KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ReportKulturation 2015
Thomas Hertel
„Seit Luther das größte deutsche Sprachgenie“ (Benn) In Naumburg wurde über Nietzsche als Dichter debattiert
Ein Bericht aus Sachsen-Anhalt

Vom 15. bis 18. Oktober 2015 fand in Naumburg unter Schirmherrschaft von Ministerpräsident Haseloff der diesjährige Internationale Nietzsche-Kongress statt. Der Titel lautete: >“Ja, mein Herr! Sie sind ein Dichter!“ NIETZSCHE UND DIE LYRIK<. Die Nietzsche-Stiftung und der Verein >Nietzsche-Gesellschaft e.V.< hatten erneut ein Thema gefunden, das Fachleute aus unterschiedlichen Disziplinen (Philosophie, Theologie Literaturwissenschaft/Germanistik usw.) sowie Künstlerinnen und Künstler bzw. Dichterinnen und Dichter zur Diskussion anregte. Die Kongressteilnehmer nahmen zahlreiche poetische Texte des Philosophen genau die Lupe, befassten sich mit Vorstudien sowie alternativen Gedicht-Versionen und machten deutlich, dass Nietzsches Lyrik durch Vielfalt, Originalität und Formumbrüche gekennzeichnet ist, aber ebenso Qualitätsschwankungen aufweist. Zahlreiche Gedichte sind editorisch noch nicht erschlossen und schlummern noch in Archiven.

Einen Schwerpunkt bildeten beim Kongress die „Dionysus-Dithyramben“. Der Hölderlin-Experte Wolfram Groddeck (Zürich) befasste sich mit diesen lyrischen Nietzsche-Texten und machte u.a. verständlich, was es mit der >Wahrheit im Dithyrambus< auf sich hat. Er hob auch hervor, dass für den Wassertrinker Nietzsche eher eine „nüchterne Trunkenheit“ charakteristisch ist; seine (poetische) Wahrheit gleicht Wolken, die wandern und sich wandeln. Bemerkenswert war auch die Neu-Interpretation zu >Rimus remendium / Oder: Wie kranke Dichter sich trösten< von Friederike Günther. Freilich kann das Ideal der „Old School“, demzufolge zuerst die Resultate, die aus der Sekundärliteratur hervorgehen, zu berücksichtigen sind, bevor eigene neue Lesarten entwickelt werden (auch angesichts der heutzutage angewachsenen Datenmenge) kaum noch erreicht werden. Gerade zu Nietzsche gibt es eine Fülle von Fachliteratur. Schon Gottfried Benn hatte (in Vorbereitung auf seinen berühmten Nietzsche-Vortrag) damit zu kämpfen und schrieb im Jahr 1950 an seinen Freund Oelze: „Ob ich das N[ietzsche]thema bearbeiten werde resp[ektive bewältigen] kann, weiss ich noch nicht. Es ist doch eine unendliche Lesearbeit damit verbunden – mehr als ich mir zumuten kann […]“. Und in seinem Vortrag betonte er, „daß es eine solche Fülle glänzender, ausgezeichneter Bücher über Nietzsche gibt, sowohl aus Deutschland wie aus anderen Ländern, daß es unmöglich ist, auch nur die wichtigsten zu studieren.“

Die auf dem Naumburger Nietzsche-Kongress präsentierten Text-Analysen waren meistenteils sehr akribisch. Bei solchen Forschungen besteht die Gefahr, dass Lyrik auf dem Seziertisch (ver-)endet. Zum Glück gab es in Naumburg sehr lebendige Diskussionsbeiträge. Das war besonders bei Peter André Bloch mitzuerleben. Da das Konzert >Unter Feinden< krankheitsbedingt nicht stattfinden konnte, musste er bei der Abendveranstaltung am Donnerstag kurzfristig einspringen. Dies erwies sich als glücklicher Zufall. Solche Kontingenz-Ereignisse hatten ja auch schon die Entstehung mancher Nietzsche-Texte begünstigt. Bloch zeigte einleitend (mit einer musikalischen Darbietung von Dietrich Fischer-Dieskau garniert), wie Nietzsche zu Wagner gefunden hat. Am 28. Oktober 1868 bekannte der junge Philologe nach der Aufführung der >Meistersinger<: „Ich bringe es nicht übers Herz, mich dieser Musik gegenüber kritisch kühl zu verhalten; jede Faser, jeder Nerv zuckt an mir, und ich habe lange nicht ein solches andauerndes Gefühl der Entrücktheit gehabt“. Kurz darauf kam es in Leipzig zur ersten Begegnung der Beiden. Bloch erläuterte außerdem, durch welche Vorstufen der Weg zu dem Nietzsche-Gedicht >Nach neuen Meeren< führte und er animierte das Auditorium dazu, mit ihm gemeinsam das Interpretationspotential auszuloten und den Kenntnisstand quasi um „eine Regenwurmlänge“ (Benn) voranzubringen.

In den fünf Sektionen des Kongresses standen diverse Spezialthemen auf der Agenda, die von der frühen Lyrik über den >ZARATHUSTRA< bis zur Rezeption von Nietzsches Gedichten reichten. Die Wissenschaft war beim Kongress in Naumburg symbiotisch mit der Literatur verbunden. Am Freitag las Uwe Kolbe unter dem Titel „Gegenreden“ aus seinen Gedichten. Hier interessierte das Publikum u.a. die seltsame Figur des Engels. Außerdem hörte man gern die biografischen Anekdoten des Autors, die ihm beim anschließenden Gespräch von den Moderatoren, den beiden wissenschaftlichen Leitern der Tagung (Christian Benne und Claus Zittel), entlockt wurden. Die Organisatoren hatten auch zahlreiche internationale Gäste nach Naumburg geholt. Der profunde Kenner deutscher Literatur, Soichiro Itoda (Tokio) konnte seine aufschlussreiche Spurenlese der poetischen Genese des Gedichtes >An Goethe< vorstellen. Babette Babich (New York), die in der Nietzsche-Forschung 2012 mit ihrer Untersuchung >Philosophische Figuren, Frauen und Liebe. Zu Nietzsche und Lou< hervorgetreten war, moderierte die Sektion zur Lyrikrezeption von Nietzsche und befasste sich in ihrem Vortrag mit dem Aspekt >Glorienschein und Dithyrambus<.

Oft leuchtete bei den Diskussion zu Nietzsches Lyrik der Goldstern: ZARATHUSTRA auf. Manche Reden boten Silber. Am Sonnabend gab es dann ein besonderes Glanzlicht. Martin Walser erhielt den Internationalen Nietzsche-Preis. Über die feierliche Preisverleihung gibt es ausführliche Presse-Berichte. Aber eine ergänzende Anmerkung scheint angebracht. Aus den Grußworten am Eröffnungstag war herauszuhören, dass dieser neue bzw. transformierte Preis wahrscheinlich vor allem dem diplomatischen Geschick des Direktors der Nietzsche-Stiftung zu verdanken ist. Das Land Sachsen-Anhalt hat sich vom Nietzsche-Literaturpreis zurückgezogen und vergibt nun lieber einen Klopstock-Preis. Einige Kongressteilnehmer äußerten Zweifel, ob Klopstock der geeignete Namensparton für einen Literaturpreis ist (man verwies u.a. auf Arno Schmidts Kritik in dem Radio-Essay: >KLOPSTOCK oder verkenne Dich selbst<). Andere sagten sich, dass es vielleicht sogar besser ist, wenn Nietzsche künftig nicht mehr von Politikern aus dem „Frühaufsteher-Land“ mit einem Preis beehrt wird. Wie dem auch sei, am besten dürfte es sein, nach vorn zu schauen. Und mit dieser Blickrichtung gelang Andreas Urs Sommer wohl ein „Genie-Streich“. Er konnte nämlich die Stadt Basel als neuen Partner gewinnen. Diese Konstellation eröffnet weitreichende Perspektiven. Ein internationaler Preis, der alternierend mit dem Partner aus der Schweiz verliehen wird, erhöht das Renommee dieser Ehrung. Für die künftige Erschließung des literarischen und philosophischen Nietzsche-Erbes gibt es also gute Voraussetzungen.

Diese Grundlagen wurden übrigens auch durch Renate Reschke erarbeitet. Über Jahrzehnte hatte sie schon in der DDR eine Lanze für Nietzsche gebrochen. Ihr Vorwort zu der 1990 erschienen Reclam-Ausgabe der >Fröhlichen Wissenschaft< setzte dann gleich nach der Wende wichtige Akzente. Mit ihrem Beitrag: >"Pöbel-Mischmasch" oder vom notwendigen Niedergang aller Kultur. Friedrich Nietzsches Ansätze zu einer Kulturkritik der Masse< in dem von Norbert Krenzlin herausgegebenen Sammelband >Zwischen Angstmethapher und Terminus. Theorien der Massenkultur seit Nietzsche.< (Berlin 1992) hatte sie ebenfalls maßgebliche Impulse vermittelt. Viele weitere Publikationen von Renate Reschke wären hier anzuführen; außerdem ihr Wirken als Herausgeberin und ihr unermüdliches Engagement in der Nietzsche-Gesellschaft sowie ihre wissenschaftlichen Beiträge auf vielen Kongressen. Sehr erfreulich ist, dass Reschkes Verdienste nun sogar durch die höchsten politischen Repräsentanten der Bundesrepublik gewürdigt worden sind. Am 19. Oktober 2015 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz überreicht.

Sachsen-Anhalt kann sich eigentlich sehr darüber freuen, dass zum kulturhistorischen-Erbe in diesem Land nicht nur Luther und Händel gehören, sondern eben auch Friedrich Nietzsche hier verwurzelt ist. Die Stätten des UNESCO-Weltkulturerbes werden hier oft als Leuchttürme mit Strahlkraft bezeichnet. Naumburg steht auf der Tentativliste und könnte mit seinem Dom sowie mit Zeugnissen der mittelalterlichen Kulturgeschichte bald ebenfalls von der UNESCO diesen Status zuerkannt bekommen. Man sollte jedoch daneben Nietzsche als funkelnden Stern am Firmament Geistesgeschichte nicht unterschätzen. Auf dem Internationalen Nietzsche-Kongress im Jahr 2017 wird übrigens das Thema: >Nietzsche und die Reformation< behandelt werden. Man darf darauf gespannt sein, welche Fragen und Erkenntnisse sich im Hinblick auf diese beiden Sprachgenies ergeben.