Report | Kulturation 2015 | Thomas Hertel | „Seit Luther das größte deutsche Sprachgenie“ (Benn) In Naumburg wurde über Nietzsche als Dichter debattiert
| Ein Bericht aus Sachsen-Anhalt
Vom 15. bis 18. Oktober 2015 fand in Naumburg unter
Schirmherrschaft von Ministerpräsident Haseloff der diesjährige
Internationale Nietzsche-Kongress statt. Der Titel lautete: >“Ja,
mein Herr! Sie sind ein Dichter!“ NIETZSCHE UND DIE LYRIK<. Die
Nietzsche-Stiftung und der Verein >Nietzsche-Gesellschaft e.V.<
hatten erneut ein Thema gefunden, das Fachleute aus unterschiedlichen
Disziplinen (Philosophie, Theologie Literaturwissenschaft/Germanistik
usw.) sowie Künstlerinnen und Künstler bzw. Dichterinnen und Dichter
zur Diskussion anregte. Die Kongressteilnehmer nahmen zahlreiche
poetische Texte des Philosophen genau die Lupe, befassten sich mit
Vorstudien sowie alternativen Gedicht-Versionen und machten deutlich,
dass Nietzsches Lyrik durch Vielfalt, Originalität und Formumbrüche
gekennzeichnet ist, aber ebenso Qualitätsschwankungen aufweist.
Zahlreiche Gedichte sind editorisch noch nicht erschlossen und
schlummern noch in Archiven.
Einen Schwerpunkt bildeten beim Kongress die
„Dionysus-Dithyramben“. Der Hölderlin-Experte Wolfram Groddeck (Zürich)
befasste sich mit diesen lyrischen Nietzsche-Texten und machte u.a.
verständlich, was es mit der >Wahrheit im Dithyrambus< auf sich
hat. Er hob auch hervor, dass für den Wassertrinker Nietzsche eher eine
„nüchterne Trunkenheit“ charakteristisch ist; seine (poetische)
Wahrheit gleicht Wolken, die wandern und sich wandeln. Bemerkenswert
war auch die Neu-Interpretation zu >Rimus remendium / Oder: Wie
kranke Dichter sich trösten< von Friederike Günther. Freilich kann
das Ideal der „Old School“, demzufolge zuerst die Resultate, die aus
der Sekundärliteratur hervorgehen, zu berücksichtigen sind, bevor
eigene neue Lesarten entwickelt werden (auch angesichts der heutzutage
angewachsenen Datenmenge) kaum noch erreicht werden. Gerade zu
Nietzsche gibt es eine Fülle von Fachliteratur. Schon Gottfried Benn
hatte (in Vorbereitung auf seinen berühmten Nietzsche-Vortrag) damit zu
kämpfen und schrieb im Jahr 1950 an seinen Freund Oelze: „Ob ich
das N[ietzsche]thema bearbeiten werde resp[ektive bewältigen] kann,
weiss ich noch nicht. Es ist doch eine unendliche Lesearbeit damit
verbunden – mehr als ich mir zumuten kann […]“. Und in seinem Vortrag betonte er,
„daß es eine solche Fülle glänzender, ausgezeichneter Bücher über
Nietzsche gibt, sowohl aus Deutschland wie aus anderen Ländern, daß es
unmöglich ist, auch nur die wichtigsten zu studieren.“
Die auf dem Naumburger Nietzsche-Kongress präsentierten
Text-Analysen waren meistenteils sehr akribisch. Bei solchen
Forschungen besteht die Gefahr, dass Lyrik auf dem Seziertisch
(ver-)endet. Zum Glück gab es in Naumburg sehr lebendige
Diskussionsbeiträge. Das war besonders bei Peter André Bloch
mitzuerleben. Da das Konzert >Unter Feinden< krankheitsbedingt
nicht stattfinden konnte, musste er bei der Abendveranstaltung am
Donnerstag kurzfristig einspringen. Dies erwies sich als glücklicher
Zufall. Solche Kontingenz-Ereignisse hatten ja auch schon die
Entstehung mancher Nietzsche-Texte begünstigt. Bloch zeigte einleitend
(mit einer musikalischen Darbietung von Dietrich Fischer-Dieskau
garniert), wie Nietzsche zu Wagner gefunden hat. Am 28. Oktober 1868
bekannte der junge Philologe nach der Aufführung der
>Meistersinger<: „Ich bringe es nicht übers Herz, mich dieser
Musik gegenüber kritisch kühl zu verhalten; jede Faser, jeder Nerv
zuckt an mir, und ich habe lange nicht ein solches andauerndes Gefühl
der Entrücktheit gehabt“. Kurz darauf kam es in Leipzig zur
ersten Begegnung der Beiden. Bloch erläuterte außerdem, durch welche
Vorstufen der Weg zu dem Nietzsche-Gedicht >Nach neuen Meeren<
führte und er animierte das Auditorium dazu, mit ihm gemeinsam das
Interpretationspotential auszuloten und den Kenntnisstand quasi um
„eine Regenwurmlänge“ (Benn) voranzubringen.
In den fünf Sektionen des Kongresses standen diverse Spezialthemen
auf der Agenda, die von der frühen Lyrik über den >ZARATHUSTRA<
bis zur Rezeption von Nietzsches Gedichten reichten. Die Wissenschaft
war beim Kongress in Naumburg symbiotisch mit der Literatur verbunden.
Am Freitag las Uwe Kolbe unter dem Titel „Gegenreden“ aus seinen
Gedichten. Hier interessierte das Publikum u.a. die seltsame Figur des
Engels. Außerdem hörte man gern die biografischen Anekdoten des Autors,
die ihm beim anschließenden Gespräch von den Moderatoren, den beiden
wissenschaftlichen Leitern der Tagung (Christian Benne und Claus
Zittel), entlockt wurden. Die Organisatoren hatten auch zahlreiche
internationale Gäste nach Naumburg geholt. Der profunde Kenner
deutscher Literatur, Soichiro Itoda (Tokio) konnte seine
aufschlussreiche Spurenlese der poetischen Genese des Gedichtes >An
Goethe< vorstellen. Babette Babich (New York), die in der
Nietzsche-Forschung 2012 mit ihrer Untersuchung >Philosophische
Figuren, Frauen und Liebe. Zu Nietzsche und Lou< hervorgetreten war,
moderierte die Sektion zur Lyrikrezeption von Nietzsche und befasste
sich in ihrem Vortrag mit dem Aspekt >Glorienschein und
Dithyrambus<.
Oft leuchtete bei den Diskussion zu Nietzsches Lyrik der Goldstern:
ZARATHUSTRA auf. Manche Reden boten Silber. Am Sonnabend gab es dann
ein besonderes Glanzlicht. Martin Walser erhielt den Internationalen
Nietzsche-Preis. Über die feierliche Preisverleihung gibt es
ausführliche Presse-Berichte. Aber eine ergänzende Anmerkung scheint
angebracht. Aus den Grußworten am Eröffnungstag war herauszuhören, dass
dieser neue bzw. transformierte Preis wahrscheinlich vor allem dem
diplomatischen Geschick des Direktors der Nietzsche-Stiftung zu
verdanken ist. Das Land Sachsen-Anhalt hat sich vom
Nietzsche-Literaturpreis zurückgezogen und vergibt nun lieber einen
Klopstock-Preis. Einige Kongressteilnehmer äußerten Zweifel, ob
Klopstock der geeignete Namensparton für einen Literaturpreis ist (man
verwies u.a. auf Arno Schmidts Kritik in dem Radio-Essay: >KLOPSTOCK
oder verkenne Dich selbst<). Andere sagten sich, dass es vielleicht
sogar besser ist, wenn Nietzsche künftig nicht mehr von Politikern aus
dem „Frühaufsteher-Land“ mit einem Preis beehrt wird. Wie dem auch sei,
am besten dürfte es sein, nach vorn zu schauen. Und mit dieser
Blickrichtung gelang Andreas Urs Sommer wohl ein „Genie-Streich“. Er
konnte nämlich die Stadt Basel als neuen Partner gewinnen. Diese
Konstellation eröffnet weitreichende Perspektiven. Ein internationaler
Preis, der alternierend mit dem Partner aus der Schweiz verliehen wird,
erhöht das Renommee dieser Ehrung. Für die künftige Erschließung des
literarischen und philosophischen Nietzsche-Erbes gibt es also gute
Voraussetzungen.
Diese Grundlagen wurden übrigens auch durch Renate Reschke
erarbeitet. Über Jahrzehnte hatte sie schon in der DDR eine Lanze für
Nietzsche gebrochen. Ihr Vorwort zu der 1990 erschienen Reclam-Ausgabe
der >Fröhlichen Wissenschaft< setzte dann gleich nach der Wende
wichtige Akzente. Mit ihrem Beitrag: >"Pöbel-Mischmasch" oder vom
notwendigen Niedergang aller Kultur. Friedrich Nietzsches Ansätze zu
einer Kulturkritik der Masse< in dem von Norbert Krenzlin
herausgegebenen Sammelband >Zwischen Angstmethapher und Terminus.
Theorien der Massenkultur seit Nietzsche.< (Berlin 1992) hatte sie
ebenfalls maßgebliche Impulse vermittelt. Viele weitere Publikationen
von Renate Reschke wären hier anzuführen; außerdem ihr Wirken als
Herausgeberin und ihr unermüdliches Engagement in der
Nietzsche-Gesellschaft sowie ihre wissenschaftlichen Beiträge auf
vielen Kongressen. Sehr erfreulich ist, dass Reschkes Verdienste nun
sogar durch die höchsten politischen Repräsentanten der Bundesrepublik
gewürdigt worden sind. Am 19. Oktober 2015 wurde ihr das
Bundesverdienstkreuz überreicht.
Sachsen-Anhalt kann sich eigentlich sehr darüber freuen, dass zum
kulturhistorischen-Erbe in diesem Land nicht nur Luther und Händel
gehören, sondern eben auch Friedrich Nietzsche hier verwurzelt ist. Die
Stätten des UNESCO-Weltkulturerbes werden hier oft als Leuchttürme mit
Strahlkraft bezeichnet. Naumburg steht auf der Tentativliste und könnte
mit seinem Dom sowie mit Zeugnissen der mittelalterlichen
Kulturgeschichte bald ebenfalls von der UNESCO diesen Status zuerkannt
bekommen. Man sollte jedoch daneben Nietzsche als funkelnden Stern am
Firmament Geistesgeschichte nicht unterschätzen. Auf dem
Internationalen Nietzsche-Kongress im Jahr 2017 wird übrigens das
Thema: >Nietzsche und die Reformation< behandelt werden. Man darf
darauf gespannt sein, welche Fragen und Erkenntnisse sich im Hinblick
auf diese beiden Sprachgenies ergeben.
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