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KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ReportKulturation 1/2004
Dietrich Mühlberg
Gesucht: Das neue Deutschland
Tanja Busse / Tobias Dürr
„Das neue Deutschland. Die Zukunft als Chance“

Berlin (Aufbau) 2003. 328 S., 15,90 Euro
Sammelbände, noch dazu solche mit aktuellen politischen Texten, sind keine beliebte Lektüre. Der potenzielle Leser tröstet sich damit, dass sicher auch für ihn etwas Belangvolles enthalten sein dürfte. Oft aber begegnet er bereits Bekanntem und ist ob der mageren Ausbeute enttäuscht. In diesem Falle ist das deutlich anders. Den Herausgebern (der Journalistin Tanja Busse und dem Politikwissenschaftler Tobias Dürr) ist es gelungen, einundzwanzig Beiträge zu versammeln, die großenteils neue Einblicke in heutige (ost)deutsche Zustände geben und sie auf erkennbare Entwicklungslinien prüfen. Die Aufsätze, Essays und Reportagen handeln „von einem ernüchterten neuen Deutschland nach dem Ende der liebsten Illusionen seiner Bürger in Ost und West“ (S. 10). Für die Ostdeutschen sei es nach dem Ende der Umbruchs- und Eingewöhnungsphase inzwischen klar, dass es den Westen, an den sie 1990 angeschlossen werden wollten, nicht (mehr) gebe und den Westdeutschen werde langsam bewusst, „auch die Erfolgsgeschichte des wohlgeordneten Gemeinwesens Bundesrepublik West ist an ihr Ende gekommen“ (S. 10). Der Westen in der Krise und der Osten kann nicht so werden, wie der Westen (vielleicht) einmal war.

In dieser nüchternen und zugleich provokanten Lagebeurteilung (die von vielen der beteiligten Autoren geteilt wird) besteht die eigentliche Novität dieses Bandes, mit dem versucht wird, eine Generaldebatte über die Zukunft der vereinigten deutschen Gesellschaft anzustoßen. Herausgeber und Autoren lassen sich darauf ein, wie sich alles auf unerhörte Weise umzukehren scheint, wenn sich nun „ostdeutsche Entwicklungen als Indikatoren einer gesamtostwestdeutschen Zukunft“ (S. 10) erweisen könnten. Ironie der Geschichte: was den Ostdeutschen unter Ulbricht und Honecker nicht gelingen konnte – überholen ohne einzuholen – ist ihnen unter Kohl und Schröder endlich gelungen. Die Ostdeutschen unverhofft als Avantgarde. Das schrieb Wolfgang Engler (auch schon vorher) recht bestimmt. Nun kommen auch einige der hier mitwirkenden Experten zu dem Schluss: „In vieler Hinsicht … stehen die Umbruchserfahrungen der Ostdeutschen dem Westen der gemeinsamen Republik erst noch bevor“. (S. 11). Folglich: „Wer sich für die Zukunft dieser Republik interessiert, wird ihren Osten besonders scharf im Blick behalten müssen.“ (S. 11) Diesen scharfen Blick nun üben die mehrheitlich jüngeren Autoren, davon die originär westlich sozialisierten in nur geringer Überzahl. Und weil die Ostdeutschen das mehrheitlich schon wissen, sind diese Texte vor allem für die noch ungläubigen Westdeutschen verfasst worden, von den beteiligten Journalisten stärker beschreibend, von den Politikern etwas angestrengt optimistisch, während die mitwirkenden Wissenschaftler zum Grundsätzlichen tendieren.

Die beiden Herausgeber haben diese weithin spannende Lektüre nicht nur zusammengestellt, sondern auch in eigenen Beiträgen ihre Urteile über die aktuelle Lage, über Chancen und Wunschbilder, über mögliche Szenarien und wissenschaftliche Aufgaben dargelegt und darauf hingewiesen, welchen politischen und kulturellen Praxisfeldern unsere Aufmerksamkeit gelten sollte. Ihr Anliegen ist dem Rezensenten sympathisch, anderer Leute Urteile liegen etwas anders. In der der öffentlichen Rezeption des Buches dürften – und das zeigen die bislang vorliegenden Kritiken – die beschreibenden, analysierenden und vorsichtig prognostizierenden Texte kaum zum Widerspruch reizen – so geht es halt im Osten zu. Ganz anders dürfte die Grundaussage des Buches aufgenommen werden, in den Ost-Ereignissen mögliche Vorboten auch westlicher Schwierigkeiten zu sehen. Dabei hat gerade diese Vermutung eine hohe Plausibilität und korrespondiert in einigen Aspekten mit längst sichtbaren Symptomen auch der westdeutschen Gesellschaft. Dennoch gilt hier das, was die Herausgeber selbst schreiben: alle nennenswerten gesellschaftlichen Kräfte agieren immer noch in der Überzeugung, es ließe sich alles auf die alte Art und Weise hinbiegen, denn die ostdeutsche Misere ist der schlimme Sonderfall (oder gar nicht so schlimm).

So schrieb denn auch Susanne Gaschke in der ZEIT („Neugierige junge Autoren blicken auf Deutschlands Osten“): „’Die Zukunft als Katastrophe’ wäre ein angemessener Untertitel für diesen Befund gewesen – wenn man denn, wie die Herausgeber, annimmt, dass ganz ähnliche Entwicklungen auch der Westen zu erwarten hat.“ (ZEIT-Literatur Dezember 2003, S. 29) Richtig, Frau Gaschke, da übertreiben und flunkern diese neugierigen jungen Autoren wohl etwas!

Gänzlich inakzeptabel dürfte aber die darauf gründende Vermutung sein, den Ostdeutschen käme eine Art Vorreiterrolle zu, sie könnten „Pioniere der Zukunftsgesellschaft“ (Engler) sein. Die bereits vorliegenden Rezensionen deuten genau dagegen heftigen Widerspruch an. Pointiert hat Richard David Precht das Dilemma benannt, gegen das Herausgeber und etliche Autoren des Bandes anschreiben: „Die These, von den Ostdeutschen lernen heiße Krisen bewältigen, hätte wohl nicht mal dann einen Sitz im Leben, wenn sie stimmen würde.“ (Er nannte seine Sammelrezension für Literaturen 12/03 „Experimentalraum Ost – Von der DDR lernen heißt verlieren lernen oder Über die Regionalisierung der Seelen“).

Doch nun zur Sache. An den Anfang ist der Beitrag von Uwe Rada gestellt, Kenner der brodelnden Region „Zwischenland“, der hier noch weiter nach Osten blickt und im deutsch-polnischen Grenzgebiet die eigentlich kreative Zone sieht: „Warsztat Europa“. Hier hat er umfänglich recherchiert und kann es belegen, wenn er schreibt: „Es ist diese Mittellage zwischen der alten Bundesrepublik und Polen, die das an den Rand gedrängte Ostdeutschland wieder ins Zentrum rückt, wenn auch vorerst nur ins Zentrum der forschenden Neugier und des experimentellen Suchens.“ (S. 25). Allerdings bleibt Rada der einzige, der sich wirklich auf die komplizierten Beziehungen zwischen „altem“ und „neuem“ Europa (nach Rumsfeld oder EU-Jargon) einlässt. Die Ost-West-Problematik wird sonst meist innerdeutsch verstanden. Solche Abstinenz gerät mancher Analyse und fast allen perspektivischen Gedanken zum Nachteil, beziehen sie doch die zu erwartenden Folgen der EU-Osterweiterung kaum ein.

Das kann für den zweiten Eröffnungsbeitrag nicht gesagt werden: Wolfgang Engler treibt die Frage um, was denn Europa als Ganzes dem mit Feuereifer betriebenen amerikanischen Projekt entgegenzusetzen habe, sich alle Ressourcen der Welt endgültig zu unterwerfen. Er sieht gerade die deutschen Politiker berufen, einen Vorschlag zu machen, der nicht auf die (illusorische) Stärke einer militärischen Gegenmacht, sondern auf die soziale und politische Kultur Europas setzt: Europa wird „verletzlich bleiben, aber auch verführerisch, weil es der Welt ein alternatives Angebot unterbreitet“ (S.33). Dass ausgerechnet die arbeitsversessenen Deutschen nun ein Programm für den Ausstieg aus der Arbeitsgesellschaft entwerfen und realisieren sollen, meint Engler keineswegs ironisch. Er kann zwei gute Gründe anführen. Einmal zeichne sich ab, (was nicht nur der von ihm zitierte Jeremy Rifkin sagt), dass die Wirtschaft bald „Güter und einfache Dienste für eine wachsende Bevölkerung mit einem Bruchteil der jetzt dort arbeitenden Beschäftigten bereitstellen“ kann. Niemand glaube mehr an die Scheinvision, „in die gute alte Vergangenheit einer (post)industriellen Arbeitsgesellschaft mit Erwerbschancen für annähernd jede und jeden irgendwann und irgendwie zurückzukehren“ (S.28). Es ist allein die Rollenverteilung im (westdeutschen) System der parlamentarischen Demokratie, die die Politiker aller regierungsfähigen Parteien dazu zwinge, immer wieder wider besseres Wissen zu versprechen, sie könnten diese Vision umsetzen – wenn man nur alle Kräfte und Mittel darauf konzentriere, einen wirtschaftlichen Aufschwung herbeizuführen.

Mag solch fehlorientierter Aktivismus von einer Mehrheit der westdeutschen Population trotz wachsender Skepsis noch toleriert werden, im Osten sind Zustand und Einsicht anders, hier wird es weder Aufschwung noch Arbeit geben. „Was die gegenwärtige Lage der Ostdeutschen zum Politikum macht ist die Tatsache, dass sie zu Teilen, obschon mehrheitlich gegen ihren Willen, in dieser Zukunft bereits angekommen sind; man könnte auch sagen: in sie vertrieben wurden.“ (S. 41) Wenn trotz fortschreitender Überalterung und trotz beständiger Abwanderung ausgebildeter junger Leute die Zahl der Arbeitslosen nicht sinkt, sondern real bei mindestens 25 Prozent liegt und weiter ansteigt, ist auch die Mehrheit der noch Erwerbstätigen desillusioniert. Darauf setzt Engler, wenn er das „Projekt eines menschlich erträglichen und erfüllten Ausstiegs aus der Arbeitsgesellschaft“ (S. 41) für notwendig hält. Nun ist dieser einleuchtende Gedanke und politische Appell nicht neu, nicht einmal eine originäre Marxsche Idee. Doch im Kontext einer Analyse der deutschen Situation bekommt diese Forderung, in der auch Engler eine „neue soziale Weltformel“ sieht, eine neuartige Dringlichkeit: „… im Entflechten der Praxisformen auf eine Weise, dass vom Erwerb freigesetzte Menschen handelnde und tätige Personen bleiben, vielleicht sogar in höherem Grade werden, besteht der nächste Schritt, den unsere Gemeinwesen gehen müssen, sollen nicht Millionen von Menschen in Selbstzweifel und Apathie verharren.“ (S. 43)

Allerdings: weder von den politischen Parteien und den großen Verbänden noch von der publizistischen Öffentlichkeit ist da viel zu erwarten, sie alle machen weiter wie bisher. Engler setzt auf andere Kräfte: „im Unterboden der Gesellschaft dagegen gärt es“. Sein Vorschlag: vielleicht hilft uns ein Blick in „sozial und psychisch entspannte Arbeitsgesellschaften“ weiter. Engler führt Dänemark als („geringfügig idealisiertes“) Modell vor. Das erinnert den Rezensenten an den fast ein Vierteljahrhundert zurückliegenden lebendigen Bericht seines westdeutschen Freundes P. A. nach einem Jahr Gastprofessur in Dänemark. Mit freundlicher Ironie hieß es da immer mal wieder: „es ist fast so, als kämst du in die DDR“.

Die Herausgeber haben einen der umtriebigsten und unkoventionellsten der ostdeutschen Politiker als Autor gewonnen, den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck. Doch er befestigt Englers Skepsis mehr als er sie zerstreuen könnte. Dramaturgisch geschickt setzt er ein: „Jäh haben Sorgen und Selbstzweifel in diesen Monaten eine erfolgsgewohnte Gesellschaft ergriffen. Die Bundesrepublik steckt in ihrer tiefsten Krise.“ (S. 49) Die wäre selbstverständlich nicht nur durch den Beitritt des Ostens verursacht, sondern grundsätzlicher: der selbstsichere Westen sei in die Jahre gekommen und sollte nun prüfen, was vielleicht vom Osten zu lernen wäre (oder schon verändernd auf ihn gewirkt habe). Die Krise wäre eine gemeinsame Sache, objektiv wüchsen mit ihrer Bewältigung die Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West.

Was in dieser tiefsten Krise Not tue, „sei eine Haltung der Unverkrampftheit, die experimentelle Veränderung und mutige Erneuerung überhaupt erst möglich“ (S.55) mache. Dies ist dann auch das Rezept, das der Ministerpräsident nach einem ganz kurzen Blick auf die Malaisen des eigenen Ländchens (Schrumpfstädte, Landflucht, wirtschaftlicher Niedergang, Überalterung) anbietet: „Von der Fähigkeit, neue Probleme zu erkennen, strukturelle Fehlentwicklungen auch gegen Widerstände unerschrocken zu bekämpfen“ hänge der Erfolg demokratischer Politik ab. „Weitere schwere Jahre des Um- und Rückbaus“ stünden bevor. „Wir werden unsere geballte ‚Umbruchkompetenz’ aktivieren müssen, um sie erfolgreich zu bewältigen.“ (S. 61) Gewaltige Worte, doch kein Satz darüber, wohin uns dieser schwierige und unerschrocken einzuschlagende Weg führen wird.

Recht enttäuschend, doch waren die beim Um- und Rückbau verfolgten Absichten und Ziele vielleicht gar nicht sein Thema. Möglicherweise wollte der Ministerpräsidenten nur seine Landeskinder ermahnen, nicht in „Duldungsstarre“ (Thumfart) zu verharren. Denn hier wird er moralisch und fordert von ihnen gut ostdeutsch „eine Selbstverpflichtung: Avantgarde kann eben nur sein, wer die eigenen Angelegenheiten so gut und erfolgreich regelt, dass darin Vorbild und Ansporn auch für andere liegen. Eben diesen Maßstab müssen Ostdeutsche auch für sich gelten lassen.“ (S. 61) Solche Töne verwundern, ist Platzeck von Haus doch gar kein Lehrer, sondern Umweltingenieur. Ernster gesprochen: der hier offenbare Mangel an Konzeption ist nur für die Brandenburger nachteilig, der SPD dürfte er nicht schaden, hat doch auch keine andere der in Potsdam agierenden Parteien ein Entwicklungskonzept für das Land vorzuweisen.

Der anschließende Beitrag des Herausgebers Tobias Dürr ist anders gestrickt. Für ihn „ist die große Debatte darüber, in welcher Gesellschaft die Deutschen im 21. Jahrhundert leben wollen, noch nicht im Ernst angebrochen“ (S. 74). Damit ist auch die Motivlage angedeutet, aus der heraus das Buch entstanden ist. Der Beitritt Ostdeutschlands habe das alternative Nachdenken zuerst verhindert, inzwischen aber sei die Situation der Ostdeutschen zur stärksten Herausforderung geworden, sich der Zukunftsfrage zu stellen. Flickschusterei („erste vorläufige Reparaturmaßnahmen“) sei das Merkmal heutiger Reformpolitik, obwohl weithin klar sei, worin „Schlüsselressourcen sozialer und ökonomischer Selbstbehauptung liegen“ (S. 75), die auch die Perspektive eines lebbaren Lebens enthalten: Wissen und Erwerb immer neuen Wissens. Unbedingt zustimmungsfähig, doch wie das anstellen?

Inwiefern solche Einsicht zum Werkzeug für die nüchterne Beurteilung gegebener gesellschaftlicher Zustände brauchbar ist, kann Tobias Dürr an seiner „Rahmenhandlung“ zeigen. Er zeichnet Aufstieg und Niedergang des einst modernsten und größten Kraftwerks der Welt zwischen 1915 und 1992 und weiter bis heute nach und kann exemplarisch die Chancen und Lebensvorstellungen der Menschen sichtbar machen, deren Lebenswelt solche Zentren der Industriegesellschaft gebildet haben. Sie sind inzwischen in Ost wie West überflüssig, doch was kann aus den Überlebenden des industriellen 20. Jahrhunderts werden? Sie sind ohne Chance, und dies in Ostdeutschland mit seinem abrupten Ende der großen Industrie auf radikalere Weise als im Westen. Deshalb „stehen heute überall in Ostdeutschland mittelalte Menschen tatenlos vor Imbissbuden“. Es sind einfach zu viele, denen „dem 21. Jahrhundert heute schlechterdings kein Versprechen mehr inne“ wohnt. Es sind Menschenleben und Lebenschancen, Hoffnungen und Träume, die in diesen Jahren zerbröselt sind. Das ist nicht ohne Tragik, und reparieren lässt es sich auch nicht mehr.“ (S. 77)

Stehen bei Dürr die mittelalten Ostdeutschen tatenlos an den Imbissbuden rum, so vermuten Schoch und Weiß in der durch DDR-Sozialisation antrainierten Kleinbürgerlichkeit der Ostdeutschen die Ursache ihrer Passivität. Sie bewirke, dass Massenproteste gegen die „wachsenden Nachteile des Globalkapitalismus“ (S. 265) ausbleiben. Ganz ähnlich schließe die kleinbürgerliche Gesinnung der Westdeutschen bei ihnen jeden Gedanken an grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen aus; darum werde nur an sog. Krisensymptomen gewerkelt. Von ostdeutscher Avantgarde keine Rede, gerade die Kleinbürgerlichkeit der Ostdeutschen wirke vordergründig systemstabilisierend. Ihre „aus Mangel entstandene Flexibilität und Kreativität“ ist auch in der neuen Gesellschaft nützlich, „die eine ständige Bewegung innerhalb festgelegter Bahnen simuliert. Dieses gekonnte Arrangement mit Unwägbarkeiten und (vermeintlichen) Krisenattacken hält die gegenwärtige Ordnung zusätzlich stabil.“ (S.265)

Bewegen wir uns hier auf hoher Abstraktions- und Vermutungsebene, geben mehrere handfeste politische Studien andere Einblicke. Klaus Ness konfrontiert die „alten“ mitgliederstarken Parteien des Westens, mit ihren beinahe winzig kleinen Abteilungen im Osten, die dennoch in der Lage seien, Landes- und Kommunalpolitik zu absolvieren. Auch in der damit verbundenen politischen Professionalisierung (unter Aufgabe der Gesellungsfunktion wie der Milieubindung) zeichne sich bereits die gesamtdeutsche Zukunft der (noch) großen Parteien ab. Besonders angetan haben es dem SPD-Landesgeschäftsführer (Jg. 1962) die in der Nachwendezeit politisch sozialisierten jungen Politiker der zweiten Generation („unideologisch, verwurzelt in ihrer Region, sozial verantwortlich und pragmatisch ins Gelingen verliebt“ (S. 188)), die die SPD zur „Partei der tatkräftigen Ingenieure“ (S. 185) gemacht haben. Zugleich sieht Ness aktuell „die Menschen aus der Starre der Transformationsphase erwachen“ und damit das Bedürfnis entstehen, „an den Umbauprozessen im neuen, sich insgesamt verändernden Deutschland aktiv teilzunehmen“ (S. 193) – eine Chance für die dafür offenen Parteien. Die Leute wollen es nun langsam wissen und die verjüngten Parteien können es schaffen. Also noch ein, wenn auch vorsichtiger, Optimist aus Potsdam mit verständlichen Erwartungen: „Sollte diese Generation der Platzecks und Tiefensees stärker als bisher den Anspruch entwickeln, auf der gesamtdeutschen politischen Bühne mitzuwirken, könnte sie vielleicht nicht nur die Parteiendemokratie wiederbeleben. Sie könnte auch den nötigen Reformschub für ganz Deutschland auslösen.“ (194) Also vielleicht doch ein bisschen Avantgarde?

Der Politologe Franz Walter sieht das deutlich anders, doch er blickt ja nach Sachsen und fragt (gemeinsam mit Michael Schlieben) dort nach den Chancen für ein bürgerschaftliches politisches Engagement. Die beiden Autoren haben sich dazu einen ganz besonderen Ort ausgesucht und präsentieren hier eine exzellente historische Skizze von Aufstieg und Niedergang der sozialdemokratischen städtischen Musterkommune Freital bei Dresden (das „Rote Wien in Sachsen“). Hier ist nichts mehr von der großen Tradition vorbildlicher Kommunalpolitik und bürgerschaftlicher Sozialmoral geblieben. Ihre Prognose ist düster: „Heute sieht es so aus, als würde aus den Freitaler Ruinen der DDR-Vergangenheit kein neuer Geist auferstehen. Stattdessen treibt eine im Westen bereits allzu gut bekannte materielle, säkularisierte und populistische Gesinnung ihr Unwesen.“ (S. 239) Darum dürfte die Freitaler SPD auch das genaue Gegenstück zur Brandenburgischen sein. Auch hier eine Partei ohne Gesellungsfunktion und Milieubindung („keine Organisation, keine Verankerung im Freizeitwesen, keine ortsverwurzelte kommunale Elite“), hier jedoch die Ingenieure ohne die andernorts bewunderte Tatkraft: „Ihr Bild wird geprägt von introvertierten Naturwissenschaftlern, meist Ingenieuren, die sich zu DDR-Zeiten in ihren Nischen eingerichtet hatten. Außenseiter und Individualisten ohne Organisationserfahrung …“ Von denen, die hier die Partei am Leben halten, heißt es mitfühlend: sie „sind gewiss wacker und leidensfähig. Aber eines sind sie sicher nicht: kulturell deutungsmächtig oder gar identitätsstiftend.“ (S. 231)

Was von Walter und Schlieben für einen exzeptionellen Fall beschrieben wird, liest sich bei Alexander Thumfart etwas allgemeiner, versucht er doch, anhand ganz ähnlicher, hier nur weitgreifender betrachteter „politischer und sozialer Phänomene in Ostdeutschland wahrscheinliche Entwicklungen für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt zu explorieren“ (S. 137). Sein Ergebnis: wie die zukünftige „Bürgergesellschaft“ auch projektiert und angestrebt sei, es müsse angesichts der gegebenen Daten einfach damit gerechnet werden, „dass Integration und Bindung immer lokaler und immer ökonomischer werden, während die politische und zivile Integration an Kraft und Relevanz verliert und selektiver wird.“ Zivilität und politische Kultur sind gefährdet. Ost und West dürften sich insofern angleichen, als Zentren und „Brücken“ hoher Vergesellschaftung, die von ausgedehnten „Zonen wachsender Exklusion umgeben sind“ (S. 158).

Nun mag der Rezensent nicht alle Aufsätze referieren. Darum sei nur erwähnt, dass Gunnar Hinck und Albrecht von Lucke jeweils Heimat und Nation thematisieren und Alexander Camman prüft, ob denn die östliche „Integrationsliteratur“ auf der Höhe ihrer Aufgaben sei (sie ist es leider nicht: „Vierzehn Jahre nach dem Epochenbruch ist es nunmehr an der Zeit, dass auch die junge Autorengeneration die Zeit vor 1989 ernst nimmt.“ (S. 294)). Wolfgang Schröder (Spezialist der IG-Metall für die industrielle Situation in Ostdeutschland) prüft (im einzigen Text zur wirtschaftlichen Situation), wie weit die sog. Clusterstrategie (Investitutionen in wenige Zentren der Hochtechnologie) geeignet ist, dem Osten wirtschaftlich aufzuhelfen.

Unbedingt muß auf die sehr lesenswerten Texte von zwei „jungen Leuten“ (Jg. 1972) aus dem Osten aufmerksam gemacht werden. Thomas Kralinski geht (in sächsischer Perspektive, dort arbeitet er für die SPD-Landtagsfraktion) den eingetretenen und den weiter mit einiger Sicherheit zu erwartenden Folgen demographischen Wandels nach: „Wie die Bevölkerungsentwicklung im Osten Land und Leute prägt“ ist sein Thema. Hier leitet er aus den vorgetragenen Daten anregende Vorschläge für eine eingreifende Entwicklungspolitik ab, die mit den Beobachtungen von Alexander Thumfart kompatibel sind. Darin geht er weiter als alle anderen Autoren des Bandes. Ähnlich „weit“ geht auf andere Weise Toralf Staud (Redakteur bei der ZEIT). Er hat so gut wie alles gelesen, was die Forschungsliteratur über die Lebensweise von Einwanderern in aller Welt an bemerkenswerten Beobachtungen zusammengetragen hat. So gut wie alle dort beschriebenen Assimilationsschwierigkeiten, Formen von Kulturschock, Depression und Selbstethnisierung finden sich bei den Ostdeutschen nach Übertritt in die alte Bundesrepublik: „ihre Erfahrungen und ihre Verhaltensweisen im Neuen Deutschland sind schlicht die von Einwanderern“. (S.266) Nun ist dieser „Übergang in ein fremdes Land“ auch schon früher thematisiert worden, doch so zugespitzt war er noch nicht zu lesen. Und wie vor einigen Jahren Jörg Roesler die historische Literatur darauf geprüft hat, welche Aufschlüsse eine vergleichende Betrachtung von Anschlussfällen für die deutsch-deutsche Situation geben könnte („Der Anschluß von Staaten in der modernen Geschichte. Eine Untersuchung aus aktuellem Anlaß“, Frankfurt am Main 1999), so geht hier Toralf Staud die (vornehmlich ethnologische) Literatur darauf durch, was sie uns über den Verlauf der Assimilation der Ostdeutschen an/in die westdeutsche Gesellschaft und ihre Kulturen sagen kann und versucht darauf gestützt eine Reihe prognostischer Ausblicke. Dies dürfte eine (auch vergnügliche) Lektüre für West- und Ostdeutsche gleichermaßen sein. Selbst die Voraussage, wann denn die Integration der Ostdeutschen wirklich losgehe, dürfte beide Seiten befriedigen: „Sobald gebürtige DDR-Bürger oder deren Nachfahren auch in der Spitze der Bundeswehr und in die Vorstände der 30 Dax-Unternehmen aufgestiegen sind, dürfte die Integration zum Selbstläufer werden.“ Das könnte bald schon beginnen, denn bis in die Redaktionen großer Zeitungen sind Ostdeutsche ja bereits vorgedrungen. Warum sollte also der Aufstieg in die Wirtschaftselite nicht auch einigen eloquenten Habenichtsen aus dem Osten gelingen? Aber: Integration ist noch lange nicht Assimilation, „und schon gar nicht das Verschwinden alles Ostdeutschen“ (S. 281).

Was da heute deutlich anders ist, zeichnen - neben der „historischen“ Freital-Reportage von Walter und Schlieben - zwei weitere „Reportagen“. Als Gegenstück zum völligen Traditionsverlust in der einstigen sozialdemokratischen Musterstadt zeichnet Tanja Busse – auch dies ein eindrucksvolles Gemeindeporträt - das Leben im ehemaligen sozialistischen Musterdorf Mestlin nach: „1200 Einwohner, jeder Vierte ist arbeitslos, jede fünfte Wohnung steht leer…“ (S. 95), viele Gemeinschaftseinrichtungen funktionslos, leere Läden, die Schule an einem anderen Ort zusammengelegt usw. Was erhalten blieb und hoffen lässt: der agrarische Großbetrieb (die heutige Produktivgenossenschaft ist der einzige Arbeitgeber) und der rastlose Enthusiasmus einiger Mestliner, die trotz aller Rückschläge ihre Dorfgemeinschaft erhalten wollen und damit nicht ohne Erfolg geblieben sind und sich weitere Chancen ausrechnen. Landolf Scherzer begleitet einen Hausmeister durch den Alltag der Bauhausuniversität Weimar, lässt sich vom (ostdeutschen) Kanzler erklären, „was sich seit 1989 an dieser Universität abgespielt hat: Wissenschaftler, die die Wende nicht verkrafteten, einer habe sich das Leben genommen. Andere hätten es zwar geschafft, aber mit ihrer Selbstaufgabe bezahlt. Und dann seien da noch diejenigen, die die neuen demokratischen Strukturen aufgebaut hätten, die nun aber merkten, dass diese Strukturen kaum etwas taugen, wenn das Land kein Geld mehr habe. ‚Und die Wessis lernen jetzt, was wir schon erledigt haben, und fragen uns, wie man an einer Universität sozialverträglich Personal abbaut.’“ (S. 251) Auch der noch neue westdeutsche Rektor kommt bei Scherzer zu Wort; er will die spärlichen Reste demokratischer Spielregeln abschaffen („Die Wende und was danach geschah, interessiert heute niemand mehr“) und macht aus seiner Distanz zu den Ostedeutschen kein Hehl: „Der eigentliche Graben zwischen dem Leben und den Kulturen in Ost- und Westdeutschland ist der zwischen dem christlichen Glauben im Westen und dem Schlimmsten, was die Kommunisten den Menschen hier angetan haben, dem verordneten Atheismus.“ (S. 253)

Von diesem großen weltanschaulichen Unterschied zwischen Ost und West ist nur im Lamento des Rektors die Rede, sonst wird er im Buche nicht thematisiert. Auch der Spezialist für Religiosität und Kirchenbindung, Detlev Pollack, ist hier mit anderem beschäftigt. Ihn treibt um, warum die Ostdeutschen – trotz herausragender Gegenbeispiele – überhaupt nicht an den großen gesellschaftlichen Debatten teilnehmen, ja nicht einmal über ihre Erfahrungen als Fremde im neuen System berichten dürften: weil „sich die politische und intellektuelle Klasse Westdeutschlands in ihren abgeschlossenen Netzwerken und Milieus bewegt, in denen Ostdeutsche nichts zu suchen haben und aus denen sie mehr oder weniger bewusst herausgehalten werden“ (S. 300). Nützlich zu lesen, weil Detlef Pollack viele Ursachen für diese Ausgrenzung aufzuzählen weiß und auch eine Vermutung äußert, die alle prüfen sollten, die mit dem Gedanken liebäugeln, der Osten könnte tatsächlich irgendwie als Lehrstück funktionieren: „Vielleicht ist der Westen für den Osten einfach noch nicht reif.“ (S. 302) Mit diesem Satz endete dieser Text, als ihn Pollack in der ZEIT publizierte („Wer fremd ist, sieht besser“, 10. Oktober 2002). Für diesen Band hat er ihn um bedenkenswerte Beobachtungen erweitert. Sie allerdings betonen stärker – und darin ist der Autor nun seinem Ministerpräsidenten nahe – das subjektive Unvermögen der Ostdeutschen. Auch er hat eine vorwurfsvolle moralische Forderung für sie bereit. Denn ihr allgemeines Unvermögen habe eine spezielle, aber möglicherweise kardinale Ursache: sie haben es bislang versäumt, ihre eigene DDR-Vergangenheit ohne Furcht und Tadel aufzuarbeiten. „Erst wenn sie sich dieser Geschichte wirklich gestellt haben, werden sie eine Chance haben, einen eigenständigen Beitrag zu den gesamtdeutschen Debatten zu leisten.“ (S. 306)

Mit diesem Satz schließt das hier vorgestellte Buch über die Zukunft als Chance. Er stimmt etwas pessimistisch, denn schnell vermutet man, dass der exzellente Religionssoziologe und Kulturwissenschaftler Pollack uns auch nicht sagen kann, wie das mit der Geschichte und den Ostdeutschen denn geschehen solle. Aber vielleicht müssen das weiterhin die Westdeutschen auf den Geschichtslehrstühlen der ostdeutschen Universitäten aufklären, sonderlich die Zeithistoriker. Aber sollten ausgerechnet sie schon „für den Osten reif“ geworden sein? Deutlich anders stellt sich die Lage im Bereich der noch etwas zaghaften deutschen Zukunftsdebatte dar. Hier sind – und das belegt dieser Sammelband – die gebürtigen Ostdeutschen dabei. Es bleibt abzuwarten, was sie künftig zu sagen haben.