KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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Dieter Kramer
Transformationsstrategien und molekulare Veränderungen
Anlässlich eines Buches von Dieter Klein
Die „machtstrategische Dimension eines Politikwechsels“ (Andrea Ypsilanti im Brief an die Teilnehmer der ISM-Tagung von 02.11.2013) scheint erschwert durch das schwarz-grüne Bündnis in Hessen, das von Vielen als Vorbereitung einer schwarz-grünen Koalition 2017 gewertet wird. Die perspektivische Programmatik des Bündnisses beleibt freilich aktuell.

Mein Marburger Lehrer Wolfgang Abendroth soll gegen Ende seines Lebens angesichts der gigantischen Rüstung im Kalten Krieg in den 1980er Jahren sehr pessimistisch geworden sein. Er fürchtete einen großen Krieg. Glücklicherweise kam es nicht dazu. Daran muss ich denken, wenn ich heute manchmal wenig Hoffnung habe, was die gesellschaftliche Transformation in Richtung auf eine ernsthafte ökologische Wende und nachhaltige Lebensweise angeht.

Von möglichen „jähen Wendungen“ der Geschichte war vor 1989 die Rede, und dann kamen sie ganz anders als befürchtet oder erwartet. Die „Vielfachkrise“ in der Gegenwart zu überwinden und durchzustehen – da drohen, meinen Manche, auch viel größere Krisen als ein paar zu nasse, zu heiße oder zu kalte Jahreszeiten. Für Weinbauern, Obstbauern und Gletscherforscher sind die Zeichen eines Klimawandels nicht zu übersehen – was auch immer die Ursachen sein mögen. Das Warten auf Überraschungen kann allerdings Handeln nicht ersetzen. Da ist es interessant, auf Trends im Alltag zu achten.

„Im Vorfeld von ökonomischen oder politischen Brüchen oder auch unabhängig von ihnen ereignen sich molekulare Veränderungen in den gesellschaftlichen Verhältnissen, alltäglicher Ausdruck der Bewegungsformen gesellschaftlicher Veränderungen, die zunächst kaum als solche sichtbar sind.“ [Candeias, Mario: Interregnum – Molekulare Verdichtung und organische Krise. In: Demiroviæ, Alex; Dück, Julia; Becker, Florian; Bader, Pauline (Hrsg.): Vielfachkrise im finanzmarktdominierten Kapitalismus. In Kooperation mit dem wissenschaftlichen Beirat von Attac. Hamburg: VSA 2011, S. 45 - 61, S. 47)]. Solche Entwicklungen im Mikrobereich können verbunden sein mit der „Zersetzung des geschichtlichen Blocks“ (ebd. S. 59). Es sind Elemente einer „kleinen Transformation“, die als Vorstufe einer über den neoliberalen Kapitalismus hinausweisender Veränderung in Richtung auf eine „große Transformation“ verstanden werden können.

Diese molekularen Veränderungen sind es, in denen das Morgen im Heute zu tanzen beginnt, wie Dieter Klein formuliert [Klein, Dieter: Das Morgen tanzt im Heute. Hamburg: VSA 2013]. Sie könnten ein Klima schaffen, in dem das konsumistische System von innen heraus ausgehöhlt wird. Das funktioniert natürlich nur, wenn relevante Milieus, in denen dieses System affirmiert wird, sich tendenziell davon verabschieden.

Für eine gesellschaftliche Transformation bedarf es einer Sozialkultur, die anschlussfähig ist an nachhaltige Lebensformen. Zu betonen ist: Sozialkultur. Zukunft ist ein kulturelles Programm, hat Hilmar Hoffmann gesagt, und im Schlussbericht der Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität steht: „Sozial-ökologischer Wandel ist eine kulturelle Leistung, die Politik ermöglichen muss.“ [Schlussbericht, Sondervotum SPD/Grüne S. 791]. Das kann man trotz der schiefen Grammatik ernst nehmen: Die Politik muss diese Sozialkultur fördern. Die alltägliche Lebenspraxis muss sich so entwickeln, dass sie perspektivisch kompatibel ist mit nachhaltiger Entwicklung. Wenn entsprechende Standards in die „Ideen vom guten und richtigen Leben“ eingehen, dann erspart dies Nutzerbevormundung und aufwendige Ordnungsmaßnahmen. Notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung ist, dass in den kulturellen Öffentlichkeiten darüber nachgedacht wird.

Das ist der Grund, weswegen auch kleine Schritte wichtig sind. Menschen werden sensibilisiert dafür, dass es auch anders geht. Und alle, die sich aus dem Hamsterrad des Konsumzwanges auch nur punktuell befreien, stehen damit nicht mehr beliebig für Märkte und Marktmanipulationen zur Verfügung. Gewiss, auch in diesen Bereichen werden neue Marktnischen entdeckt, aber der Markt ist ohnehin unverzichtbar, gleichzeitig aber auch ganz uneinheitlich. Und Anknüpfungsmöglichkeiten lassen sich erkennen, wenn man sich daran erinnert, dass Selbstbegrenzung im Alltag selbstverständlich ist – sicher unterschiedlich in den Lebensphasen, aber doch unentbehrlich.

Diese Trends zu würdigen hilft Dieter Klein mit seinem außerordentlich anregenden Buch. Es gehört zu seinen Qualitäten, dass unfruchtbare binäre Diskurse vermieden werden, z. B. zu Reform und Revolution (wo die „Klassiker“ der linken Theorie durchaus auch Spielraum sahen, schon die „Amsterdamer Rede“ von Marx erinnert daran (siehe Dieter Kramer: Reform und Revolution bei Karl Marx und Friedrich Engels. Köln1972). Klein forderte einst (vor 1989) dazu auf: Es gebe auch friedensfähige Trends im Kapitalismus (Klein, Dieter: Chancen für einen friedensfähigen Kapitalismus. Berlin: Dietz 1988). Auch heute steht für ihn „die Befreiung aus dogmatischen Denkgehäusen“ an. Nur mit wechselseitiger Anerkennung unterschiedlicher Interpretationen (er weist auf das SPD/SED-Papier von 1988 hin) eröffnen sich auch die notwendigen Bündnismöglichkeiten der „Mosaik-Linken“.

Ebenso müßig ist es unter den aktuellen Bedingungen sich über Wachstum oder Nichtwachstum abstrakt zu streiten, wenn es um den sozialökologischen Umbau geht: Zwar wird man wegen mancher Probleme Wachstum brauchen, aber wer heute davon redet, dass Wachstum unverzichtbar sei, um Elend und Armut in der Welt zu überwinden, der muss dann auch belegen, dass die von ihm favorisierten Formen des Wachstums erkennbar dazu beitragen, und nicht zwar erst über fünf Umwege. Klein erinnert an die Wachstumsfixiertheit auch in der Linken und warnt davor, sich auf die soziale Frage zu konzentrieren und die sozialökologische Dimension zu vergessen.

Und, ganz wichtig, der Diskurs um die Grenzen des Wachstums muss verbunden sein mit dem Nachdenken „über den Ausbau von Bedingungen menschlichen Wohlbefindens und Glücks jenseits von stofflichem Mehrkonsum“, denn „linke Akteure“ sind bestrebt, „nicht als jene erscheinen zu wollen, die mit ihrer Wachstumskritik den Menschen Verluste an Lebensqualität zumuten.“ (94) Hindernis ist das „stahlharte Gehäuse“ des Konsumismus, dem kaum zu entrinnen ist (Tim Jackson 2011, S. 92). Wenn Dieter Klein mit Harald Welzer darin eine anscheinend „biokulturelle Verfasstheit unserer Gehirne“ sieht (S. 95), dann ist das ein eher fragwürdiger Begriff: Auch dafür ist die Geschichte der menschlichen Gattung verantwortlich.

Klein skizziert fünf Szenarien für die zukünftige Entwicklung: Erstens ein neoliberales „weiter so“, zweitens „weiter so – noch autoritärer und entzivilisierter“ (das man sich noch schlimmer vorstellen kann als er meint), drittens „staatsinterventionistisch modifizierter und grün modernisierter neoliberaler Kapitalismus“, dann viertens ein „sozial und ökologisch regulierter postneoliberaler Kapitalismus (Green New Deal)“ und schließlich fünftens „solidarisch gerechte Gesellschaft im Einklang mit der Natur oder demokratischer grüner Sozialismus“.

Klein wagt die „große“ Erzählung, wie sie mit „vier U“ (eine etwas verkrampft wirkende Aufzählung) charakterisiert wird: Universelle Entwicklung der Individuen (Persönlichkeitsentfaltung einer und eines jeden in Einklang mit der Natur anstelle höchstmöglichen Profits), darauf aufbauend vier weitere Leitideen: Gerechte Umverteilung von Lebenschancen und Macht, sozial-ökologischer Umbau, demokratische Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft, umfassende Friedenssicherung und internationale Solidarität (65).

Partizipatorische Demokratie wird beschworen, aber das ist etwas, was angesichts der problematischen Verfasstheit der Demokratie neu diskutiert werden muss. Gestaltende Politik braucht den Anstoß der Bewegungen, aber Politik und Gestaltung kann nicht per Demonstration oder Abstimmung erledigt werden. In die „Mühen der Ebene“ muss auch die Frage nach der Perspektive eingehen. Die „Dimension gesellschaftlicher Transformationspraxis“ darf sich nicht nur auf Zivilgesellschaft und „Bewegungen“ orientieren, sondern sie muss auch für den politischen Raum nachvollziehbare Vorhaben entwickeln, z. B. Gesetzesprojekte, die sich auf die Sicherung und Privilegierung öffentlicher Güter (Wasser z.B., digitale Allmende), auf die Absicherung von Commons (Gemeinnutzen), auf die Sicherung des Genossenschaftswesens, auf den Zusammenhang von Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit beziehen usw.

Friedenspolitik und die Abwehr von Angriffen auf Reformen brauchen sich nicht nur auf die Kräfte des „denkenden Menschen“ beziehen, an die Klein mit Brecht erinnert, sondern man kann Moderatoren (z. B. der religiösen Gemeinschaften) einbeziehen. Den Schwerpunkt auf Konfliktmoderation zu legen wäre für Deutschland interessanter als „Kriegs-Hopping“.

Vom Morgen zu sprechen, das schon im Heute tanzt, ist ein schönes Bild, aber angesichts der Fülle von Initiativen, die überall zu beobachten sind, bleibt es bei Klein irgendwie blutleer und aktiviert wenig Phantasie. Die Kraft der Liebe verändert die Welt, sagen auch die Christen mit ihrem Konzept von Liebe. Wie das individuelle Liebeserlebnis es ermöglicht, die Welt neu (vielleicht sogar völlig anders) zu sehen und damit auch die Kraft (die Motivation) verleiht, die Gesellschaft zu verändern, weiß jeder, der sich daran erinnert. So etwas könnte man wenigstens auch einmal erwähnen. Überflüssig ist die alte Kulturkritik, mit der die unvermeidlichen kommerziellen Gestaltungen bedacht werden (S. 151). Auch Elemente von Kulturindustrie gehören zu dem Veränderungspotenzial, genau wie man einst von der Love Parade ja immerhin sagen konnte, dass mit diesen jungen Menschen nicht gut Krieg zu führen ist (eher mit Berufssoldaten, mit denen auch ein Staatsstreich möglich ist).

Dieter Kramer Dörscheid/Verbandsgemeinde Loreley 14. Februar 2014