KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
 Start  Reports  Themen  Texte  Zeitdokumente  Kritik  Veranstaltungen 

 Editorial  Impressum     
ReportKulturation 1/2010
Dieter Kramer
Ist „Multikultur“ gescheitert?
Die Einwanderungsgesellschaft ist alternativlos
Unser Autor Dieter Kramer kommentiert die aktuelle „Einwanderungsdebatte“ aus der Perspektive seines Fachgebietes als Kulturwissenschaftler und Ethnologe (a. o. Prof. an der Wiener Universität) und aus den Erfahrungen der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland, der er 2006/2007 als Sachverständiges Mitglied angehörte.

Wenn heute behauptet wird, „Multikulti“ sei gescheitert, dann erinnert das an eine längst abgeschlossene Diskussion der 1980er Jahre, in der die Vorstellung des bloßen Nebeneinander von in ihren kulturellen Besonderheiten bestätigten „Kulturen“ zurückgewiesen wurde. Stattdessen wird seit dieser Zeit immer wieder betont, dass es keine „Kulturen“ als geschlossene Gebilde gibt, sondern immer nur Individuen mit unterschiedlichen kulturellen, religiösen und traditionellen Prägungen miteinander in Kontakt treten. Dabei verändern sich sowohl die Zuwanderer und ihre Milieus wie die der übrigen Bevölkerung durch wechselseitige Einflüsse, nicht zuletzt vermittelt durch die Arbeitswelt, aber auch beeinflusst durch die Lebensverhältnisse im eigenen Land und durch globale Veränderungen.

Heute glauben hohe Repräsentanten der Politik, die überholte Idee des „multikulturellen“ Nebeneinander noch einmal zurückweisen zu müssen. Sie munitionieren in der alternativlosen Einwanderungsgesellschaft damit jene Gegner der Integration, die keine wirklichen Alternativen anbieten können, sondern nur Vorurteile, Ressentiments und gesellschaftlichen Unfrieden stiften. Die Vorteile der Einwanderungsgesellschaft sind nicht konfliktfrei zu haben, aber es gibt keine Alternative dazu. Der Integration und dem inneren Frieden wird nicht gedient durch solche Diskussionen.

Wegen der Sicherung des Wohlstandes, wegen der demographischen Entwicklung und wegen der humanitären Verpflichtungen ist Einwanderung für Deutschland unumgänglich, sagt der Bericht der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung“ vom 4. Juli 2001. Prozesse der kulturellen Veränderung sind mit dieser Zuwanderung notwendigerweise verbunden. Solche Prozesse finden statt in verschiedenen Milieus der Gesellschaft, sowohl denen der Zuwanderer wie denen der schon länger ansässigen Bevölkerung. Durch Kommunikation, spezifische Werte und Standards, durch Religion, Herkunft und Traditionen verbundene unterschiedliche Milieus leben gemeinschaftlich in einem staatlichen Verband. Sie alle gehören zu der verfassungsrechtlich als „Staatsvolk“ zu bezeichnenden“ Gemeinschaft und Gebietskörperschaft. Sie geben sich in der Rechtsvorstellung der Demokratie als Souverän eine für alle, auch für Migranten oder nur zeitweise sich im Territorium aufhaltende Personen verbindliche rechtliche Ordnung.

Aber nicht nur durch diese rechtliche Ordnung wird die Gemeinschaft zusammengehalten, sondern auch, so formuliert die Enquete-Kommission Kultur in Deutschland des Deutschen Bundestages von 2007, durch eine „ideelle Lebensgrundlage“. Diese speist sich nicht allein, wie in der aktuellen Diskussion oft behauptet, aus der christlich-jüdischen („abendländischen“) Tradition. Zu ihren untrennbaren Bestandteilen gehören Elemente aus der Antike, dem Christentum (das jüdische ebenso wie andere nahöstliche Überlieferungen einbezogen hat), der Aufklärung und der deutschen Klassik (die nicht zuletzt manche Sympathien für den Islam entwickelte), vor allem aber auch, und das wird meist vergessen, die Ideen der Sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts (ohne die Wohlfahrtsstaat und heutige Demokratie nicht denkbar sind). All diesen Traditionen, und nicht nur der christlichen, verdanken sich die in ihrem menschenrechtlichen Kernbestand unveränderlichen Standards des Grundgesetzes.

Die „ideelle Lebensgrundlage“ ist keine festgeschriebene „Leitkultur“. Vielmehr wird diese Lebensgrundlage durch die Interaktionen der Staats- und Wohnbevölkerung ständig weiterentwickelt und neu interpretiert. Dabei spielen informelle Prozesse in der „Zivilgesellschaft“ und die Reaktionen der Verfassungsorgane (die mit angemessener Verzögerung diese informellen Prozesse in der „Zivilgesellschaft“ aufgreifen) eine zentrale Rolle. An diesen Prozessen sind alle, auch die Migranten, beteiligt. Nicht ohne Grund taucht im Bericht der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland 2007 das Wort „Leitkultur“ nirgends auf, auch nicht in den auf Migration bezogenen Abschnitten. Ohne diese Prozesse kultureller Veränderungen gäbe es keine Emanzipation der Frau, keinen Naturschutz in der heutigen Form, keine Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen und vieles andere mehr. Diesen Prozessen der Anpassung der „ideellen Lebensgrundlage“ und der Rechtsordnung unter sich verändernden Bedingungen in der Einwanderungsgesellschaft müssen Politik und Zivilgesellschaft sich stellen.