Report | Kulturation 1/2010 | Dieter Kramer | Ist „Multikultur“ gescheitert?
Die Einwanderungsgesellschaft ist alternativlos
| Unser
Autor Dieter Kramer kommentiert die aktuelle „Einwanderungsdebatte“ aus
der Perspektive seines Fachgebietes als Kulturwissenschaftler und
Ethnologe (a. o. Prof. an der Wiener Universität) und aus den
Erfahrungen der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland, der er 2006/2007 als Sachverständiges Mitglied angehörte.
Wenn heute behauptet wird, „Multikulti“ sei gescheitert, dann
erinnert das an eine längst abgeschlossene Diskussion der 1980er Jahre,
in der die Vorstellung des bloßen Nebeneinander von in ihren
kulturellen Besonderheiten bestätigten „Kulturen“ zurückgewiesen wurde.
Stattdessen wird seit dieser Zeit immer wieder betont, dass es keine
„Kulturen“ als geschlossene Gebilde gibt, sondern immer nur Individuen
mit unterschiedlichen kulturellen, religiösen und traditionellen
Prägungen miteinander in Kontakt treten. Dabei verändern sich sowohl
die Zuwanderer und ihre Milieus wie die der übrigen Bevölkerung durch
wechselseitige Einflüsse, nicht zuletzt vermittelt durch die
Arbeitswelt, aber auch beeinflusst durch die Lebensverhältnisse im
eigenen Land und durch globale Veränderungen.
Heute glauben hohe Repräsentanten der Politik, die überholte Idee
des „multikulturellen“ Nebeneinander noch einmal zurückweisen zu
müssen. Sie munitionieren in der alternativlosen
Einwanderungsgesellschaft damit jene Gegner der Integration, die keine
wirklichen Alternativen anbieten können, sondern nur Vorurteile,
Ressentiments und gesellschaftlichen Unfrieden stiften. Die Vorteile
der Einwanderungsgesellschaft sind nicht konfliktfrei zu haben, aber es
gibt keine Alternative dazu. Der Integration und dem inneren Frieden
wird nicht gedient durch solche Diskussionen.
Wegen der Sicherung des Wohlstandes, wegen der demographischen
Entwicklung und wegen der humanitären Verpflichtungen ist Einwanderung
für Deutschland unumgänglich, sagt der Bericht der Unabhängigen
Kommission „Zuwanderung“ vom 4. Juli 2001. Prozesse der kulturellen
Veränderung sind mit dieser Zuwanderung notwendigerweise verbunden.
Solche Prozesse finden statt in verschiedenen Milieus der Gesellschaft,
sowohl denen der Zuwanderer wie denen der schon länger ansässigen
Bevölkerung. Durch Kommunikation, spezifische Werte und Standards,
durch Religion, Herkunft und Traditionen verbundene unterschiedliche
Milieus leben gemeinschaftlich in einem staatlichen Verband. Sie alle
gehören zu der verfassungsrechtlich als „Staatsvolk“ zu bezeichnenden“
Gemeinschaft und Gebietskörperschaft. Sie geben sich in der
Rechtsvorstellung der Demokratie als Souverän eine für alle, auch für
Migranten oder nur zeitweise sich im Territorium aufhaltende Personen
verbindliche rechtliche Ordnung.
Aber nicht nur durch diese rechtliche Ordnung wird die Gemeinschaft zusammengehalten, sondern auch, so formuliert die Enquete-Kommission Kultur in Deutschland
des Deutschen Bundestages von 2007, durch eine „ideelle
Lebensgrundlage“. Diese speist sich nicht allein, wie in der aktuellen
Diskussion oft behauptet, aus der christlich-jüdischen
(„abendländischen“) Tradition. Zu ihren untrennbaren Bestandteilen
gehören Elemente aus der Antike, dem Christentum (das jüdische ebenso
wie andere nahöstliche Überlieferungen einbezogen hat), der Aufklärung
und der deutschen Klassik (die nicht zuletzt manche Sympathien für den
Islam entwickelte), vor allem aber auch, und das wird meist vergessen,
die Ideen der Sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts (ohne die
Wohlfahrtsstaat und heutige Demokratie nicht denkbar sind). All diesen
Traditionen, und nicht nur der christlichen, verdanken sich die in
ihrem menschenrechtlichen Kernbestand unveränderlichen Standards des
Grundgesetzes.
Die „ideelle Lebensgrundlage“ ist keine festgeschriebene
„Leitkultur“. Vielmehr wird diese Lebensgrundlage durch die
Interaktionen der Staats- und Wohnbevölkerung ständig weiterentwickelt
und neu interpretiert. Dabei spielen informelle Prozesse in der
„Zivilgesellschaft“ und die Reaktionen der Verfassungsorgane (die mit
angemessener Verzögerung diese informellen Prozesse in der
„Zivilgesellschaft“ aufgreifen) eine zentrale Rolle. An diesen
Prozessen sind alle, auch die Migranten, beteiligt. Nicht ohne Grund
taucht im Bericht der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland 2007
das Wort „Leitkultur“ nirgends auf, auch nicht in den auf Migration
bezogenen Abschnitten. Ohne diese Prozesse kultureller Veränderungen
gäbe es keine Emanzipation der Frau, keinen Naturschutz in der heutigen
Form, keine Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen und vieles
andere mehr. Diesen Prozessen der Anpassung der „ideellen
Lebensgrundlage“ und der Rechtsordnung unter sich verändernden
Bedingungen in der Einwanderungsgesellschaft müssen Politik und
Zivilgesellschaft sich stellen.
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