen
Protestbewegung. Rockmusik erlebte seit der Mitte der 1960er eine
Kreativitätsexplosion; sie wurde anschlussfähig an musikalische und
performative Avantgarden einerseits, an traditionelle Musizierweisen
und Institutionen andererseits („Symphonic Rock“). Zunehmend
selbstbewusste Klangkünstler erhoben Rockmusik zum Medium der
Ausbruchs- und Alternativsehnsüchte der Mittelschichtjugend; Rock wurde
Kraftzentrum einer weltweiten Gegenkultur. Und diese Gegenkultur konnte
– wie vorher nur die Klassik – das Wahre, Gute und Schöne in einer
entfremdeten Welt zum Gegenstand überwältigender sinnlicher Erfahrung
machen.
Kurzum: Pop forderte den alten Hochkultur-Kanon auf Augenhöhe
heraus. Pop prägte Erfahrungen, Gefühle, Bildungsprozesse einer
Generation heranwachsender Eliten, nicht zuletzt kultureller Eliten.
Und trotz aller Erfolge beim Weg ins kulturelle Zentrum blieben im
Pop-Kontext „oppositionelle Modelle für das Verhältnis … zum Ganzen der
Gesellschaft als Selbstbeschreibung dominant“ (Diedrich Diederichsen).
Pop war alternativ, nicht konform, und verstand sich zunehmend als die
bessere Hoch- und Bildungskultur der Postmoderne. Das heißt: In der
Gegenwart gibt es zwei Varianten von Hochkultur: neben der
traditionellen jetzt auch eine popmoderne.
Allerdings: Popkulturelles Urteil muss sich deutlich abheben vom
Mainstreamgeschmack der Vielen; am populären Material sind Anspruch,
Originalität und Tiefgründigkeit des eigenen Stils zu demonstrieren.
Mein Lieblingsbeispiel dafür ist die wirklich witzige Besprechung einer
Lindenstraßen-Folge schon vor vielen Jahren, die sich spielerisch der
Luhmannschen Systemtheorie bedient – geschrieben bereits 1992 mit der
Edelfeder von Gustav Seibt.
Pop hat traditionelle Bildungskompetenz mit subkulturellen und
avantgardistischen Elementen aus der Populärkultur zu einem zeitgemäßen
Hybrid zusammengeführt. Oberste Regel dabei: Auf keinen Fall
Mainstream! Weder verstaubte, pathosverklebte Klassik noch Hits aus dem
Dudelfunk oder gehobenes Entertainment bei Schampus und Häppchen. Diese
Entwicklung hat das Dreiebenenmodell aus Hochkulturkanon, guter
Unterhaltung und trivialer Massenkultur endgültig aufgelöst.
Ich will die Knackpunkte noch einmal herausheben. Die Proportionen
von „ernster, bildender Hochkultur“ einerseits – populärer,
unterhaltender Kultur andererseits haben sich hierzulande seit dem
frühen 20. Jahrhundert nicht grundlegend geändert. Mit Ausnahme der
Bildungsschichten schätzen und nutzen die Deutschen überwiegend oder
einzig Populärkultur; so betrachtet, bildet sie das Zentrum deutscher
Kultur. Das ist also nicht neu. Massiv gewandelt hat sich die Bewertung
des Sachverhalts. Die Stigmatisierung des populären Mainstreams ist
einer Mischung von Sorge und Verständnis gewichen, und Kenntnisse des
Populären können zum kulturellen Kapital beitragen. Popkultur im
beschriebenen Sinn ist sogar zum elitären Kulturmuster avanciert.
III.
Die kulturelle Landschaft ist also mächtig in Bewegung,
Abgrenzungen verschwimmen und werden ständig neu gezogen. In dieser
Situation formuliert „Kulturpolitik für die Popkultur“ viele Fragen,
aber noch kein konsistentes Programm. Denn es stehen ganz
unterschiedliche Vorstellungen von Pop im Raum.
Um ein wenig Ordnung in die Debatte zu bringen, greife ich einen
Vorschlag des Kulturwissenschaftlers Marcus S. Kleiner auf. Er sieht
hierzulande vereinfachend, aber durchaus hilfreich, zwei Lesarten von
Pop; sie bilden zwei Seiten einer Medaille. Einerseits Pop als Medium
der Rebellion und des Widerstandes, als „Einspruch gegen die Ordnungs-
und Ausschlusssysteme der Dominanzkultur“; dies gilt als authentisch
und kulturell anspruchsvoll. Das Gegenbild ist Pop als Konsum,
minderwertig, affirmativ, Mainstream. „Pop als Rebellion wird zumeist
der Status autonomer, widerständiger, inkommensurabler Kunst im
hochkulturellen Verständnis zugeschrieben, Pop als Konsum unterliegt
dem Verdacht kulturindustrieller Standardisierung und
Instrumentalisierung.“
Das ist freilich analytisch zugespitzt. Aktuelle Kommentare klingen
längst nicht so eindeutig; förderungswürdiger Pop wird meist nur vage
bestimmt. Nehmen wir die Versuche des Deutschen Kulturrates, Populäre
Kultur in die „Mitte der Kulturpolitik“ zu rücken. Der Bereich entziehe
sich jeder eindeutigen Zuordnung, heißt es. Er umfasse „das leicht
Konsumierbare, den Hit“ ebenso wie „moderne Kunstformen“ als „bewusste
Abkehr vom Mainstream“. Kunst, Kitsch und Markt lägen nahe beieinander,
das mache die „Ambivalenz Populärer Kultur“ aus (Olaf Zimmermann).
Offenbar gibt es Bereiche des Populären, mit denen sich die
Kulturförderung unwohl fühlt – vermutlich das, was als anspruchslos
gilt. Denn negative und auch aggressive Lesarten von Massenkultur als
Schund und Massenbetrug sind hierzulande durchaus noch lebendig. Da
geht es nicht um Förderung, sondern um Eindämmung, Überwindung oder
zumindest Verdammung.
IV.
Es ist diese Tendenz zur Abwertung des Mainstreams, die mir
Bauchschmerzen macht. Gar nicht so sehr, wenn konkrete Genres, Formate,
Werke kritisiert und als ekelhaft oder menschenverachtend angeprangert
werden. Darüber kann und muss man in der Sache diskutieren, und nicht
selten kann man die Urteile nachvollziehen. Schwierig wird es, wenn man
bei Kritikern und Politikern auf einen schweigenden Konsens trifft,
wonach große Bereiche der Massenkultur fraglos kulturell wertlos seien.
Dass zig Millionen Deutsche solche Angebote lieben, spielt da keine
Rolle. Wer meint, man sollte den Mainstream doch mal mit den Augen
seiner Nutzer anschauen, läuft gegen Gummiwände.
Solche unsichtbaren Wände sehe ich auch in der Debatte um
Kulturpolitik für die Popkultur. Da gibt es vor allem zwei
Referenzsysteme: Ökonomie und Ästhetik. Als unterstützenswert gilt, was
zukünftigen Markterfolg und/oder künstlerische Qualität verspricht. Und
„Unterschichtfernsehen“ (um das ressentimentgeladene Schlagwort
beispielhaft aufzugreifen) ist hier einfach kein Thema. „Ist es denn
nicht schlimm genug, dass es all diesen Schund und Schrott von der
Stange auf dem Markt gibt, zugänglich für jedermann? Welchen Grund
sollte es geben, hier über Kulturförderung auch nur nachzudenken?“
Ich wüsste einen. Dazu muss man allerdings aufhören, den eigenen
Geschmack für allgemeinverbindlich zu halten. Dann fiele nämlich die
Tatsache ins Gewicht, dass die Mehrheit unserer Mitbürger ihre
ästhetischen Erfahrungen im Wesentlichen mit Mainstream-Material macht;
also vereinfacht: nicht im Kulturbetrieb, sondern in Fernsehen,
Internet, Musikradio – mit (Entschuldigung für die Beispiele, die stets
unfair klingen) Helene Fischer und Daily Soaps, Discopop und
Gangstarap, Sitcoms und Actionkino, lokalem Popmusikradio und
Liebesromanen im Taschenheft, Youtubeformaten und Bildern aus dem
Postershop. Dieses Publikum empfindet den Hunger nach Schönheit nicht
weniger stark als Opernabonnenten, Vernissagebesucher und Spex-Leser.
Es greift allerdings nach einem anderen Repertoire, um ästhetisches
Vergnügen und ästhetische Erkenntnis zu erleben.
Diese Mitbürger greifen nach hoch professionell gemachten
Massenkünsten, zugeschnitten auf Alltagsstruktur, Erfahrungen und
Träume von Menschen, für die ein gutes Leben eine recht anstrengende
Aufgabe darstellt. An solchem Material bildet die Mehrheit ihre
ästhetischen Erwartungen, Vergleichsmöglichkeiten, Genussweisen und
Reflexionsmodi. Ich spreche von Massenkünsten, weil bei allen
Unterschieden das Erleben von Blues und Beethoven, Discotanz und
Opernball, Blockbuster und Entwicklungsroman, Vermeer-Reproduktion und
Kaufhausbild doch in dieselbe Richtung weist: Man sucht intensive
Erfahrung und tieferes Verständnis des eigenen Selbst und der Welt, in
der dieses Ich sich bewegt; man sucht Empfindungen,
sinnlich-körperliche Sensationen, Einsichten und die Glücksgefühle, die
Schönheit und Erhabenheit vermitteln können.
Ich sprach etwas vollmundig von einer kopernikanischen Wende. Was
ist gemeint? Wir denken Kulturpolitik und Kulturförderung
angebotsorientiert, von der Produktionsseite her: Man fördert
KünstlerInnen und Institutionen, die qualitätvolle Werke anbieten und
verbreiten. Nutzer kommen ins Bild als diejenigen, die indirekt von
Kulturförderung profitieren – aber sie stehen nicht am Ausgangspunkt
der Überlegungen. Deswegen gelten Kulturindustrien, die erfolgreich für
ein Massenpublikum produzieren und damit ordentlich Geld verdienen, als
Bereich, um den man sich nicht zu kümmern braucht. Das stellt sich anders dar, wenn wir vom Anspruch aller Bürger
auf ästhetischen Genuss und kulturelle Entfaltung ausgehen. „Anspruch“
meint kein abstrakte Chance nach dem Muster „Jeder Deutsche hat die
Chance, Millionär zu werden“. Sondern eine nüchterne und vorurteilslose
Prüfung, welche Möglichkeiten zur Teilhabe die Mehrheit wirklich nutzt:
eben Mainstream und Massenware. Diesen Menschen sollten wir nicht mit
Rilke empfehlen: Du musst Dein Leben ändern! Wechsle zu ARD und ZDF,
geh ins Programmkino, in den Jazzclub oder zur Volkshochschule, folge
der Bestenliste des SWR, besuch mal unsere Einführung im Museum für
Moderne Kunst.
Was ansteht, ist ein veritabler Paradigmenwechsel (ich spitze jetzt
frech zu): Weg von einer kulturellen Bildung, die vor allem schützen
und imprägnieren will gegen Massenkultur, gegen vermutete Verführung,
Verdummung und Vernichtung ästhetischer Sensibilität – hin zu
Programmen, die reicheres Vergnügen und menschliches Gedeihen aus dem
Umgang mit Mainstream-Künsten zum Ziel haben. Auf deren Spielregeln und
Qualitätsmaßstäbe sollten Experten und Verantwortliche sich einlassen,
Erfahrungen und Kenntnisse von Fans und Publika ernst nehmen und
überlegen, wie realistische Chancen zur Qualifizierung dieser
Kenntnisse und Kompetenzen eröffnet werden können.
V.
Abschließend noch etwas konkreter zu möglichen Ansatzpunkten. Sie
haben gemerkt, ich spreche ohne Bedenken von Massenkünsten und
ästhetischen Erfahrungen ihrer Rezipienten. Damit will ich auch sagen:
Die Produzenten dieser Angebote sind Künstler wie alle anderen, denen
wir diesen respektheischenden Titel zugestehen, und sie haben, wir
haben Anspruch auf eine Kritik, die ihrer Arbeit gerecht wird. Es sind
nun mal Künste eigener Art, sehr anders als der Bereich der etablierten
Musen. Sie müssen sich im Alltag behaupten, und sie müssen der
Unterhaltung von Menschen dienen, die keine Experten, keine Profis,
keine hochgebildeten Connaisseurs des entsprechenden Genres sind,
sondern interessierte (manchmal überwältigend kenntnisreiche) Laien,
die sich vergnügen wollen. Sie vergnügen sich mit allem, was sie
angeht, sie berührt, was in ihren Lebensverhältnissen zu Genuss und
Verständnis der Welt, der Menschen beiträgt – und nicht zuletzt zu
Erfahrung und Verständnis des eigenen Selbst in der Welt.
Wo wird bei uns gelehrt, dem Massenpublikum entsprechende
ästhetische Angebote zu machen? Einen Fernsehfilm für die Primetime zu
entwickeln, dem die Zuschauer wegen seiner Figuren, Bilder, Klänge bis
an die Grenzen gewohnter Sicht- und Empfindungsweisen folgen, ohne
wegzuzappen, ist gewiss nicht leichter, als einen Roman zu schreiben,
der in gehobenen Feuilletons und Kulturmagazinen besprochen wird und
ein paar Tausend bildungswillige, anstrengungsbereite Leser findet. Auf
jeden Fall ist es seltener. Jede amerikanische Hochschule hat ihre
Kurse für creative writing – und wir? Wo wird ernsthaft untersucht und
gelehrt, was die besten Arbeitsformen in populären Genres sind? Das
Unterhaltungsgewerbe ist arbeitsteilig und inzwischen hoch
spezialisiert. Die tollen amerikanischen und nordischen Serien hängen
untrennbar zusammen mit der Etablierung von showrunner und writer’s
room, der strukturierten Kooperation vieler kreativer Köpfe an Konzept
und Drehbuch; jetzt hechelt man hierzulande hinterher. Schließlich ist
auch politisch zu überlegen, wie man die Position der Kreativen im
Kulturgeschäft gegenüber Kaufleuten und Marketingmanagern stärkt.
Ebenso ist zu klären, wo Förderung ansetzt: beim Künstler, beim
Werk, bei den Nutzern oder – ein selten gehörter Gedanke – bei den
Akteuren der Kritik, die ganz wesentlich zu Qualitätsdebatten und
Qualitätssteigerung beiträgt? Bereitschaft zu und Freude an Innovation,
Vielfalt, ernstem Spiel sind jedenfalls nicht allein bei den Anbietern
zu fördern, sondern auch im Massenpublikum. Momentan wird vielerorts
über audience development debattiert. Wir sollten dabei allerdings
nicht von bestehenden Kultureinrichtungen ausgehen, sondern vom
Massenpublikum, und fragen, wie es seine bestehenden Wünsche und
Kompetenzen reicher entwickeln könnte.
Wir haben ein entfaltetes Instrumentarium kultureller und
ästhetischer Bildung, doch es wird fast ausschließlich zur Vermittlung
„ernsthafter, anspruchsvoller“ Werke genutzt. Wenn in diesem Kontext
Mainstream auftaucht, dann als abschreckendes Beispiel. Dabei wäre es
ein Leichtes, im Austausch mit Genreliebhabern zu thematisieren, was
gut gemachte von weniger gut gemachter Action, SF oder Sitcom
unterscheidet; oder SchülerInnen mit Game Designern diskutieren zu
lassen, was für Computerspiele sie gerne entwickeln würden. Usw. In
einem Satz: Kulturpolitik für die Popkultur heißt meines Erachtens, den
real existierenden Mainstream, sein Publikum und deren gemeinsame
Potenziale ästhetisch wirklich ernst nehmen.
Benutzte Literatur
Diedrich Diederichsen: Über Popmusik. Köln 2014.
Marcus S. Kleiner: Popkultur und Mainstream, in: Politik & Kultur 6/2013, S. 17-18.
Roland Prügel (Hg.): Geburt der Massenkultur. Nürnberg 2014.
Gustav Seibt: Allegorien am Abend. Zur Lesbarkeit der ‚Lindenstraße‘. FAZ, 20. 10. 1992.
Olaf Zimmermann: Spiel doch mit den Schmuddelkindern, sing doch
ihre Lieder. Zur Ambivalenz Populärer Kultur, in: Politik & Kultur
6/2013, S. 15.
Anmerkungen
[1] Erster Aufsatz zum Thema: Kaspar Maase, Massenkultur und
Demokratisierung. Kommunale Kulturpolitik in der Auseinandersetzung,
in: tendenzen 15 (1974), Nr. 95, S. 42-49
[2] Hier eine Aufstellung der von Kaspar Maase zum Thema publizierten Bücher.
BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992.
Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt a. M. 4. Aufl. 2007.
Was macht Populärkultur Politisch? Wiesbaden 2010.
Das Recht der Gewöhnlichkeit. Über populäre Kultur, Tübingen 2011.
Die Kinder der Massenkultur. Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich, Frankfurt a. M./New York 2012.
Kaspar Maase ist Mitautor und Herausgeber von:
Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln, Weimar, Wien 2001 (mit Wolfgang Kaschuba).
Die Schönheiten des Populären. Ästhetische Erfahrung der Gegenwart. Frankfurt a. M./New York 2008.
Unterhaltung und Vergnügung. Beiträge der Europäischen Ethnologie
zur Populärkulturforschung, Würzburg 2013 (mit Christoph Bareither u.
Mirjam Nast).
Macher, Medien, Publika. Beiträge der europäischen Ethnologie zu
Geschmack und Vergnügen, Würzburg 2014 (mit Christoph Bareither,
Brigitte Frizzoni u. Mirjam Nast).
Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970. 4. Aufl. Frankfurt/M. 2007.
Eine annähernd vollständige Publikationsliste findet sich unter:
http://www.wiso.uni-tuebingen.de/faecher/empirische-kulturwissenschaft/institut/mitarbeiterinnen/emeriti-und-ehemalige/kaspar-maase.html
|
| |