KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ReportKulturation 1/2003
Arbeitskreis Kulturpolitik der KulturInitiative'89
Zehn kulturpolitische Grundsätze
Vorschlag zur Diskussion über unseren kulturpolitischen Standpunkt - Januar 2003
Die große kulturelle Errungenschaft der europäischen Gesellschaften ist ihr System sozial und kulturell ausgleichender Institutionen und die damit verbundene Ethik sozialer Pflichten und der Verantwortung für die Schwachen.

Zu den Traditionen des bürgerlichen Humanismus wie der sozialistischen Bewegungen gehört es, die Utopie materieller wie kultureller Gleichheit als dauerhaft bewahrt zu haben. Sie war immer wieder die geistige Voraussetzung dafür, für die Freiheit und Selbstbestimmung des einzelnen einzutreten. Gegenwärtig gefährden die globalen wirtschaftlichen und machtpolitischen Veränderungen das Prinzip der Sozialstaatlichkeit und den erreichten Grad der Teilhabe aller an Kultur, Wissen und Kommunikation. Erlangte Gleichheit wird zugunsten privatisierter Freiheit aufgegeben und damit die innere Stabilität der Gesellschaft aufs Spiel gesetzt. In dieser Situation wären - jenseits der Kulturpolitik im engeren Sinne und als ihre Voraussetzung - drei kulturelle Aufgaben anzugehen

1. Es wäre in der deutschen Wohlstandsgesellschaft auf die sozialen und kulturellen Ansprüche der arbeitenden Mehrheit (der Vielen) und vor allem jener Menschen zu achten, die in dieser Gesellschaft zunehmend an den Rand gedrängt werden und mit dem Risiko leben, durch die sozialen und kulturellen Netze zu fallen.

2. Einzutreten wäre für eine Neudefinition des Prinzips der Sozialstaatlichkeit, die kulturelle Teilhaberechte enthält und berücksichtigt, daß der freie Zugang zu Bildung, Wissen und Kultur in wachsendem Maße über Lebenschancen, gesellschaftliche Mitwirkung und die Freiheit der einzelnen entscheidet.

3. Bei aller Wahrung föderaler Prinzipien braucht die deutsche Gesellschaft eine Debatte über ein umfassendes Programm zur Förderung der gefährdeten wie der brachliegenden schöpferischen Potenzen der Gesellschaft. Sie muß in eine Reform der unbrauchbar gewordenen Konzepte und überholten institutionellen Strukturen in Kultur, Bildung und Information münden, damit sie den veränderten Markt- und Kommunikationsbedingungen entsprechen und sie effizienter korrigieren und ergänzen.


Im engeren Sinne kulturpolitisch wären folgende Grundsätze zu bedenken:

4. Die in Artikel 5 des Grundgesetzes proklamierte Freiheit von "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre" darf nicht nur als ein Verbot staatlicher Eingriffe verstanden werden, sondern verpflichtet den Staat zugleich, Kultur im Interesse aller gesellschaftlichen Schichten durch materielle Leistungen und günstige Gestaltung der Rahmenbedingungen aktiv zu fördern. Aus solchem Bekenntnis zum "Kulturstaatsprinzip" folgt nicht, Kulturförderung allein als eine staatliche Aufgabe zu sehen oder gar eine kulturell regelnde "Zentralgewalt" anzustreben.

5. So sehr der Kulturföderalismus manche dringende Reform der Kulturpolitik behindert, ist er doch zu bewahren und das föderale Kulturprinzip zeitgemäß weiter zu entwickeln. Es hat nicht nur zu einer bemerkenswerten kulturellen Vielfalt und Dichte beigetragen, sondern half auch nationale Überschwänge zu verhindern.

6. der sog. "Trägerpluralismus" ist eine Voraussetzung für den kulturellen Reichtum der Gesellschaft wie für die Entfaltung konkurrierender kultureller Strömungen und Subkulturen. Kulturpolitik sollte das Beziehungsgeflecht von öffentlichen Einrichtungen, freien Projekten und privaten Initiativen so beeinflussen, dass nicht nur ein vielfältiges, auch dezentral nutzbares Angebot für alle Gruppen von Bürgern entsteht, sondern sie auch Anlass und Gelegenheit haben, ihre Interessen auszudrücken und darzustellen.

Darum müßte für jene kulturellen Bereiche eine ausreichende öffentliche Förderung und langfristige Sicherung angestrebt werden, die wichtige Aufgaben für das Gemeinwesen wahrnehmen, aber nicht profitabel sind. Daneben ist privates, gemeinwohlorientiertes Engagement jeder Art anzuregen.

7. Kulturpolitik tut sich mit der Kulturwirtschaft schwer, sie hat (begründete) Ressentiments gegenüber privat-wirtschaftlichem Engagement im Kulturbereich. Dabei sollte sowohl die industrielle Massenproduktion kultureller Güter grundsätzlich positiv gesehen werden als auch die immer reicher verzweigte Kulturwirtschaft als kulturelles Novum verstanden und nicht vordergründig als Zeichen von Kulturverfall gewertet werden. Der Markt ist der bei weitem wichtigste Vermittler zwischen kultureller Produktion und den Bedürfnissen der verschiedenen sozialen Gruppen, kulturellen Milieus und den anspruchsvollen einzelnen.

Dazu bedarf er allerdings einer gegensteuernden Regulation, die die Profitstrategien wie die Konzentrationsprozesse in der Kultur- und Medienwirtschaft, vor allem wegen der daraus folgenden kulturellen Dominanz einiger weniger Global Players, im Interesse der Vielen einschränkt.

8. Die Künstler aller Gattungen und Richtungen bedürfen der besonderen Förderung. Die Künste sind es vornehmlich, die die Freiheit der einzelnen einfordern, sie in ihrer sozialen Gebundenheit und in aller Widersprüchlichkeit denken und auch erlebbar machen. Kulturpolitik mag mitunter künstlerische Produktionen präferieren, die in die gesellschaftlichen Debatten eingreifen, gesellschaftliche Vorurteile bestätigen oder sich wirtschaftlich günstig auswirken. Wichtiger dürfte es sein, die eigenen Welten der Künste und der Künstler als autonome Räume, Experimentierfelder und Rückzugsorte zu sehen, die auch durch politische Entscheidungen zu sichern und zu schützen sind.

9. Moderne Kulturpolitik setzt ein modernes Kunstverständnis voraus und sollte bemüht sein, die neuen Kunstformen, die Verschmelzungen von wissenschaftlichen und künstlerischen Aneignungsformen, die neue massenkulturelle Ästhetik, die Möglichkeiten der digitalen Kommunikationsformen und andere Neuerungen nach Kräften zu fördern.

10. Kulturpolitik ist zu einem großen Teil Traditionspflege. Kulturpolitik sollte sich zu den europäischen Kulturtraditionen bekennen und in den Kunstleistungen der Vergangenheit das zu bewahrende Fundament nicht nur für eine reiche Gegenwartskunst, sondern auch für ein Wertsystem zu sehen, das den Menschen in seiner irdischen Existenz zum Maßstab seines Handelns macht. Darum sollte es weiterhin staatliche Aufgabe sein, die großen Institute der Kunstpflege nicht nur zu erhalten, sondern auch die von ihnen bewahrte sedimentierte soziale Erfahrung für alle zugänglich zu machen.