Report | Kulturation | Frank Thomas Koch | Über „Grenzregime als Ensemble mobilitätsregulierender Interventionsformen“ im 21. Jahrhundert - eine Buchbesprechung
| Steffen
Mau: Sortiermaschienen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert,
Edition Mercator C.H.Beck München,2021, 189 Seiten.
Der namhafte Soziologe Steffen Mau präsentiert einem breiteren Publikum
in dem 2021 erschienen Band (siehe Kasten) bemerkenswerte Befunde aus
mehrjähriger Forschung (vgl. Mau 2021: 167) über Grenzregime in der heutigen globalisierten Welt, mithin Grenzen im
Zeitalter der Globalisierung. Der Autor interessiert sich insbesondere
für die Personen-mobilität über Grenzen hinweg und dabei für die
operativen Funktionen der Kontrolle. Das ist nicht wenig, doch bleibt
bei dieser Fokussierung manches unberücksichtigt, was theoretisch,
empirisch und in normativer Hinsicht zum Gegenstand gehört oder ihn
wesentlich tangiert. Ich will zunächst die zahlreichen Lesefrüchte und
Erkenntnisse anführen, die ich dem Autor verdanke und erst zuletzt
skizzieren, was nicht Gegenstand der Analyse von Steffen Mau ist oder was ich vermisst habe.
Wider die Illusion von der grenzenlosen Welt und die Mär vom entgrenzenden Charakter der Globalisierung
Nach dem Fall der Berliner Mauer haben viele Zeitgenossen angenommen,“…
wir lebten im Zeitalter sich öffnender Schranken, erweiterter
Mobilitätsmöglichkeiten und durchlässiger werdender Grenzen“ (Mau
2021:12). Alte und neue Besitzer eines bundesdeutschen Passes haben
diese Gewissheit besonders gepflegt, gehören sie doch wie
beispielsweise Dänen, Finnen und Schweden zu jenen, die in sehr viele
Länder (mehr als 90) visafrei reisen können! Mau gesteht zwar zu, dass
diverse Nationalstaaten von immer mehr Personen öfter und wie
selbstverständlich verlassen werden, doch stellt er Erfahrungen von
Grenzüberschreitungen dieser Art die des größeren Teils der
Weltbevölkerung gegenüber. Sie ist geprägt von Ausschluss,
Mobilitätsabwehr, Wegsperren, Draußen-Sein, Re-Bordering (vgl. S. 14).
Sein zentraler Befund: „Auch und gerade unter Bedingungen der
Globalisierung setzen Grenzregime territoriale Kontrolle und
Selektivität durch, sind machtvolle Sortiermaschinen der globalisierten
Welt“ (15).
Mau legt dar, man müsse sich im 21. Jahrhundert von der konventionellen
Vorstellung der Schlagbaumgrenze des 20. Jahrhunderts lösen. Die Grenze
im Zeitalter der Globalisierung sei eine andere „als die des
nationalstaatlichen Containers“ (S. 18). Mau fragt deshalb, wie denn
die Grenze als Sortierungsmaschine heute operiere.
Unterschieden werden Grenzen, „Grenzinfrastrukturen“ verschiedenen
Typs. So die „Niemandslandgrenzen“ als schwächste aller Grenzziehungen,
die immerhin markierten „Grenzsteingrenzen“, dann die
„Kontrollortgrenze“. Schließlich führt Mau die neben Übergängen
physische Hindernisse wie spanische Reiter, Zäune oder Gräben
aufweisende „Barrieregrenzen“ auf und dann die durch Mauern, Zäune
Stacheldraht bewehrten „fortifizierten Grenzen“ (S. 54 f).
„Seit der Jahrtausendwende können wir ein geradezu inflationäres
Aufleben der Mauer- bzw. fortifizierten Grenzen beobachten…Mauern
liegen im Trend“ (S. 53; 54).
Wurden 1997 weltweit weniger als 20 fortifizierte Grenzen gezählt, gab
es 2018 es mehr als 70! Dabei wurden die im Zuge der so genannten
europäischen Flüchtlingskrise von 2015 errichteten Grenzziehungen noch
nicht berücksichtigt. Zudem spielen „digitale Grenzlösungen“ eine
wachsende Rolle. Freilich ist der Band vor dem Ukraine-Krieg Russlands
und der geballten, Russland sanktionierenden, isolierenden Antwort des
„Westens“ verfasst worden. (Mir scheint, dass der „Eiserne Vorhang“ in
der Zeit des „Kalten Krieges“ ein ziemlich durchlässiges Gebilde war im
Vergleich mit dem, was sich da jetzt gegenüber Russland abzeichnet.)
Grenzen als Bollwerke und Sortiermaschinen der Globalisierung
Der Autor stellt die erhellende These auf, wonach Grenzregime einer Transformation unterliegen, die es zu erkunden gilt.
Nach Mau sind Grenzen heutzutage ein komplexes Arrangement, eine
verschachtelte Kontrollordnung. Mobilität werde einem
Sicherheitsparadigma unterworfen, welches über verschiedene
Kontrollräume operiere, Zonen der Zirkulation herstelle, sich an der
Sozialfigur des vertrauenswürdigen Reisenden orientiere und dabei eine
Hierarchie der ungleichen Mobilitätsrechte erzeuge. Die Grenze unter
Globalisierungsbedingungen „ist eine Grenze, an der Ungleichheit
erzeugt und auf Dauer gestellt wird“ (22). Die alte Schlagbaumgrenze
verliert an Bedeutung; sie wäre eine „Globalisierungsbremse“.
„Grenzen rüsten um, um die Öffnungsinteressen – Einbindung in einen
Weltmarkt, Bewegungsmöglichkeiten für die eignen Bürger… - mit
Schließungsinteressen – Sorge um die Sicherheit, Angst vor
unkontrollierter Zuwanderung – zu verbinden“(50)
Die Dialektik der Globalisierung besteht mithin trotz aller
Metamorphosen darin, Grenzen gleichermaßen zu öffnen, aufzulösen,
weniger spürbar zu machen wie auch zu setzen, unüberwindlich zu machen,
mithin zu schließen.
Verstehe ich Mau richtig, so folgt er zwar bereitwillig dem (west-)
deutschen Mainstream, wenn er an mehreren Stellen von „nationalen
Containern“ spricht. Damit erweist er dem fehlgeleiteten
kosmopolitischen Diskurs insbesondere in Deutschland seine Referenz,
einem Diskurs, welcher sich als nicht- oder antinational versteht, für
den es evident ist, dass der Nationalstaat sich nicht nur funktional
überlebt habe (seien doch alle wichtigen Probleme nur international zu
lösen, wobei in der Regel offen bleibt, wie und durch wen) und der sich
aufgrund seiner blutigen (zurechtgestutzten) Geschichte auch moralisch
diskreditiert habe. Doch grenzt der Autor sich zugleich von den
euphorischen Entgrenzungs- und Emanzipationsnarrativen ab, die mit dem
Globalisierungsdiskurs noch häufig verbunden werden, indem er auf „jene
Entwicklungen verweist, die wir mit Formeln wie ‘Festung Europa‘, der
‘Wall around the West‘ oder dem ‘Mauerbaufieber‘ in Verbindung bringen“
(47).
Mau warnt davor, die Erfahrung des Vielfliegers oder/und
Konferenztouristen zu überdehnen und erinnert daran, dass der Anteil
jener, die innerhalb eines Jahres überhaupt fliegen auf drei Prozent
der Weltbevölkerung geschätzt wird. Ferner wird angenommen, dass 80 bis
90 Prozent der heute lebenden Menschen noch nie ein Flugzeug betreten
haben (vgl. S. 47).
Die konkreten Gründe für den Bau von Mauern und Sperranlagen sind
verschieden; nicht alle dieser Grenzen sind „Mauern der
Globalisierung“. Manche haben den einstigen Zweck ihres Baus, wie etwa
die chinesische Mauer, überlebt und sind einfach stehen geblieben. Doch
in der Regel sollen illegale Grenzüberschreitungen von Menschen in
Armut und Not, transnationaler Terrorismus, Drogen und Schmuggel
abgewehrt werden. Mauergrenzen sind oft Wohlstandsgrenzen. Wäre die
Südgrenze der EU nicht das Mittelmeer, sähe sie so ähnlich aus wie die
der spanischen Exklaven in Ceuta und Melilla in Nordafrika oder die
Südgrenze der USA zu Mexiko.
Über das unegale Verhältnis zwischen Grenzgestaltung und politischer wie ökonomischer Verfasstheit von Gesellschaften
Mau entwickelt den festzuhaltenden und bei dezidierten Freunden des
Westens möglicherweise Schnappatmung hervorrufenden Gedanken, dass es
keine Wahlverwandtschaft zwischen einem gegebenen politischen oder
ökonomischen System und der Art seiner Grenzgestaltung gebe (vgl. S.
58). „Westliche Gesellschaften“ haben oft ziemlich restriktive und
bewehrte Außengrenzen, sind „beileibe nicht die offensten“ (82). Das
hängt offenbar damit zusammen, dass ihre Grenzen vielfach
Wohlstandsgrenzen sind.
Mit Blick auf die Selektivitätsfunktion von Grenzen ist zwischen
Mobilität (Gesamtheit aller Grenzüberschreitungen) und Migration
(darunter langfristige Verlagerung des Lebensmittelpunktes in ein
anderes Land) zu unterscheiden. Die Staaten lassen sich auf die Frage,
wen sie passieren, einreisen lassen und wen nicht, allerlei einfallen.
Mau führt einen kuriosen Befund an: In Neuseeland können jobsuchende
Ausländer mit Arbeitsvertrag abgewiesen werden, wenn ihr
Body-Mass-Index und Bauchumfang über den Obergrenzen für Neuzugänge
liegt (vgl. S. 72). Zuwanderer sollen das Gesundheitssystem nicht
belasten. Viele Länder legen Quoten oder/und ein Punktesystem für
potenzielle Zuwanderer fest. Die Fluchtmigration aus Syrien zeigt, dass
die Aufnahmebereitschaft nicht zwischen liberalen und illiberalen
Staaten verläuft, sondern quer zu dieser Trennlinie liegt.
Passinhaberschaft bzw. Staatsbürgerschaft (häufig in die Wiege gelegt)
wird von Mau zurecht als „Kapital“ im Sinne Bourdieus verstanden,
„…also als strategisch einsetzbare Ressource zur Verfolgung
individueller Ziele und zur Sicherung und Verbesserung des eigenen
Status“ (S.89) oder eben auch als etwas, was Menschen auf Gedeih und
Verderb an einen Ort kettet. Im Rahmen des Weltganzen gesehen
entscheidet die Staatsbürgerschaft über Existenzbedingungen. Für
Personen mit großen Vermögen ist der Erwerb einer neuen oder
zusätzlichen Staatsbürgerschaft durch den Kauf „goldener Pässe“ keine
Hürde. Bislang haben oder hatten immerhin 13 EU-Staaten
„Aufenthaltstitel für Wohlhabende“ und Großinvestoren angeboten.
Mau hebt den allgemein bekannten Fakt hervor, dass die Visumpflicht
bzw. Visumbefreiung einer der wichtigsten Hebel zur Regulierung
grenzüberschreitender Mobilität ist. Weniger bekannt dürfte sein, dass
die Staatsbürger etlicher afrikanischer Länder heute weniger visumfrei
reisen können als in den 1960er Jahren (vgl. S. 92). Als Faustregel
gilt: „Je ärmer das Herkunftsland, desto teurer das Visum“ in den
globalen Norden (96) und je aufwendiger seine Beschaffung. Gebühren und
Zugangshürden bei der Beantragung von Visa sollen potenzielle Reisende
aus etlichen Ländern offenbar abschrecken (vgl. S. 96 f).
Mau erklärt diese Restriktion – u. a. für Afrikaner - damit, dass im
„globalen Norden“ die Praxis der Visafreiheit zunächst eine von außen-
und entwicklungspolitischen Fragen abhängige Variable war, ab den
1990er und 2001er Jahren hätten sich indes migrationspolitische und
sicherheitspolitische Erwägungen in den Vordergrund geschoben. Nur am
Rande sei erwähnt, dass die Ukraine - zumindest vor dem Februar 2022 -
zu den wenigen Ländern Europas gehörte, die von Afrikanern kein Visum
verlangte, weshalb in der Ukraine relativ viele Afrikaner zu studieren
pflegten. Und die Russische Föderation war bislang (bis zum
Ukraine-Krieg) eine „Diktatur mit offenen Grenzen“ (Kaminer). Der
zitierte Autor meint damit beileibe nicht, dass jeder nach Russland
einreisen könne, wann es ihm beliebt, sondern nur oder immerhin, dass
dessen Einwohner das Land relativ problemlos verlassen können. Eben das
haben er und viele andere getan.
Geblieben ist bis heute, dass Grenzkontrollen - sogar in westlichen
Demokratien - „auch immer in Situationen der Ohnmacht und des
Ausgeliefertseins“ umschlagen können.
Neue digitale Technologien zur Überwachung von und Kontrolle an Grenzen
Hierbei geht es um die Nutzung von Datenbanken, algorithmische
Risikoanalysen, biometrische Identifikation, sensorische Erfassung,
Video- und Audioüberwachung, Wärmebildkameras, Drohnen…
Damit kann in bestimmten Fällen die Grenze als Bauwerk ersetzt und Überwachung auf Dauer gestellt werden:
„Die Grenze selbst wird also unsichtbar, während die Personen im Grenzraum technologisch sichtbar gemacht werden“ (S. 102).
„Intelligente Grenzen“ versprechen nicht nur „bessere“, sondern auch
schnellere Kontrolle von Personen, ohne diese auf- oder anzuhalten,
sofern diese als risikoarm gelten. Intensive Einzelkontrollen und
Befragungen sind dagegen zeitaufwendig und können sich dann auf
bestimmte Personen, mit denen besondere Risiken verbunden werden,
konzentrieren.
Was sich bei Einreise- und Grenzkontrollen und bei der sonstigen
Überwachung abzeichnet, das ist das Zusammenführen von Informationen
aus verschiedenen Datenbanken. Mau erwähnt nicht nur das
Social-Credit-System in China, sondern erinnert auch daran, dass die
USA unter Trump die Regelung lanciert haben, der zufolge Bewerber für
Aufenthaltsvisa neben persönlichen Daten auch ihre Profile und Kontakte
der letzten fünf Jahre in den sozialen Medien, etwa auf Facebook,
Twitter und Instagram, offenlegen sollten! Auch aus Russland sind
Überwachungspläne für Arbeitsmigranten per App bekannt geworden (vgl.
S.111).
Mit der Corona-Krise wurden auf neue Weise Gesundheitsinformationen zum
Gegenstand staatlicher Politik und auch Bestandteil der
Risikoklassifizierung für die „Sortiermaschine Grenze“.
Rückbau von Binnengrenzen, Aufwertung von Außengrenzen
Nach dem Ende der Block-Konfrontation gewann in den 1990er Jahren die
Vorstellung an Raum, etwa bei Samuel Huntington, die Blöcke würden von
Lagerbildungen zwischen Kulturen, Konfessionen und Identitäten
abgelöst. Mit Blick auf sein Thema verweist Mau hingegen darauf, dass
es viele „Abschottungsgrenzen“ auch und gerade zwischen kulturell
ähnlichen Ländern gebe, z.B. zwischen mehrheitlich muslimischen
Ländern. Von größerem Erklärungswert als kulturelle Faktoren sind für
den Autor bei Grenz-Abschottungen Gefälle im Wohlstand.
Der EU-Schengenraum ist dagegen ein guter Beleg für die in der
Zwischenüberschrift angedeutete Tendenz. Zwischen den Schengenländern
sind sämtliche Grenzkontrollen abgeschafft.
„In dem Maße, wie Grenzen zwischen den Mitgliedsländern zurückgebaut
wurden, kam es zu einer „‘Aufwertung‘ der Außengrenzen“ (S. 125).
Dies bedeutet für Länder mit Randlage (bei der Flüchtlingskrise von
2015 etwa Italien, Griechenland, Malta, in der Ukraine-Krise die
osteuropäischen EU-Länder) dass sie nach dem Dublin-Abkommen besondere
politische und soziale Kosten zu tragen haben. Ich sehe darin nach wie
vor ehebliche Sprengsätze. Mau hält im Unterschied zu Streeck ein
Scheitern der EU offenbar für wenig wahrscheinlich, sondern findet eher
„…Anzeichen, dass die regionalen Verbünde auch außerhalb Europas an
gemeinsamen Kontrollstandards arbeiten … Ein anderes Betätigungsfeld
ist die Entwicklung eines gemeinsamen Rahmens zur Steuerung und
Regulierung von Migration und Mobilität in die jeweilige
Wirtschaftszone hinein“(134).
Kontrollverlagerung, Auflösung der Ortsfixierung von Grenzkontrollen
Die Außenposten der europäisch-deutschen Grenzpolitik befinden sich im
Mittelmeer, in Nordafrika, ja in der Subsahara! Ist doch deren
Grenzpolitik auf die „Eindämmung und sicherheitspolitische Kontrolle
des Zustroms von … Migranten aus Afrika gerichtet“ (135). Der Leser
erfährt, dass die EU seit vielen Jahren die Ausbildung und den Aufbau
von Grenzpersonal fördert, welches den Aufbruch von Flüchtlingen in
Richtung Libyen aufhalten soll. Da werden dann auch Wasserstellen in
der Wüste überwacht!
Dieser Trend der Kontrollverlagerung erheischt ein Verlagern des
analytischen Blicks. Nicht so sehr und allein die Bewegung von mobilen
Menschen über die Grenze ist zu betrachten, sondern ebenso die Bewegung
von Grenzen auf mobile Menschen zu (vgl. S. 137).
Der Autor beschreibt zwei Tendenzen. Zum einen gibt es statt
stationärer nun mobile Kontrollen in Grenznähe, an Knotenpunkten. Zum
anderen werden neben staatlichen Akteuren Arbeitgeber,
Transportunternehmen, Vermieter und normale Bürger in Kontrollaufgaben
eingespannt. Diese haben Aufenthaltstitel, Nachweise zu prüfen,
Meldepflichten zu erfüllen…
In manchen Grenzräumen patrouillieren sich selbst ermächtigende Bürgerwehren, um illegale Migranten aufzuspüren!
Insbesondere die USA, Kanada, Australien oder die EU, auch Israel haben
die Kontrollvorverlagerung vorangetrieben, so „dass die Barrierewirkung
von Grenzen oft schon tausende Kilometer vor dem eigenen Territorium
entsteht“(140).
Bemerkenswert ist das Fazit des Autors in dieser Hinsicht:
„Die Staaten verschaffen sich durch vorgelagerte Kontrolle Spielräume
der Abwehr und Abschreckung, die sie auf dem Boden ihrer liberalen
Ordnung kaum hätten … ein wesentlicher Motor ist der Wunsch vor allem
liberaler Staaten, sich ihrer eignen normativen Selbstbindungen zu
entledigen“ (150).
Leerstellen, Selbstbegrenzungen: was ich vermisst habe
Ausblenden des grenzüberschreitenden Verkehrs von Waren, Informationen, Kapital und des kardinalen Webfehlers der EU
Zunächst und vor allem analysiert der Soziologe den
grenzüberschreitenden Personenverkehr, nicht aber den Verkehr von
Waren, Informationen, kulturellen Gütern, Kapital über Grenzen hinweg
(vgl. S. 19). Diese Fokussierung mag erklärlich sein, sie ist aber
mindestens ebenso bedauerlich. Ich hätte schon gern erfahren, wie Mau
den fatalen Webfehler in der Konstruktion der Europäischen Union und
insbesondere der Eurozone reflektiert, sich und anderen erklärt.
Staaten, die dieser angehören, haben nämlich ihre monetäre Souveränität
an eine unabhängige multinationale Zentralbank abgetreten. Sie haben
ferner einen praktisch nur unter hohen Kosten aufkündbaren Vertrag
unterschrieben, der sie zu einer Verschuldungsgrenze von 60 Prozent
ihres Sozialprodukts und einer einzuhaltenden Haushaltsdefizitgrenze
von jährlich drei Prozent verpflichtet. Der Clou an Marktkonformität
und Einlösung neoliberaler Träume in der Konstruktion der EU aber
besteht darin, dass die Mitgliedsländer einer Güter, Dienstleistungen,
Kapital und Arbeit umfassenden Freihandelszone beigetreten sind, in
welcher Kapitalverkehrskontrollen nicht nur intern im Binnenmarkt,
sondern auch gegenüber dem Rest der Welt verboten sind! Streit und
Zweifelsfälle sind von einem verbindliche Entscheidungen treffenden,
von keinem demokratisch legitimierten Gesetzgeber kontrollierbaren
internationalen Wirtschaftsgerichtshof zu überantworten. Die Urteile
können nur von diesem selbst aufgehoben werden.[1] Das ist eine sehr
massive Vorkehrung gegen sozialistische Ambitionen aller Art. (Immerhin
möglich ist, dass im Zuge der verabredeten Politik zur Eindämmung
und Isolierung Russlands wegen des Ukraine-Krieges und der Jagd auf
Vermögenswerte von Putin unterstützenden „reichen Russen“ im westlichen
Ausland die grenzenlose Freiheit und Anonymität für Investoren,
Kapitaleigner aufgehoben wird und endlich Kataster und Register
angelegt werden, aus denen zumindest zweifelsfrei hervorgeht, wem was
gehört. Am Ende könnte dies der erste Schritt sein, der einst die
Rückkehr von Kapitalverkehrskontrollen wieder möglich macht.)
Nicht im Blick: Grenzen der Globalisierung und ihre Rückwirkungen auf Grenzregime
Da Maus Erkenntnisinteresse der grenzüberschreitenden Mobilität von
Personen unter den Bedingungen der Globalisierung gehört und der Art
und Weise wie Grenzregime operieren, geht es ihm um Grenzen in der
Globalisierung, nicht aber auch um Grenzen, Schranken der
Globalisierung! Mau umgeht dabei zum einen die Streitfrage nach den
Potenzen/Schranken und Funktionen (des Grenzen setzenden und Grenzen
ausgestaltenden) Nationalstaates bzw. regionaler Verbünde wie der EU.
Zum anderen werden Globalisierungsinfrastrukturen als Set von Regeln,
Institutionen und Organisationen nicht in ihrer Problematik und
Bewegungsrichtung und in ihrer Rückwirkungen auf Grenzregime verhandelt.
„Globalisierungsparadox“ (Rodrik) oder Rolle und Potenzen des Nationalstaates
Dani Rodrik hatte in Das Globalisierungsparadox. Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft
(C. H. Beck München 2011) dargelegt, dass die neue Stufe der
Globalisierung, die er Hyperglobalisierung nennt, freier Welthandel und
unbegrenzte Mobilität von Kapital und Arbeit einerseits und nationale
Selbstbestimmung und Demokratie andererseits unvereinbare Größen sind.
Daher sei die Globalisierung zurückzubauen. Dafür sprachen spätestens
in der Corona-Pandemie auch ganz praktische Erwägungen und Einsichten
vieler Akteure angesichts der Verwundbarkeit weitreichender Liefer- und
Wertschöpfungsketten. Wolfgang Streecks Buch Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus
(Suhrkamp Berlin 2021) ist der fulminante Versuch einer Rehabilitierung
des Nationalstaates als Arena demokratischer Politik. Seine zentrale
These:
„Ein in eine internationale Friedensordnung eingebetteter, souveräner,
nicht zu großer Nationalstaat ist das einzige politische Gebilde, das
demokratisierbar ist, also verpflichtet werden kann, die Interessen der
nichtelitären Bevölkerungsmehrheiten mittels Rückbettung seiner
politischen Ökonomie in die sie tragende Gesellschaft zur Geltung zu
bringen“ (Streeck 2021:60).
Zwar polemisiert Mau durchgängig gegen die „Vorstellungswelt einer den
Staat verohnmächtigenden Globalisierung“, … zu der auch „Jürgen
Habermas´ Beschreibung der ‚postnationalen Konstellation‘“ (44) gehört;
zudem scheut sich Mau nicht, inhumane und illiberale Praktiken
zeitgenössischer Grenzregime zu benennen. Doch kann ich bei ihm keine
klare Position zu folgender, seinen Gegenstand berührenden Frage
erkennen:
Ist der Nationalstaat als (potenzielle) Arena demokratischer Politik zu
rehabilitieren und entsprechend umzugestalten, wie es etwa Wolfgang
Streeck mit Vehemenz fordert und begründet oder ist er als zu
überwindende Institution anzusehen, die es zu delegitimieren und der es
ob ihrer technischen Funktionsschwäche den Boden zu entziehen gilt?
Streecks Plädoyer für den Nationalstaat gründet in dessen unterstellter
Demokratisierbarkeit und in der Überzeugung, „dass die Welt, wenn sie
überhaupt regiert werden soll, nur unterteilt regiert werden kann“
(Streeck 2021: 13). Die Gegenposition läuft darauf hinaus, den
Nationalstaat durch global governance, letztlich zugunsten eines
Universalismus des globalen Marktes oder/und zugunsten internationaler
Organisationen oder globalisierter bzw. regionalisierter
Superstaatlichkeit bzw. ein zukünftiges, erst noch aufzubauendes und
möglicherweise nie sich einstellendes weltweites Regierungssystem zu
überwinden.
Maus „Sortiermaschinen“ im Spannungsfeld zweier unvereinbarer Diskurspositionen
Überdies bewegt sich Mau mit seinem Buch im Spannungsfeld zweier
unvereinbarer Diskurspositionen, ohne sich festzulegen oder Stellung zu
beziehen. Ich hätte aber gerne seine Position erfahren. Nicht nur in
Deutschland werden auf der einen Seite migrations-theoretisch wie
migrationspolitisch die Grenzen der Belastbarkeit aufnehmender Gesellschaften und die Kosten der Migration für abgebende Gesellschaften erwogen,
wenn nicht gar leidenschaftlich in Wissenschaft, Politik und
Gesellschaft verhandelt. Auf der anderen Seite gibt es Akteure,
Institutionen und Organisationen, die ein teils universalistisch teils
individualistisch grundiertes Menschenrecht auf unbegrenzte Mobilität
reklamieren, etwa indem sie offene Grenzen für alle fordern. Beide
Positionen tangieren die Frage nach der Sinn- und Zweckhaftigkeit,
Legitimität von Grenzen. Wenn ich Leerstellen und von mir vermisste
Punkte in Maus Buch erwähne, dann nicht, weil ich die Lösung wüsste. Im
Gegenteil. Ich bin vielmehr hin- und hergerissen zwischen den zuvor
skizzierten unvereinbaren Positionen und hätte mir nur ein wenig mehr
Orientierung vom Autor in der Frage versprochen, welche Grenzregime er
in normativer Hinsicht künftig für geboten, möglich hält. Oder
aber unterlässt er mit Bedacht solche Erwägungen, weil da nichts Neues
unter der Sonne zu erwarten ist?
Kein Thema: Das mögliche Ende des „einheitlichen Weltmarktes“, die
Genese eines „Globalisierungs-Patchworks (Witt), die Heraufkunft einer
dualen Weltordnung und Weltwirtschaft
Schließlich vermeidet es Mau, von kommenden Dingen zu handeln, wenn man
einmal von bestimmten Tendenzen in der Ausgestaltung von Grenzregimen
absieht, die er sehr wohl reflektiert. Ich honoriere solche
Zurückhaltung nicht. Der Autor selbst würde wahrscheinlich auf die
mangelnde Prognosefähigkeit der Sozialwissenschaften verweisen und in
der Weigerung sich auf Zukunftsoptionen einzulassen ein Gütesiegel
seines Textes in wissenschaftlicher Hinsicht sehen. Die Globalisierung
und ihre Architekturen ist bei Mau eine gleichsam nicht weiter
hinterfragte, problematisierte eherne Gegebenheit, die in ihrem Gepräge
wie in ihrer Bewegungsrichtung nicht reflektiert wird.
Nicht ankreiden möchte ich dem Autor, dass er mögliche Auswirkungen des
Krieges um die Ukraine für sein Thema nicht vorausgesehen hat. Denn
dass Russland in dieser Weise die Ukraine mit Krieg überziehen und
deshalb auf eine geballte, nie dagewesene Antwort des ‚Westens‘ treffen
würde, dessen erklärte Absicht es ist, Russland aus globalen,
internationalen Zusammenhängen wirtschaftlich, politisch und kulturell
auszuschließen, und damit nicht nur Russland, sondern aller Welt die
‚Instrumente zu zeigen‘, über die man verfügt, haben wohl nur wenige
vorausgesehen. Dabei ist es eine gesicherte Diskursposition, dass die
real-existierende Globalisierungsarchitektur, verstanden als Set von
Regeln, Institutionen und Organisationen, digitalen Unternehmen etc.,
die unter anderem die Exklusion und Sanktionierung Russlands
herbeiführen soll, eine von den USA und ihren Bündnispartnern
dominierte und geprägte ist. Ebenfalls zeichnet sich schon seit
längerer Zeit mit dem Machtverlust der USA und dem Machtgewinn Chinas
relativ klar eine Zunahme imperialer Rivalitäten ab.[2] Dass damit aber
möglicherweise das Ende der von den USA dominierten
Globalisierungsarchitektur und ihrer Regeln kommen könnte, wird in
vielfältiger Weise seit Jahren – von Perry Anderson über Zbigniew
Brzeziński, Amitai Etizoni, Joschka Fischer, Rainer Land, Herfried
Münkler bis Wolfgang Streeck ̶ reflektiert.[3] Ich will hier nur auf
Michael Witt verweisen und seine These vom Globalisierungs-Patchwork:
„Wie viele andere hält Witt eine duale Weltordnung und Weltwirtschaft
für denkbar, mit zwei Imperien, die sich die Welt mehr oder weniger
friedlich teilen. Zugleich lässt er die Möglichkeit offen, dass mehr
als zwei regionale Blöcke entstehen, jeweils um eine andere
Hegemonialmacht herum…“[4]
Ich frage mich und Leser dieser Besprechung, ob Mau das Entstehen einer
dualen Weltordnung und Weltwirtschaft und ihrer Rückwirkung auf Grenzen
bei seinem Buch im Blick hätte haben sollen oder aber diese Erwartung
zu vermessen, unangebracht ist?
Ungeachtet dieser Erwägungen möchte ich festhalten: Das Buch ist alles
in allem glänzend geschrieben. Und es vermittelt dem Leser viele,
darunter verstörende Einsichten über die Transformation und die
Verfasstheit von Grenzregimen in aller Welt. Anregend zum Weiterdenken
ist es allemal. Ich kann die Lektüre nur empfehlen.
Anmerkungen
1 Vgl. Wolfgang Streeck: Zwischen Globalismus und Demokratie.
Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus, Suhrkamp Berlin
2021: Anm. 50, S. 442.
2 Es mag offen sein, ob und wie die Ukraine und ob und wie Russland aus
diesem schrecklichen Krieg herauskommen werden. Eines aber dürfte
sicher sein, dass der vom >>Westen<< gegen Russland
entfaltete und in seiner Totalität entfaltbare Wirtschaftskrieg mit
größter Deutlichkeit eines gezeigt hat: die Regeln, Reviere und
Rituale, Bezahlsysteme der Weltwirtschaft bilden keinen neutralen
Rahmen, ihnen sind vielmehr Hegemonien und Dominanzen eingeschrieben,
die die Suche aufstrebender Mächte nach davon unabhängigen,
alternativen Lösungen enorm befeuern wird.
3 Zudem werden im Diskurs über die Merkmale der Hegemonialmächte USA
und China bemerkenswerte Unterschiede reflektiert. Schon für Polanyi
war es eine ausgemachte Sache, dass die USA habituell expansionistisch
agieren würden. China hingegen gilt eher als eine kommende Weltmacht
ohne missionarisches Bedürfnis. Chinas Gesellschaftsordnung ist noch
nicht einmal innerhalb Asiens exportierbar. Dagegen betrachten
politische Akteure der USA ihr Land allen Ernstes als >Gottes
eigenes Land<, sehen sich als für die Welt >unverzichtbare
Nation<, entfalten in Geschichte und Gegenwart einen ebenso
marktwirtschaftlich-menschenrechtlich grundierten wie nationalistischen
Internationalismus und Interventionsanspruch, der Grenzen ignoriert,
setzt wie durchbricht.
4 Michael Witt: De-Globalization: Theories, Predictions, and
Opportunities for International Business Research, in: Journal of
International Business Studies 50:7 (2019), S. 1053-1077, zitiert nach
Streeck 2021: 426.
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