Report | Kulturation 1/2004 | Dietrich Mühlberg | Gesucht: Das neue Deutschland Tanja Busse / Tobias Dürr
„Das neue Deutschland. Die Zukunft als Chance“
Berlin (Aufbau) 2003. 328 S., 15,90 Euro
| Sammelbände,
noch dazu solche mit aktuellen politischen Texten, sind keine beliebte
Lektüre. Der potenzielle Leser tröstet sich damit, dass sicher auch für
ihn etwas Belangvolles enthalten sein dürfte. Oft aber begegnet er
bereits Bekanntem und ist ob der mageren Ausbeute enttäuscht. In diesem
Falle ist das deutlich anders. Den Herausgebern (der Journalistin Tanja
Busse und dem Politikwissenschaftler Tobias Dürr) ist es gelungen,
einundzwanzig Beiträge zu versammeln, die großenteils neue Einblicke in
heutige (ost)deutsche Zustände geben und sie auf erkennbare
Entwicklungslinien prüfen. Die Aufsätze, Essays und Reportagen handeln
„von einem ernüchterten neuen Deutschland nach dem Ende der liebsten
Illusionen seiner Bürger in Ost und West“ (S. 10). Für die Ostdeutschen
sei es nach dem Ende der Umbruchs- und Eingewöhnungsphase inzwischen
klar, dass es den Westen, an den sie 1990 angeschlossen werden wollten,
nicht (mehr) gebe und den Westdeutschen werde langsam bewusst, „auch
die Erfolgsgeschichte des wohlgeordneten Gemeinwesens Bundesrepublik
West ist an ihr Ende gekommen“ (S. 10). Der Westen in der Krise und der
Osten kann nicht so werden, wie der Westen (vielleicht) einmal war.
In dieser nüchternen und zugleich provokanten Lagebeurteilung (die
von vielen der beteiligten Autoren geteilt wird) besteht die
eigentliche Novität dieses Bandes, mit dem versucht wird, eine
Generaldebatte über die Zukunft der vereinigten deutschen Gesellschaft
anzustoßen. Herausgeber und Autoren lassen sich darauf ein, wie sich
alles auf unerhörte Weise umzukehren scheint, wenn sich nun
„ostdeutsche Entwicklungen als Indikatoren einer gesamtostwestdeutschen
Zukunft“ (S. 10) erweisen könnten. Ironie der Geschichte: was den
Ostdeutschen unter Ulbricht und Honecker nicht gelingen konnte –
überholen ohne einzuholen – ist ihnen unter Kohl und Schröder endlich
gelungen. Die Ostdeutschen unverhofft als Avantgarde. Das schrieb
Wolfgang Engler (auch schon vorher) recht bestimmt. Nun kommen auch
einige der hier mitwirkenden Experten zu dem Schluss: „In vieler
Hinsicht … stehen die Umbruchserfahrungen der Ostdeutschen dem Westen
der gemeinsamen Republik erst noch bevor“. (S. 11). Folglich: „Wer sich
für die Zukunft dieser Republik interessiert, wird ihren Osten
besonders scharf im Blick behalten müssen.“ (S. 11) Diesen scharfen
Blick nun üben die mehrheitlich jüngeren Autoren, davon die originär
westlich sozialisierten in nur geringer Überzahl. Und weil die
Ostdeutschen das mehrheitlich schon wissen, sind diese Texte vor allem
für die noch ungläubigen Westdeutschen verfasst worden, von den
beteiligten Journalisten stärker beschreibend, von den Politikern etwas
angestrengt optimistisch, während die mitwirkenden Wissenschaftler zum
Grundsätzlichen tendieren.
Die beiden Herausgeber haben diese weithin spannende Lektüre nicht
nur zusammengestellt, sondern auch in eigenen Beiträgen ihre Urteile
über die aktuelle Lage, über Chancen und Wunschbilder, über mögliche
Szenarien und wissenschaftliche Aufgaben dargelegt und darauf
hingewiesen, welchen politischen und kulturellen Praxisfeldern unsere
Aufmerksamkeit gelten sollte. Ihr Anliegen ist dem Rezensenten
sympathisch, anderer Leute Urteile liegen etwas anders. In der der
öffentlichen Rezeption des Buches dürften – und das zeigen die bislang
vorliegenden Kritiken – die beschreibenden, analysierenden und
vorsichtig prognostizierenden Texte kaum zum Widerspruch reizen – so
geht es halt im Osten zu. Ganz anders dürfte die Grundaussage des
Buches aufgenommen werden, in den Ost-Ereignissen mögliche Vorboten
auch westlicher Schwierigkeiten zu sehen. Dabei hat gerade diese
Vermutung eine hohe Plausibilität und korrespondiert in einigen
Aspekten mit längst sichtbaren Symptomen auch der westdeutschen
Gesellschaft. Dennoch gilt hier das, was die Herausgeber selbst
schreiben: alle nennenswerten gesellschaftlichen Kräfte agieren immer
noch in der Überzeugung, es ließe sich alles auf die alte Art und Weise
hinbiegen, denn die ostdeutsche Misere ist der schlimme Sonderfall
(oder gar nicht so schlimm).
So schrieb denn auch Susanne Gaschke in der ZEIT („Neugierige junge
Autoren blicken auf Deutschlands Osten“): „’Die Zukunft als
Katastrophe’ wäre ein angemessener Untertitel für diesen Befund gewesen
– wenn man denn, wie die Herausgeber, annimmt, dass ganz ähnliche
Entwicklungen auch der Westen zu erwarten hat.“ (ZEIT-Literatur
Dezember 2003, S. 29) Richtig, Frau Gaschke, da übertreiben und
flunkern diese neugierigen jungen Autoren wohl etwas!
Gänzlich inakzeptabel dürfte aber die darauf gründende Vermutung
sein, den Ostdeutschen käme eine Art Vorreiterrolle zu, sie könnten
„Pioniere der Zukunftsgesellschaft“ (Engler) sein. Die bereits
vorliegenden Rezensionen deuten genau dagegen heftigen Widerspruch an.
Pointiert hat Richard David Precht das Dilemma benannt, gegen das
Herausgeber und etliche Autoren des Bandes anschreiben: „Die These, von
den Ostdeutschen lernen heiße Krisen bewältigen, hätte wohl nicht mal
dann einen Sitz im Leben, wenn sie stimmen würde.“ (Er nannte seine
Sammelrezension für Literaturen 12/03 „Experimentalraum Ost – Von der
DDR lernen heißt verlieren lernen oder Über die Regionalisierung der
Seelen“).
Doch nun zur Sache. An den Anfang ist der Beitrag von Uwe Rada
gestellt, Kenner der brodelnden Region „Zwischenland“, der hier noch
weiter nach Osten blickt und im deutsch-polnischen Grenzgebiet die
eigentlich kreative Zone sieht: „Warsztat Europa“. Hier hat er
umfänglich recherchiert und kann es belegen, wenn er schreibt: „Es ist
diese Mittellage zwischen der alten Bundesrepublik und Polen, die das
an den Rand gedrängte Ostdeutschland wieder ins Zentrum rückt, wenn
auch vorerst nur ins Zentrum der forschenden Neugier und des
experimentellen Suchens.“ (S. 25). Allerdings bleibt Rada der einzige,
der sich wirklich auf die komplizierten Beziehungen zwischen „altem“
und „neuem“ Europa (nach Rumsfeld oder EU-Jargon) einlässt. Die
Ost-West-Problematik wird sonst meist innerdeutsch verstanden. Solche
Abstinenz gerät mancher Analyse und fast allen perspektivischen
Gedanken zum Nachteil, beziehen sie doch die zu erwartenden Folgen der
EU-Osterweiterung kaum ein.
Das kann für den zweiten Eröffnungsbeitrag nicht gesagt werden:
Wolfgang Engler treibt die Frage um, was denn Europa als Ganzes dem mit
Feuereifer betriebenen amerikanischen Projekt entgegenzusetzen habe,
sich alle Ressourcen der Welt endgültig zu unterwerfen. Er sieht gerade
die deutschen Politiker berufen, einen Vorschlag zu machen, der nicht
auf die (illusorische) Stärke einer militärischen Gegenmacht, sondern
auf die soziale und politische Kultur Europas setzt: Europa wird
„verletzlich bleiben, aber auch verführerisch, weil es der Welt ein
alternatives Angebot unterbreitet“ (S.33). Dass ausgerechnet die
arbeitsversessenen Deutschen nun ein Programm für den Ausstieg aus der
Arbeitsgesellschaft entwerfen und realisieren sollen, meint Engler
keineswegs ironisch. Er kann zwei gute Gründe anführen. Einmal zeichne
sich ab, (was nicht nur der von ihm zitierte Jeremy Rifkin sagt), dass
die Wirtschaft bald „Güter und einfache Dienste für eine wachsende
Bevölkerung mit einem Bruchteil der jetzt dort arbeitenden
Beschäftigten bereitstellen“ kann. Niemand glaube mehr an die
Scheinvision, „in die gute alte Vergangenheit einer (post)industriellen
Arbeitsgesellschaft mit Erwerbschancen für annähernd jede und jeden
irgendwann und irgendwie zurückzukehren“ (S.28). Es ist allein die
Rollenverteilung im (westdeutschen) System der parlamentarischen
Demokratie, die die Politiker aller regierungsfähigen Parteien dazu
zwinge, immer wieder wider besseres Wissen zu versprechen, sie könnten
diese Vision umsetzen – wenn man nur alle Kräfte und Mittel darauf
konzentriere, einen wirtschaftlichen Aufschwung herbeizuführen.
Mag solch fehlorientierter Aktivismus von einer Mehrheit der
westdeutschen Population trotz wachsender Skepsis noch toleriert
werden, im Osten sind Zustand und Einsicht anders, hier wird es weder
Aufschwung noch Arbeit geben. „Was die gegenwärtige Lage der
Ostdeutschen zum Politikum macht ist die Tatsache, dass sie zu Teilen,
obschon mehrheitlich gegen ihren Willen, in dieser Zukunft bereits
angekommen sind; man könnte auch sagen: in sie vertrieben wurden.“ (S.
41) Wenn trotz fortschreitender Überalterung und trotz beständiger
Abwanderung ausgebildeter junger Leute die Zahl der Arbeitslosen nicht
sinkt, sondern real bei mindestens 25 Prozent liegt und weiter
ansteigt, ist auch die Mehrheit der noch Erwerbstätigen
desillusioniert. Darauf setzt Engler, wenn er das „Projekt eines
menschlich erträglichen und erfüllten Ausstiegs aus der
Arbeitsgesellschaft“ (S. 41) für notwendig hält. Nun ist dieser
einleuchtende Gedanke und politische Appell nicht neu, nicht einmal
eine originäre Marxsche Idee. Doch im Kontext einer Analyse der
deutschen Situation bekommt diese Forderung, in der auch Engler eine
„neue soziale Weltformel“ sieht, eine neuartige Dringlichkeit: „… im
Entflechten der Praxisformen auf eine Weise, dass vom Erwerb
freigesetzte Menschen handelnde und tätige Personen bleiben, vielleicht
sogar in höherem Grade werden, besteht der nächste Schritt, den unsere
Gemeinwesen gehen müssen, sollen nicht Millionen von Menschen in
Selbstzweifel und Apathie verharren.“ (S. 43)
Allerdings: weder von den politischen Parteien und den großen
Verbänden noch von der publizistischen Öffentlichkeit ist da viel zu
erwarten, sie alle machen weiter wie bisher. Engler setzt auf andere
Kräfte: „im Unterboden der Gesellschaft dagegen gärt es“. Sein
Vorschlag: vielleicht hilft uns ein Blick in „sozial und psychisch
entspannte Arbeitsgesellschaften“ weiter. Engler führt Dänemark als
(„geringfügig idealisiertes“) Modell vor. Das erinnert den Rezensenten
an den fast ein Vierteljahrhundert zurückliegenden lebendigen Bericht
seines westdeutschen Freundes P. A. nach einem Jahr Gastprofessur in
Dänemark. Mit freundlicher Ironie hieß es da immer mal wieder: „es ist
fast so, als kämst du in die DDR“.
Die Herausgeber haben einen der umtriebigsten und
unkoventionellsten der ostdeutschen Politiker als Autor gewonnen, den
sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck. Doch er
befestigt Englers Skepsis mehr als er sie zerstreuen könnte.
Dramaturgisch geschickt setzt er ein: „Jäh haben Sorgen und
Selbstzweifel in diesen Monaten eine erfolgsgewohnte Gesellschaft
ergriffen. Die Bundesrepublik steckt in ihrer tiefsten Krise.“ (S. 49)
Die wäre selbstverständlich nicht nur durch den Beitritt des Ostens
verursacht, sondern grundsätzlicher: der selbstsichere Westen sei in
die Jahre gekommen und sollte nun prüfen, was vielleicht vom Osten zu
lernen wäre (oder schon verändernd auf ihn gewirkt habe). Die Krise
wäre eine gemeinsame Sache, objektiv wüchsen mit ihrer Bewältigung die
Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West.
Was in dieser tiefsten Krise Not tue, „sei eine Haltung der
Unverkrampftheit, die experimentelle Veränderung und mutige Erneuerung
überhaupt erst möglich“ (S.55) mache. Dies ist dann auch das Rezept,
das der Ministerpräsident nach einem ganz kurzen Blick auf die Malaisen
des eigenen Ländchens (Schrumpfstädte, Landflucht, wirtschaftlicher
Niedergang, Überalterung) anbietet: „Von der Fähigkeit, neue Probleme
zu erkennen, strukturelle Fehlentwicklungen auch gegen Widerstände
unerschrocken zu bekämpfen“ hänge der Erfolg demokratischer Politik ab.
„Weitere schwere Jahre des Um- und Rückbaus“ stünden bevor. „Wir werden
unsere geballte ‚Umbruchkompetenz’ aktivieren müssen, um sie
erfolgreich zu bewältigen.“ (S. 61) Gewaltige Worte, doch kein Satz
darüber, wohin uns dieser schwierige und unerschrocken einzuschlagende
Weg führen wird.
Recht enttäuschend, doch waren die beim Um- und Rückbau verfolgten
Absichten und Ziele vielleicht gar nicht sein Thema. Möglicherweise
wollte der Ministerpräsidenten nur seine Landeskinder ermahnen, nicht
in „Duldungsstarre“ (Thumfart) zu verharren. Denn hier wird er
moralisch und fordert von ihnen gut ostdeutsch „eine
Selbstverpflichtung: Avantgarde kann eben nur sein, wer die eigenen
Angelegenheiten so gut und erfolgreich regelt, dass darin Vorbild und
Ansporn auch für andere liegen. Eben diesen Maßstab müssen Ostdeutsche
auch für sich gelten lassen.“ (S. 61) Solche Töne verwundern, ist
Platzeck von Haus doch gar kein Lehrer, sondern Umweltingenieur.
Ernster gesprochen: der hier offenbare Mangel an Konzeption ist nur für
die Brandenburger nachteilig, der SPD dürfte er nicht schaden, hat doch
auch keine andere der in Potsdam agierenden Parteien ein
Entwicklungskonzept für das Land vorzuweisen.
Der anschließende Beitrag des Herausgebers Tobias Dürr ist anders
gestrickt. Für ihn „ist die große Debatte darüber, in welcher
Gesellschaft die Deutschen im 21. Jahrhundert leben wollen, noch nicht
im Ernst angebrochen“ (S. 74). Damit ist auch die Motivlage angedeutet,
aus der heraus das Buch entstanden ist. Der Beitritt Ostdeutschlands
habe das alternative Nachdenken zuerst verhindert, inzwischen aber sei
die Situation der Ostdeutschen zur stärksten Herausforderung geworden,
sich der Zukunftsfrage zu stellen. Flickschusterei („erste vorläufige
Reparaturmaßnahmen“) sei das Merkmal heutiger Reformpolitik, obwohl
weithin klar sei, worin „Schlüsselressourcen sozialer und ökonomischer
Selbstbehauptung liegen“ (S. 75), die auch die Perspektive eines
lebbaren Lebens enthalten: Wissen und Erwerb immer neuen Wissens.
Unbedingt zustimmungsfähig, doch wie das anstellen?
Inwiefern solche Einsicht zum Werkzeug für die nüchterne
Beurteilung gegebener gesellschaftlicher Zustände brauchbar ist, kann
Tobias Dürr an seiner „Rahmenhandlung“ zeigen. Er zeichnet Aufstieg und
Niedergang des einst modernsten und größten Kraftwerks der Welt
zwischen 1915 und 1992 und weiter bis heute nach und kann exemplarisch
die Chancen und Lebensvorstellungen der Menschen sichtbar machen, deren
Lebenswelt solche Zentren der Industriegesellschaft gebildet haben. Sie
sind inzwischen in Ost wie West überflüssig, doch was kann aus den
Überlebenden des industriellen 20. Jahrhunderts werden? Sie sind ohne
Chance, und dies in Ostdeutschland mit seinem abrupten Ende der großen
Industrie auf radikalere Weise als im Westen. Deshalb „stehen heute
überall in Ostdeutschland mittelalte Menschen tatenlos vor
Imbissbuden“. Es sind einfach zu viele, denen „dem 21. Jahrhundert
heute schlechterdings kein Versprechen mehr inne“ wohnt. Es sind
Menschenleben und Lebenschancen, Hoffnungen und Träume, die in diesen
Jahren zerbröselt sind. Das ist nicht ohne Tragik, und reparieren lässt
es sich auch nicht mehr.“ (S. 77)
Stehen bei Dürr die mittelalten Ostdeutschen tatenlos an den
Imbissbuden rum, so vermuten Schoch und Weiß in der durch
DDR-Sozialisation antrainierten Kleinbürgerlichkeit der Ostdeutschen
die Ursache ihrer Passivität. Sie bewirke, dass Massenproteste gegen
die „wachsenden Nachteile des Globalkapitalismus“ (S. 265) ausbleiben.
Ganz ähnlich schließe die kleinbürgerliche Gesinnung der Westdeutschen
bei ihnen jeden Gedanken an grundsätzliche gesellschaftliche
Veränderungen aus; darum werde nur an sog. Krisensymptomen gewerkelt.
Von ostdeutscher Avantgarde keine Rede, gerade die Kleinbürgerlichkeit
der Ostdeutschen wirke vordergründig systemstabilisierend. Ihre „aus
Mangel entstandene Flexibilität und Kreativität“ ist auch in der neuen
Gesellschaft nützlich, „die eine ständige Bewegung innerhalb
festgelegter Bahnen simuliert. Dieses gekonnte Arrangement mit
Unwägbarkeiten und (vermeintlichen) Krisenattacken hält die
gegenwärtige Ordnung zusätzlich stabil.“ (S.265)
Bewegen wir uns hier auf hoher Abstraktions- und Vermutungsebene,
geben mehrere handfeste politische Studien andere Einblicke. Klaus Ness
konfrontiert die „alten“ mitgliederstarken Parteien des Westens, mit
ihren beinahe winzig kleinen Abteilungen im Osten, die dennoch in der
Lage seien, Landes- und Kommunalpolitik zu absolvieren. Auch in der
damit verbundenen politischen Professionalisierung (unter Aufgabe der
Gesellungsfunktion wie der Milieubindung) zeichne sich bereits die
gesamtdeutsche Zukunft der (noch) großen Parteien ab. Besonders angetan
haben es dem SPD-Landesgeschäftsführer (Jg. 1962) die in der
Nachwendezeit politisch sozialisierten jungen Politiker der zweiten
Generation („unideologisch, verwurzelt in ihrer Region, sozial
verantwortlich und pragmatisch ins Gelingen verliebt“ (S. 188)), die
die SPD zur „Partei der tatkräftigen Ingenieure“ (S. 185) gemacht
haben. Zugleich sieht Ness aktuell „die Menschen aus der Starre der
Transformationsphase erwachen“ und damit das Bedürfnis entstehen, „an
den Umbauprozessen im neuen, sich insgesamt verändernden Deutschland
aktiv teilzunehmen“ (S. 193) – eine Chance für die dafür offenen
Parteien. Die Leute wollen es nun langsam wissen und die verjüngten
Parteien können es schaffen. Also noch ein, wenn auch vorsichtiger,
Optimist aus Potsdam mit verständlichen Erwartungen: „Sollte diese
Generation der Platzecks und Tiefensees stärker als bisher den Anspruch
entwickeln, auf der gesamtdeutschen politischen Bühne mitzuwirken,
könnte sie vielleicht nicht nur die Parteiendemokratie wiederbeleben.
Sie könnte auch den nötigen Reformschub für ganz Deutschland auslösen.“
(194) Also vielleicht doch ein bisschen Avantgarde?
Der Politologe Franz Walter sieht das deutlich anders, doch er
blickt ja nach Sachsen und fragt (gemeinsam mit Michael Schlieben) dort
nach den Chancen für ein bürgerschaftliches politisches Engagement. Die
beiden Autoren haben sich dazu einen ganz besonderen Ort ausgesucht und
präsentieren hier eine exzellente historische Skizze von Aufstieg und
Niedergang der sozialdemokratischen städtischen Musterkommune Freital
bei Dresden (das „Rote Wien in Sachsen“). Hier ist nichts mehr von der
großen Tradition vorbildlicher Kommunalpolitik und bürgerschaftlicher
Sozialmoral geblieben. Ihre Prognose ist düster: „Heute sieht es so
aus, als würde aus den Freitaler Ruinen der DDR-Vergangenheit kein
neuer Geist auferstehen. Stattdessen treibt eine im Westen bereits
allzu gut bekannte materielle, säkularisierte und populistische
Gesinnung ihr Unwesen.“ (S. 239) Darum dürfte die Freitaler SPD auch
das genaue Gegenstück zur Brandenburgischen sein. Auch hier eine Partei
ohne Gesellungsfunktion und Milieubindung („keine Organisation, keine
Verankerung im Freizeitwesen, keine ortsverwurzelte kommunale Elite“),
hier jedoch die Ingenieure ohne die andernorts bewunderte Tatkraft:
„Ihr Bild wird geprägt von introvertierten Naturwissenschaftlern, meist
Ingenieuren, die sich zu DDR-Zeiten in ihren Nischen eingerichtet
hatten. Außenseiter und Individualisten ohne Organisationserfahrung …“
Von denen, die hier die Partei am Leben halten, heißt es mitfühlend:
sie „sind gewiss wacker und leidensfähig. Aber eines sind sie sicher
nicht: kulturell deutungsmächtig oder gar identitätsstiftend.“ (S. 231)
Was von Walter und Schlieben für einen exzeptionellen Fall
beschrieben wird, liest sich bei Alexander Thumfart etwas allgemeiner,
versucht er doch, anhand ganz ähnlicher, hier nur weitgreifender
betrachteter „politischer und sozialer Phänomene in Ostdeutschland
wahrscheinliche Entwicklungen für die Bundesrepublik Deutschland
insgesamt zu explorieren“ (S. 137). Sein Ergebnis: wie die zukünftige
„Bürgergesellschaft“ auch projektiert und angestrebt sei, es müsse
angesichts der gegebenen Daten einfach damit gerechnet werden, „dass
Integration und Bindung immer lokaler und immer ökonomischer werden,
während die politische und zivile Integration an Kraft und Relevanz
verliert und selektiver wird.“ Zivilität und politische Kultur sind
gefährdet. Ost und West dürften sich insofern angleichen, als Zentren
und „Brücken“ hoher Vergesellschaftung, die von ausgedehnten „Zonen
wachsender Exklusion umgeben sind“ (S. 158).
Nun mag der Rezensent nicht alle Aufsätze referieren. Darum sei nur
erwähnt, dass Gunnar Hinck und Albrecht von Lucke jeweils Heimat und
Nation thematisieren und Alexander Camman prüft, ob denn die östliche
„Integrationsliteratur“ auf der Höhe ihrer Aufgaben sei (sie ist es
leider nicht: „Vierzehn Jahre nach dem Epochenbruch ist es nunmehr an
der Zeit, dass auch die junge Autorengeneration die Zeit vor 1989 ernst
nimmt.“ (S. 294)). Wolfgang Schröder (Spezialist der IG-Metall für die
industrielle Situation in Ostdeutschland) prüft (im einzigen Text zur
wirtschaftlichen Situation), wie weit die sog. Clusterstrategie
(Investitutionen in wenige Zentren der Hochtechnologie) geeignet ist,
dem Osten wirtschaftlich aufzuhelfen.
Unbedingt muß auf die sehr lesenswerten Texte von zwei „jungen
Leuten“ (Jg. 1972) aus dem Osten aufmerksam gemacht werden. Thomas
Kralinski geht (in sächsischer Perspektive, dort arbeitet er für die
SPD-Landtagsfraktion) den eingetretenen und den weiter mit einiger
Sicherheit zu erwartenden Folgen demographischen Wandels nach: „Wie die
Bevölkerungsentwicklung im Osten Land und Leute prägt“ ist sein Thema.
Hier leitet er aus den vorgetragenen Daten anregende Vorschläge für
eine eingreifende Entwicklungspolitik ab, die mit den Beobachtungen von
Alexander Thumfart kompatibel sind. Darin geht er weiter als alle
anderen Autoren des Bandes. Ähnlich „weit“ geht auf andere Weise Toralf
Staud (Redakteur bei der ZEIT). Er hat so gut wie alles gelesen, was
die Forschungsliteratur über die Lebensweise von Einwanderern in aller
Welt an bemerkenswerten Beobachtungen zusammengetragen hat. So gut wie
alle dort beschriebenen Assimilationsschwierigkeiten, Formen von
Kulturschock, Depression und Selbstethnisierung finden sich bei den
Ostdeutschen nach Übertritt in die alte Bundesrepublik: „ihre
Erfahrungen und ihre Verhaltensweisen im Neuen Deutschland sind
schlicht die von Einwanderern“. (S.266) Nun ist dieser „Übergang in ein
fremdes Land“ auch schon früher thematisiert worden, doch so zugespitzt
war er noch nicht zu lesen. Und wie vor einigen Jahren Jörg Roesler die
historische Literatur darauf geprüft hat, welche Aufschlüsse eine
vergleichende Betrachtung von Anschlussfällen für die deutsch-deutsche
Situation geben könnte („Der Anschluß von Staaten in der modernen
Geschichte. Eine Untersuchung aus aktuellem Anlaß“, Frankfurt am Main
1999), so geht hier Toralf Staud die (vornehmlich ethnologische)
Literatur darauf durch, was sie uns über den Verlauf der Assimilation
der Ostdeutschen an/in die westdeutsche Gesellschaft und ihre Kulturen
sagen kann und versucht darauf gestützt eine Reihe prognostischer
Ausblicke. Dies dürfte eine (auch vergnügliche) Lektüre für West- und
Ostdeutsche gleichermaßen sein. Selbst die Voraussage, wann denn die
Integration der Ostdeutschen wirklich losgehe, dürfte beide Seiten
befriedigen: „Sobald gebürtige DDR-Bürger oder deren Nachfahren auch in
der Spitze der Bundeswehr und in die Vorstände der 30 Dax-Unternehmen
aufgestiegen sind, dürfte die Integration zum Selbstläufer werden.“ Das
könnte bald schon beginnen, denn bis in die Redaktionen großer
Zeitungen sind Ostdeutsche ja bereits vorgedrungen. Warum sollte also
der Aufstieg in die Wirtschaftselite nicht auch einigen eloquenten
Habenichtsen aus dem Osten gelingen? Aber: Integration ist noch lange
nicht Assimilation, „und schon gar nicht das Verschwinden alles
Ostdeutschen“ (S. 281).
Was da heute deutlich anders ist, zeichnen - neben der
„historischen“ Freital-Reportage von Walter und Schlieben - zwei
weitere „Reportagen“. Als Gegenstück zum völligen Traditionsverlust in
der einstigen sozialdemokratischen Musterstadt zeichnet Tanja Busse –
auch dies ein eindrucksvolles Gemeindeporträt - das Leben im ehemaligen
sozialistischen Musterdorf Mestlin nach: „1200 Einwohner, jeder Vierte
ist arbeitslos, jede fünfte Wohnung steht leer…“ (S. 95), viele
Gemeinschaftseinrichtungen funktionslos, leere Läden, die Schule an
einem anderen Ort zusammengelegt usw. Was erhalten blieb und hoffen
lässt: der agrarische Großbetrieb (die heutige Produktivgenossenschaft
ist der einzige Arbeitgeber) und der rastlose Enthusiasmus einiger
Mestliner, die trotz aller Rückschläge ihre Dorfgemeinschaft erhalten
wollen und damit nicht ohne Erfolg geblieben sind und sich weitere
Chancen ausrechnen. Landolf Scherzer begleitet einen Hausmeister durch
den Alltag der Bauhausuniversität Weimar, lässt sich vom (ostdeutschen)
Kanzler erklären, „was sich seit 1989 an dieser Universität abgespielt
hat: Wissenschaftler, die die Wende nicht verkrafteten, einer habe sich
das Leben genommen. Andere hätten es zwar geschafft, aber mit ihrer
Selbstaufgabe bezahlt. Und dann seien da noch diejenigen, die die neuen
demokratischen Strukturen aufgebaut hätten, die nun aber merkten, dass
diese Strukturen kaum etwas taugen, wenn das Land kein Geld mehr habe.
‚Und die Wessis lernen jetzt, was wir schon erledigt haben, und fragen
uns, wie man an einer Universität sozialverträglich Personal abbaut.’“
(S. 251) Auch der noch neue westdeutsche Rektor kommt bei Scherzer zu
Wort; er will die spärlichen Reste demokratischer Spielregeln
abschaffen („Die Wende und was danach geschah, interessiert heute
niemand mehr“) und macht aus seiner Distanz zu den Ostedeutschen kein
Hehl: „Der eigentliche Graben zwischen dem Leben und den Kulturen in
Ost- und Westdeutschland ist der zwischen dem christlichen Glauben im
Westen und dem Schlimmsten, was die Kommunisten den Menschen hier
angetan haben, dem verordneten Atheismus.“ (S. 253)
Von diesem großen weltanschaulichen Unterschied zwischen Ost und
West ist nur im Lamento des Rektors die Rede, sonst wird er im Buche
nicht thematisiert. Auch der Spezialist für Religiosität und
Kirchenbindung, Detlev Pollack, ist hier mit anderem beschäftigt. Ihn
treibt um, warum die Ostdeutschen – trotz herausragender Gegenbeispiele
– überhaupt nicht an den großen gesellschaftlichen Debatten teilnehmen,
ja nicht einmal über ihre Erfahrungen als Fremde im neuen System
berichten dürften: weil „sich die politische und intellektuelle Klasse
Westdeutschlands in ihren abgeschlossenen Netzwerken und Milieus
bewegt, in denen Ostdeutsche nichts zu suchen haben und aus denen sie
mehr oder weniger bewusst herausgehalten werden“ (S. 300). Nützlich zu
lesen, weil Detlef Pollack viele Ursachen für diese Ausgrenzung
aufzuzählen weiß und auch eine Vermutung äußert, die alle prüfen
sollten, die mit dem Gedanken liebäugeln, der Osten könnte tatsächlich
irgendwie als Lehrstück funktionieren: „Vielleicht ist der Westen für
den Osten einfach noch nicht reif.“ (S. 302) Mit diesem Satz endete
dieser Text, als ihn Pollack in der ZEIT publizierte („Wer fremd ist,
sieht besser“, 10. Oktober 2002). Für diesen Band hat er ihn um
bedenkenswerte Beobachtungen erweitert. Sie allerdings betonen stärker
– und darin ist der Autor nun seinem Ministerpräsidenten nahe – das
subjektive Unvermögen der Ostdeutschen. Auch er hat eine vorwurfsvolle
moralische Forderung für sie bereit. Denn ihr allgemeines Unvermögen
habe eine spezielle, aber möglicherweise kardinale Ursache: sie haben
es bislang versäumt, ihre eigene DDR-Vergangenheit ohne Furcht und
Tadel aufzuarbeiten. „Erst wenn sie sich dieser Geschichte wirklich
gestellt haben, werden sie eine Chance haben, einen eigenständigen
Beitrag zu den gesamtdeutschen Debatten zu leisten.“ (S. 306)
Mit diesem Satz schließt das hier vorgestellte Buch über die
Zukunft als Chance. Er stimmt etwas pessimistisch, denn schnell
vermutet man, dass der exzellente Religionssoziologe und
Kulturwissenschaftler Pollack uns auch nicht sagen kann, wie das mit
der Geschichte und den Ostdeutschen denn geschehen solle. Aber
vielleicht müssen das weiterhin die Westdeutschen auf den
Geschichtslehrstühlen der ostdeutschen Universitäten aufklären,
sonderlich die Zeithistoriker. Aber sollten ausgerechnet sie schon „für
den Osten reif“ geworden sein? Deutlich anders stellt sich die Lage im
Bereich der noch etwas zaghaften deutschen Zukunftsdebatte dar. Hier
sind – und das belegt dieser Sammelband – die gebürtigen Ostdeutschen
dabei. Es bleibt abzuwarten, was sie künftig zu sagen haben.
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