Report | Kulturation 1/2003 | Arbeitskreis Kulturpolitik der KulturInitiative'89 | Zehn kulturpolitische Grundsätze Vorschlag zur Diskussion über unseren kulturpolitischen Standpunkt - Januar 2003 | Die
große kulturelle Errungenschaft der europäischen Gesellschaften ist ihr
System sozial und kulturell ausgleichender Institutionen und die damit
verbundene Ethik sozialer Pflichten und der Verantwortung für die
Schwachen.
Zu den Traditionen des bürgerlichen Humanismus wie der sozialistischen
Bewegungen gehört es, die Utopie materieller wie kultureller Gleichheit
als dauerhaft bewahrt zu haben. Sie war immer wieder die geistige
Voraussetzung dafür, für die Freiheit und Selbstbestimmung des
einzelnen einzutreten. Gegenwärtig gefährden die globalen
wirtschaftlichen und machtpolitischen Veränderungen das Prinzip der
Sozialstaatlichkeit und den erreichten Grad der Teilhabe aller an
Kultur, Wissen und Kommunikation. Erlangte Gleichheit wird zugunsten
privatisierter Freiheit aufgegeben und damit die innere Stabilität der
Gesellschaft aufs Spiel gesetzt. In dieser Situation wären - jenseits
der Kulturpolitik im engeren Sinne und als ihre Voraussetzung - drei
kulturelle Aufgaben anzugehen
1. Es wäre in der deutschen Wohlstandsgesellschaft auf die sozialen und
kulturellen Ansprüche der arbeitenden Mehrheit (der Vielen) und vor
allem jener Menschen zu achten, die in dieser Gesellschaft zunehmend an
den Rand gedrängt werden und mit dem Risiko leben, durch die sozialen
und kulturellen Netze zu fallen.
2. Einzutreten wäre für eine Neudefinition des Prinzips der
Sozialstaatlichkeit, die kulturelle Teilhaberechte enthält und
berücksichtigt, daß der freie Zugang zu Bildung, Wissen und Kultur in
wachsendem Maße über Lebenschancen, gesellschaftliche Mitwirkung und
die Freiheit der einzelnen entscheidet.
3. Bei aller Wahrung föderaler Prinzipien braucht die deutsche
Gesellschaft eine Debatte über ein umfassendes Programm zur Förderung
der gefährdeten wie der brachliegenden schöpferischen Potenzen der
Gesellschaft. Sie muß in eine Reform der unbrauchbar gewordenen
Konzepte und überholten institutionellen Strukturen in Kultur, Bildung
und Information münden, damit sie den veränderten Markt- und
Kommunikationsbedingungen entsprechen und sie effizienter korrigieren
und ergänzen.
Im engeren Sinne kulturpolitisch wären folgende Grundsätze zu bedenken:
4. Die in Artikel 5 des Grundgesetzes proklamierte Freiheit von "Kunst
und Wissenschaft, Forschung und Lehre" darf nicht nur als ein Verbot
staatlicher Eingriffe verstanden werden, sondern verpflichtet den Staat
zugleich, Kultur im Interesse aller gesellschaftlichen Schichten durch
materielle Leistungen und günstige Gestaltung der Rahmenbedingungen
aktiv zu fördern. Aus solchem Bekenntnis zum "Kulturstaatsprinzip"
folgt nicht, Kulturförderung allein als eine staatliche Aufgabe zu
sehen oder gar eine kulturell regelnde "Zentralgewalt" anzustreben.
5. So sehr der Kulturföderalismus manche dringende Reform der
Kulturpolitik behindert, ist er doch zu bewahren und das föderale
Kulturprinzip zeitgemäß weiter zu entwickeln. Es hat nicht nur zu einer
bemerkenswerten kulturellen Vielfalt und Dichte beigetragen, sondern
half auch nationale Überschwänge zu verhindern.
6. der sog. "Trägerpluralismus" ist eine Voraussetzung für den
kulturellen Reichtum der Gesellschaft wie für die Entfaltung
konkurrierender kultureller Strömungen und Subkulturen. Kulturpolitik
sollte das Beziehungsgeflecht von öffentlichen Einrichtungen, freien
Projekten und privaten Initiativen so beeinflussen, dass nicht nur ein
vielfältiges, auch dezentral nutzbares Angebot für alle Gruppen von
Bürgern entsteht, sondern sie auch Anlass und Gelegenheit haben, ihre
Interessen auszudrücken und darzustellen.
Darum müßte für jene kulturellen Bereiche eine ausreichende öffentliche
Förderung und langfristige Sicherung angestrebt werden, die wichtige
Aufgaben für das Gemeinwesen wahrnehmen, aber nicht profitabel sind.
Daneben ist privates, gemeinwohlorientiertes Engagement jeder Art
anzuregen.
7. Kulturpolitik tut sich mit der Kulturwirtschaft schwer, sie hat
(begründete) Ressentiments gegenüber privat-wirtschaftlichem Engagement
im Kulturbereich. Dabei sollte sowohl die industrielle Massenproduktion
kultureller Güter grundsätzlich positiv gesehen werden als auch die
immer reicher verzweigte Kulturwirtschaft als kulturelles Novum
verstanden und nicht vordergründig als Zeichen von Kulturverfall
gewertet werden. Der Markt ist der bei weitem wichtigste Vermittler
zwischen kultureller Produktion und den Bedürfnissen der verschiedenen
sozialen Gruppen, kulturellen Milieus und den anspruchsvollen
einzelnen.
Dazu bedarf er allerdings einer gegensteuernden Regulation, die die
Profitstrategien wie die Konzentrationsprozesse in der Kultur- und
Medienwirtschaft, vor allem wegen der daraus folgenden kulturellen
Dominanz einiger weniger Global Players, im Interesse der Vielen
einschränkt.
8. Die Künstler aller Gattungen und Richtungen bedürfen der besonderen
Förderung. Die Künste sind es vornehmlich, die die Freiheit der
einzelnen einfordern, sie in ihrer sozialen Gebundenheit und in aller
Widersprüchlichkeit denken und auch erlebbar machen. Kulturpolitik mag
mitunter künstlerische Produktionen präferieren, die in die
gesellschaftlichen Debatten eingreifen, gesellschaftliche Vorurteile
bestätigen oder sich wirtschaftlich günstig auswirken. Wichtiger dürfte
es sein, die eigenen Welten der Künste und der Künstler als autonome
Räume, Experimentierfelder und Rückzugsorte zu sehen, die auch durch
politische Entscheidungen zu sichern und zu schützen sind.
9. Moderne Kulturpolitik setzt ein modernes Kunstverständnis voraus und
sollte bemüht sein, die neuen Kunstformen, die Verschmelzungen von
wissenschaftlichen und künstlerischen Aneignungsformen, die neue
massenkulturelle Ästhetik, die Möglichkeiten der digitalen
Kommunikationsformen und andere Neuerungen nach Kräften zu fördern.
10. Kulturpolitik ist zu einem großen Teil Traditionspflege.
Kulturpolitik sollte sich zu den europäischen Kulturtraditionen
bekennen und in den Kunstleistungen der Vergangenheit das zu bewahrende
Fundament nicht nur für eine reiche Gegenwartskunst, sondern auch für
ein Wertsystem zu sehen, das den Menschen in seiner irdischen Existenz
zum Maßstab seines Handelns macht. Darum sollte es weiterhin staatliche
Aufgabe sein, die großen Institute der Kunstpflege nicht nur zu
erhalten, sondern auch die von ihnen bewahrte sedimentierte soziale
Erfahrung für alle zugänglich zu machen.
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