Report | Kulturation | Dieter Kramer | Transformationsstrategien und molekulare Veränderungen
Anlässlich eines Buches von Dieter Klein
| Die
„machtstrategische Dimension eines Politikwechsels“ (Andrea Ypsilanti
im Brief an die Teilnehmer der ISM-Tagung von 02.11.2013) scheint
erschwert durch das schwarz-grüne Bündnis in Hessen, das von Vielen als
Vorbereitung einer schwarz-grünen Koalition 2017 gewertet wird. Die
perspektivische Programmatik des Bündnisses beleibt freilich aktuell.
Mein Marburger Lehrer Wolfgang Abendroth soll gegen Ende seines
Lebens angesichts der gigantischen Rüstung im Kalten Krieg in den
1980er Jahren sehr pessimistisch geworden sein. Er fürchtete einen
großen Krieg. Glücklicherweise kam es nicht dazu. Daran muss ich
denken, wenn ich heute manchmal wenig Hoffnung habe, was die
gesellschaftliche Transformation in Richtung auf eine ernsthafte
ökologische Wende und nachhaltige Lebensweise angeht.
Von möglichen „jähen Wendungen“ der Geschichte war vor 1989 die
Rede, und dann kamen sie ganz anders als befürchtet oder erwartet. Die
„Vielfachkrise“ in der Gegenwart zu überwinden und durchzustehen – da
drohen, meinen Manche, auch viel größere Krisen als ein paar zu nasse,
zu heiße oder zu kalte Jahreszeiten. Für Weinbauern, Obstbauern und
Gletscherforscher sind die Zeichen eines Klimawandels nicht zu
übersehen – was auch immer die Ursachen sein mögen. Das Warten auf
Überraschungen kann allerdings Handeln nicht ersetzen. Da ist es
interessant, auf Trends im Alltag zu achten.
„Im Vorfeld von ökonomischen oder politischen Brüchen oder auch
unabhängig von ihnen ereignen sich molekulare Veränderungen in den
gesellschaftlichen Verhältnissen, alltäglicher Ausdruck der
Bewegungsformen gesellschaftlicher Veränderungen, die zunächst kaum als
solche sichtbar sind.“ [Candeias, Mario: Interregnum – Molekulare
Verdichtung und organische Krise. In: Demiroviæ, Alex; Dück, Julia;
Becker, Florian; Bader, Pauline (Hrsg.): Vielfachkrise im
finanzmarktdominierten Kapitalismus. In Kooperation mit dem
wissenschaftlichen Beirat von Attac. Hamburg: VSA 2011, S. 45 - 61, S.
47)]. Solche Entwicklungen im Mikrobereich können verbunden sein mit
der „Zersetzung des geschichtlichen Blocks“ (ebd. S. 59). Es sind
Elemente einer „kleinen Transformation“, die als Vorstufe einer über
den neoliberalen Kapitalismus hinausweisender Veränderung in Richtung
auf eine „große Transformation“ verstanden werden können.
Diese molekularen Veränderungen sind es, in denen das Morgen im Heute zu tanzen beginnt, wie Dieter Klein formuliert [Klein, Dieter: Das Morgen tanzt im Heute. Hamburg: VSA 2013].
Sie könnten ein Klima schaffen, in dem das konsumistische System von
innen heraus ausgehöhlt wird. Das funktioniert natürlich nur, wenn
relevante Milieus, in denen dieses System affirmiert wird, sich
tendenziell davon verabschieden.
Für eine gesellschaftliche Transformation bedarf es einer
Sozialkultur, die anschlussfähig ist an nachhaltige Lebensformen. Zu
betonen ist: Sozialkultur. Zukunft ist ein kulturelles
Programm, hat Hilmar Hoffmann gesagt, und im Schlussbericht der
Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität steht:
„Sozial-ökologischer Wandel ist eine kulturelle Leistung, die Politik
ermöglichen muss.“ [Schlussbericht, Sondervotum SPD/Grüne S. 791]. Das
kann man trotz der schiefen Grammatik ernst nehmen: Die Politik muss
diese Sozialkultur fördern. Die alltägliche Lebenspraxis muss sich so
entwickeln, dass sie perspektivisch kompatibel ist mit nachhaltiger
Entwicklung. Wenn entsprechende Standards in die „Ideen vom guten und
richtigen Leben“ eingehen, dann erspart dies Nutzerbevormundung und
aufwendige Ordnungsmaßnahmen. Notwendige, aber nicht hinreichende
Bedingung ist, dass in den kulturellen Öffentlichkeiten darüber
nachgedacht wird.
Das ist der Grund, weswegen auch kleine Schritte wichtig sind.
Menschen werden sensibilisiert dafür, dass es auch anders geht. Und
alle, die sich aus dem Hamsterrad des Konsumzwanges auch nur punktuell
befreien, stehen damit nicht mehr beliebig für Märkte und
Marktmanipulationen zur Verfügung. Gewiss, auch in diesen Bereichen
werden neue Marktnischen entdeckt, aber der Markt ist ohnehin
unverzichtbar, gleichzeitig aber auch ganz uneinheitlich. Und
Anknüpfungsmöglichkeiten lassen sich erkennen, wenn man sich daran
erinnert, dass Selbstbegrenzung im Alltag selbstverständlich ist –
sicher unterschiedlich in den Lebensphasen, aber doch unentbehrlich.
Diese Trends zu würdigen hilft Dieter Klein mit seinem
außerordentlich anregenden Buch. Es gehört zu seinen Qualitäten, dass
unfruchtbare binäre Diskurse vermieden werden, z. B. zu Reform und
Revolution (wo die „Klassiker“ der linken Theorie durchaus auch
Spielraum sahen, schon die „Amsterdamer Rede“ von Marx erinnert daran
(siehe Dieter Kramer: Reform und Revolution bei Karl Marx und Friedrich
Engels. Köln1972). Klein forderte einst (vor 1989) dazu auf: Es gebe
auch friedensfähige Trends im Kapitalismus (Klein, Dieter: Chancen für
einen friedensfähigen Kapitalismus. Berlin: Dietz 1988). Auch heute
steht für ihn „die Befreiung aus dogmatischen Denkgehäusen“ an. Nur mit
wechselseitiger Anerkennung unterschiedlicher Interpretationen (er
weist auf das SPD/SED-Papier von 1988 hin) eröffnen sich auch die
notwendigen Bündnismöglichkeiten der „Mosaik-Linken“.
Ebenso müßig ist es unter den aktuellen Bedingungen sich über
Wachstum oder Nichtwachstum abstrakt zu streiten, wenn es um den
sozialökologischen Umbau geht: Zwar wird man wegen mancher Probleme
Wachstum brauchen, aber wer heute davon redet, dass Wachstum
unverzichtbar sei, um Elend und Armut in der Welt zu überwinden, der
muss dann auch belegen, dass die von ihm favorisierten Formen des
Wachstums erkennbar dazu beitragen, und nicht zwar erst über fünf
Umwege. Klein erinnert an die Wachstumsfixiertheit auch in der Linken
und warnt davor, sich auf die soziale Frage zu konzentrieren und die
sozialökologische Dimension zu vergessen.
Und, ganz wichtig, der Diskurs um die Grenzen des Wachstums muss
verbunden sein mit dem Nachdenken „über den Ausbau von Bedingungen
menschlichen Wohlbefindens und Glücks jenseits von stofflichem
Mehrkonsum“, denn „linke Akteure“ sind bestrebt, „nicht als jene
erscheinen zu wollen, die mit ihrer Wachstumskritik den Menschen
Verluste an Lebensqualität zumuten.“ (94) Hindernis ist das „stahlharte
Gehäuse“ des Konsumismus, dem kaum zu entrinnen ist (Tim Jackson 2011,
S. 92). Wenn Dieter Klein mit Harald Welzer darin eine anscheinend
„biokulturelle Verfasstheit unserer Gehirne“ sieht (S. 95), dann ist
das ein eher fragwürdiger Begriff: Auch dafür ist die Geschichte der
menschlichen Gattung verantwortlich.
Klein skizziert fünf Szenarien für die zukünftige Entwicklung: Erstens ein neoliberales „weiter so“, zweitens „weiter so – noch autoritärer und entzivilisierter“ (das man sich noch schlimmer vorstellen kann als er meint), drittens „staatsinterventionistisch modifizierter und grün modernisierter neoliberaler Kapitalismus“, dann viertens ein „sozial und ökologisch regulierter postneoliberaler Kapitalismus (Green New Deal)“ und schließlich fünftens „solidarisch gerechte Gesellschaft im Einklang mit der Natur oder demokratischer grüner Sozialismus“.
Klein wagt die „große“ Erzählung, wie sie mit „vier U“ (eine etwas verkrampft wirkende Aufzählung) charakterisiert wird: Universelle
Entwicklung der Individuen (Persönlichkeitsentfaltung einer und eines
jeden in Einklang mit der Natur anstelle höchstmöglichen Profits),
darauf aufbauend vier weitere Leitideen: Gerechte Umverteilung von Lebenschancen und Macht, sozial-ökologischer Umbau, demokratische Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft, umfassende Friedenssicherung und internationale Solidarität (65).
Partizipatorische Demokratie wird beschworen, aber das ist etwas,
was angesichts der problematischen Verfasstheit der Demokratie neu
diskutiert werden muss. Gestaltende Politik braucht den Anstoß der
Bewegungen, aber Politik und Gestaltung kann nicht per Demonstration
oder Abstimmung erledigt werden. In die „Mühen der Ebene“ muss auch die
Frage nach der Perspektive eingehen. Die „Dimension gesellschaftlicher
Transformationspraxis“ darf sich nicht nur auf Zivilgesellschaft und
„Bewegungen“ orientieren, sondern sie muss auch für den politischen
Raum nachvollziehbare Vorhaben entwickeln, z. B. Gesetzesprojekte, die
sich auf die Sicherung und Privilegierung öffentlicher Güter (Wasser
z.B., digitale Allmende), auf die Absicherung von Commons
(Gemeinnutzen), auf die Sicherung des Genossenschaftswesens, auf den
Zusammenhang von Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit beziehen usw.
Friedenspolitik und die Abwehr von Angriffen auf Reformen brauchen
sich nicht nur auf die Kräfte des „denkenden Menschen“ beziehen, an die
Klein mit Brecht erinnert, sondern man kann Moderatoren (z. B. der
religiösen Gemeinschaften) einbeziehen. Den Schwerpunkt auf
Konfliktmoderation zu legen wäre für Deutschland interessanter als
„Kriegs-Hopping“.
Vom Morgen zu sprechen, das schon im Heute tanzt, ist ein schönes
Bild, aber angesichts der Fülle von Initiativen, die überall zu
beobachten sind, bleibt es bei Klein irgendwie blutleer und aktiviert
wenig Phantasie. Die Kraft der Liebe verändert die Welt, sagen auch die
Christen mit ihrem Konzept von Liebe. Wie das individuelle
Liebeserlebnis es ermöglicht, die Welt neu (vielleicht sogar völlig
anders) zu sehen und damit auch die Kraft (die Motivation) verleiht,
die Gesellschaft zu verändern, weiß jeder, der sich daran erinnert. So
etwas könnte man wenigstens auch einmal erwähnen. Überflüssig ist die
alte Kulturkritik, mit der die unvermeidlichen kommerziellen
Gestaltungen bedacht werden (S. 151). Auch Elemente von Kulturindustrie
gehören zu dem Veränderungspotenzial, genau wie man einst von der Love
Parade ja immerhin sagen konnte, dass mit diesen jungen Menschen nicht
gut Krieg zu führen ist (eher mit Berufssoldaten, mit denen auch ein
Staatsstreich möglich ist).
Dieter Kramer Dörscheid/Verbandsgemeinde Loreley 14. Februar 2014
|
| |