Report | Kulturation 2013 | Isolde Dietrich | Wer nichts erheirat‘, nichts ererbt,
bleibt ein armes Luder, bis er sterbt.
Gedanken zu einem neuen Buch von Hans-Ulrich Wehler | Hans-Ulrich
Wehler, Bielefelder Altmeister der deutschen Sozialgeschichte, hat im
Februar eine Analyse der gegenwärtigen Lebenslagen in Deutschland
vorgelegt: "Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland" (München
2013, 191 S., br. 14,95 €). Der schmale Band hat es in sich, zeigt er
doch die neue Umverteilung von unten nach oben in aller Schärfe und in
vielen Facetten.
Das Buch war sofort vergriffen. Eine zweite Auflage erschien Anfang
März - punktgenau zur Verabschiedung des geschönten 4. Armuts- und
Reichtumsberichts der Bundesregierung sowie zur Veröffentlichung einer
Studie der Bundesbank über das Vermögen der Deutschen. Während
Vizekanzler, Wirtschaftsminister und FDP-Chef Philipp Rösler die
Befunde des Regierungsberichts überwiegend positiv bewertete und der
Meinung war, Armut bzw. Armutsgefährdung sei heutzutage kein
gravierendes Problem, Deutschland gehe es so gut wie nie, schlägt der
nüchterne Wissenschaftler Wehler Alarm. Wehler sieht politisch
gefährliche Spannungen heraufziehen, wenn der wachsenden Sozialen (bei
ihm immer absichtsvoll in Großschreibung) Ungleichheit in Deutschland
nicht Einhalt geboten werde. Ungleichheit dieser Dimension untergrabe
die Demokratie, die ja ganz wesentlich auf bestimmten
Gerechtigkeitsnormen als Legitimationsgrundlage beruhe.
Solche Warnungen sind kein Zeichen von Alarmismus. Wehler ist kein
Skandaljournalist, kein Heißsporn, der im Rundumschlag den täglichen
Katastrophenmeldungen eine weitere hinzufügt, kein Moralapostel, der
vordergründig an Ehrlichkeit, Redlichkeit und dergleichen appelliert,
kein Visionär, der ein Programm zur Lösung all der sozialen
Verwerfungen in der Tasche zu haben vorgibt. Vielleicht mit einer
Ausnahme: Eine angemessene, in anderen Ländern übliche Vermögens-,
Erbschafts- und Kapitalertragssteuer sowie ein höherer Steuersatz für
Spitzeneinkommen würden seiner Meinung nach Billionen bringen, „die für
den Ausbau des Bildungssystems und der Verkehrswege, die Renovierung
der Infrastruktur in den west- und ostdeutschen Städten und andere
dringende Aufgaben ohne weitere Belastung des Steuerzahlers eingesetzt
werden können“ (S. 76 f.).
Es sind historische Erfahrungen, die Wehler den Blick für kritische
Situationen geschärft haben. Als Autor einer fünfbändigen deutschen
Gesellschaftsgeschichte von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1990 hat
er die Entwicklung von Wirtschaft, politischer Herrschaft und Kultur
(von ihm wesentlich als Gefüge kultureller Institutionen und
Vermittlungen gefasst) über einen langen Zeitraum verfolgt und dabei
gezeigt, wie Gesellschaften als „Systeme sozialer Ungleichheit“ durch
das Zusammenwirken dieser drei Faktoren konstituiert wurden. Wer
zweieinhalb Jahrhunderte im Kopf hat, erkennt klar die Brüche in den
letzten Jahrzehnten. Vom Wirtschaftswunder bis in die 80er Jahre wurde
eine Strategie des sozialen Ausgleichs verfolgt, versucht, durch
Lohnerhöhungen, Rentenanpassungen, sozialen Wohnungsbau,
Bildungsreformen, Mitbestimmung usw. die von Wehler so benannten
Klassenunterschiede abzumildern. All dies geschah nicht zuletzt vor dem
Hintergrund eines praktizierten alternativen Gesellschaftsmodells,
wurde angetrieben auch durch die Konfrontation mit der DDR. Seit der
deutschen Einheit ist diese Herausforderung entfallen. Darüber hinaus
entstanden neue globale Konstellationen, in denen Deutschland in
Konkurrenz mit aufstrebenden Billiglohnländern seinen Platz erst noch
finden muss. Von sozialem Ausgleich könne keine Rede mehr sein,
umverteilt werde nur noch von unten nach oben. Diese Polarisierung, zu
besichtigen in „geradezu altertümlichen Formen krasser Ungleichheit“
(S.8), sei Ergebnis der seit den 80er Jahren international
durchgesetzten neoliberalen Wirtschaftspolitik. Wehler sieht darin
„einen der dramatischsten Vorgänge der modernen Zeitgeschichte“ (S.
60).
Wahrgenommen und wissenschaftlich diskutiert werde diese
Entwicklung aber kaum, da unter den Wirtschaftswissenschaftlern der
neoklassische, ganz auf das Wirken der Marktmechanismen fixierte
Denkhorizont dominiere. Auch von Seiten der Soziologen, Historiker und
Politikwissenschaftler hätten sich bisher nur wenige an der Debatte
beteiligt. Die Hierarchie der Klassenformationen zu analysieren sei als
marxistisch verpönt, vor allem die Unterschichten würden geradezu
totgeschwiegen oder nur marginal behandelt – ein Zustand, der völlig an
der Realität vorbeigehe. Bei dieser Lage der Dinge muss der fast
82jährige Autor offenbar selbst noch einmal eingreifen, mit einem
Furor, der dem 2010 erschienenen Essay Empört Euch! des seinerzeit 92
jährigen Stéphane Hessel in nichts nachsteht. Wie mag es um eine
Community bestellt sein, in der sich nur ganz alte, jenseits von
Karriererücksichten stehende Aktivisten zu Wort melden?
Eingangs fasst Wehler für alle, die mit seinem Erkenntnisinteresse
und seinem wissenschaftlichen Herangehen nicht vertraut sind, die
eigenen Ausgangspositionen zusammen. Auf 40 Seiten werden Adam Smith,
Karl Marx, Lorenz von Stein, Émile Durkheim, Max Weber, Claude
Lévi-Strauss und Pierre Bourdieu – um nur einige zu nennen – mit ihren
Beiträgen zu einer Theorie der sozialen Ungleichheit herangezogen.
Diese Einführung mag manchen abschrecken, dürfte aber für jedermann
verständlich sein. Es lohnt, dieses Kapitel nicht zu überschlagen. So
konzentriert findet man das sonst nirgendwo.
Anschließend geht es gleich hinein in die Wirklichkeit sozialer
Probleme, wie sie als Folge falscher politischer Entscheidungen und
umfassender Deregulierungen in den letzten 20 Jahren entstanden,
verfestigt oder auf die Spitze getrieben worden seien. In kurzen
Abschnitten wird jeweils die Entwicklung der deutschen Einkommens- und
der Vermögensungleichheit ausgewiesen, ein weiterer ist der
Ungleichheit in der deutschen Wirtschaftselite gewidmet. Philipp Rösler
und Co. mögen die entsprechenden Aussagen im Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesrepublik entschärfen, herunterspielen oder
als individuelles Schicksal interpretieren. Die Daten sprechen für
sich. Sie wurden vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden erhoben, sind
bei Wehler nicht nur nachzulesen, sondern werden von ihm auch
eingeordnet und erklärt.
Es soll hier nicht umfänglich mit Zahlen aufgewartet werden – sie
würden jede Rezension sprengen. Der Leser, dessen eigene Finanzen in
der Regel recht überschaubar sind, könnte sich ohnehin keinen Begriff
machen von vererbten Billionen, von Milliardenvermögen oder von
zweistelligen Millionen-Jahreseinkommen sowie von den damit verbundenen
Machtpositionen. Viel eingängiger dürfte da die Tatsache sein, dass die
Hälfte der Deutschen seit Jahren von der Hand in den Mund lebt, ohne
nennenswerte Rücklagen und sonstige Vermögenswerte. Und bei über drei
Millionen Arbeitslosen, acht Millionen in Minijobs und Teilzeitarbeit
Beschäftigten, Millionen Geringverdienern, Alleinerziehenden,
kinderreichen Familien und Kleinrentnern kann man sich davon ein Bild
machen, in welchem „Wohlstand“ diese Gruppen leben.
Wehler nennt die tiefgreifende Spaltung in Reich und Arm, die ja
zugleich eine Scheidung in Macht und Ohnmacht ist, „exzessive
Hierarchisierung“ (S. 168) Er findet sie direkt obszön. Am Beispiel der
Wirtschaftselite macht er sichtbar, worum es ihm bei sozialer
Ungleichheit geht: „nicht nur um privilegiertes Humankapital mit hohem
Einkommen oder um ungelernte Arbeiter mit stagnierenden Löhnen, sondern
vor allem um die politisch und rechtlich fundierte Machtausübung
kleiner Eliten, die sich in einem Maße, das vor wenigen Jahren noch
undenkbar gewesen wäre, ein Einkommen und Vermögen verschaffen, die sie
von der Lebenswelt ihrer Mitarbeiter denkbar weit abhebt“ (S. 63).
Diese Separierung wird in den folgenden Abschnitten anschaulich
vorgeführt. Da werden die deutschen Heiratsmärkte analysiert, die
klassenbedingten Unterschiede in der Lebenslage der Alten gezeigt, die
Ungleichheit der Bildungschancen und der Geschlechter ebenso
ausgebreitet wie die bei Gesundheit und Krankheit oder in den
Wohnbedingungen. Weniger aufschlussreich sind die Aussagen zur
ethnisch-kulturellen und zur konfessionellen Ungleichheit sowie zur
Ungleichheit in der Alltagswelt. Gänzlich enttäuschend ist der letzte
Abschnitt zur Ungleichheit zwischen West und Ost.
Wenn Wehlers Report gegen Ende hin an Überzeugungskraft einbüßt, so
sollte ihm das nicht angelastet werden. Diese Dimensionen der
Ungleichheit haben in seinem Forscherleben bisher immer eine
untergeordnete Rolle gespielt. Wehler hat die Sozialwissenschaften in
die Geschichtswissenschaft gebracht – das dürfte Verdienst genug sein.
Nun auch noch zu erwarten, dass er kulturelle Fragestellungen in die
Geistes- und Sozialwissenschaften und über diesen Umweg in die
Geschichtswissenschaft trägt, wäre wohl unangemessen. Den Cultural turn
(die kulturelle Wende) hat der Autor nie mitgemacht, dafür gegenüber
allerlei seiner Meinung nach luftigen Milieu- und Kulturstudien sein
Konzept der harten Strukturen, der groben Unterschiede, der
Klassenformationen verteidigt. In der „Aufwertung von ‚Kultur‘“ sah er
ohnehin nichts Neues, sondern nur die Rückkehr zu einer Grundeinsicht
Max Webers, dass zur „Konstitutierung von Wirklichkeit außer der
Wirkung der realhistorischen Prozesse auch immer die Dimension gehört,
wie der Sprachhaushalt und die Ideenwelt, die Realitätsperzeption, die
‚Weltbilder‘ der historischen Akteure diese Wirklichkeit mitbestimmen“
(S. 40). Immerhin räumt er im vorliegenden Band ein, dass
Lebensstilanalysen auch ein Gewinn sein können, wenn sie mehr als
Oberflächenphänomene und Randerscheinungen reflektieren.
Was die Ungleichheit zwischen West und Ost angeht, so zeigt sich,
dass Ostdeutschland bzw. die DDR für Wehler auch fünf Jahre nach dem
letzten Band seiner deutschen Gesellschaftsgeschichte ein Buch mit
sieben Siegeln geblieben ist. Er hat sich korrekt an seine damalige
Maßgabe gehalten, das „Intermezzo der ostdeutschen Satrapie“ müsse
nicht „durch eine ausführliche Analyse aufgewertet werden“. Lediglich
der Ton ist gemäßigter geworden, es ist nicht mehr von „deutschen
Bolschewiki“ die Rede, die Sprache des kalten Krieges hat nun offenbar
auch für ihn ausgedient. Was inhaltlich zutage gefördert wird, bleibt
bescheiden. „Das steile Gefälle der Ungleichheit, die das Verhältnis
des wohlhabenden Westdeutschlands, das seit langem zu den reichsten
Ländern der Welt gehörte, zu dem Entwicklungsland im Osten
charakterisierte, mutete der ostdeutschen Bevölkerung schmerzhafte
Veränderungen zu. Die überkommene Struktur der Sozialen Ungleichheit
wurde einer unnachgiebigen Verwestlichung ausgesetzt. Diese setzte sich
als Differenzierung nach oben durch, während die DDR konsequent nach
unten nivelliert hatte.“ S. 159 f.) Zu guter Letzt wird Wehler sogar
noch zum politischen Propheten. Nachdem er sich im ganzen Band nie zu
einzelnen Parteien geäußert hat, kommt er plötzlich auf die Linke zu
sprechen. Im Westen sei sie gescheitert, im Osten werde sie noch
geraume Zeit den Status einer beachtenswerten Regionalpartei einnehmen.
„Ihr Niedergang wird die Abmilderung der Sozialen Ungleichheit im
Verhältnis von West und Ost symbolisieren.“ (S. 162) Nun denn!
Noch einmal zurück zu Band 5 von Wehlers Gesellschaftsgeschichte.
Dort fand der Autor, die DDR-Geschichte verdiene keine „gleichwertige
Behandlung mit der Bundesrepublik“, wohl aber solle sie als Kontrast
und Vergleich dienen. Es wäre doch eine lohnende Aufgabe, nach dem
Muster von Wehlers Band oder auch des Armuts- und Reichtumsberichts der
Bundesrepublik posthum etwas Ähnliches für die DDR zu erstellen, wie
Wehler vorschlägt „als Kontrast und Vergleich“, vielleicht für die
Jahre 1950, 1970 und 1990. Klaus Schroeder, der Leiter des
Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berlin, hat Entsprechendes
angeregt. In einem Interview zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesrepublik vertritt er die Auffassung, Deutschland sei längst nicht
so ungleich wie dort behauptet, das Statistische Bundesamt habe einfach
falsch gerechnet. Im Übrigen sei in der DDR das Vermögen haargenau so
verteilt gewesen wie in der Bundesrepublik. „Der absolute Reichtum war
natürlich viel niedriger als heute, aber wir haben systemübergreifend
das gleiche Verhältnis. Ich halte das für spannend und verstehe nicht,
warum noch nie darüber geforscht wurde, warum sich im real
existierenden Sozialismus zumindest in Deutschland ähnliche
Ungleichheitsstrukturen herausgebildet haben wie im Kapitalismus.“
(Süddeutsche.de 19. September 2012). Dem wäre nachzugehen, in der
ganzen von Wehler entfalteten Breite. Möglicherweise würde sich zeigen,
dass die DDR hinsichtlich der Auflösung traditionaler Bindungen, der
sozialen Durchlässigkeit, der Öffnung der Bildungschancen und der
Geschlechtergerechtigkeit die modernere deutsche Gesellschaft war. Und
noch etwas: wenn das Vermögen in Ost und West annähernd gleich verteilt
war, ergibt sich die Frage, weshalb in Zusammenhang mit der DDR immer
von „materieller Nivellierung“ die Rede ist.
Doch zurück zu Wehlers Analyse. Manches ist anfechtbar, Fragen und
Einwände ließen sich vortragen, etwa ob solch selbstbezogene
innerdeutsche Untersuchungen noch zeitgemäß sind, ob der verwendete
unscharfe Klassenbegriff die sozialen Ungleichheiten hinreichend
abbildet, ob generell die Verteilungsgerechtigkeit den Ausgangspunkt
bilden kann oder ob man hier nicht viel grundsätzlicher ansetzen muss.
Bekanntlich hatte Marx in der „Kritik des Gothaer Programms“
Vorstellungen über eine künftige kommunistische Gesellschaft skizziert.
Er war der Ansicht, es sei zunächst „fehlerhaft, von der sog.
Verteilung Wesens zu machen und den Hauptakzent auf sie zu legen“.
Priorität besitze die Vorsorge der Gesellschaft für die Befriedigung
der Bedürfnisse aller ihrer Mitglieder. Die Verteilung des
gesellschaftlichen Gesamtprodukts habe von den gesamtgesellschaftlichen
Interessen auszugehen. Was davon als Konsumtionsmittel zur Verfügung
stehe, sei in vier große Fonds aufzuteilen: 1. für die nicht direkt zur
Produktion gehörenden Verwaltungskosten, 2. für die gemeinschaftlichen
Bedürfnisse wie Schulen, Gesundheitsvorrichtungen usw., 3. für
Arbeitsunfähige usw., für das, was seinerzeit zur sogenannten
Armenpflege gehörte. All dies sei von den Konsumtionsmitteln
abzuziehen, bevor es überhaupt zur individuellen Verteilung komme. Erst
dann könne darüber entschieden werden, was vom übrig bleibenden 4. Fond
dem Einzelnen zum persönlichen Verbrauch zuerkannt werde – je nach
seinem geleisteten Arbeitsquantum. Gedanken habe man sich vor allem um
die Entwicklung der Produktivkräfte zu machen, nicht um „gerechtere“
Verteilung, die nur eine Folge davon sein könne. Sicher hört sich das
heute ebenso antiquiert wie phantastisch an, doch um den Bestand der
Gesellschaft langfristig und nachhaltig zu sichern, werden
möglicherweise selbst Überlegungen der „Steinzeitmarxisten“ wieder
aktuell werden.
Die Lektüre von Wehlers Band sei jedem ans Herz gelegt, der
Orientierung sucht in den chaotischen Debatten der Gegenwart über Armut
und Reichtum in Deutschland. Hier hat kein Linker den Staat und viele
seiner Bürger arm geredet und kein Liberaler beschwichtigt: Alles halb
so schlimm. Soziale Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit sind für den
besonnenen Historiker Wehler keine politischen Kampfparolen, sondern
Abbilder zu überwindender bzw. anzustrebender realer Verhältnisse.
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