Report | Kulturation 1/2010 | Renate Schuster | Mit Engels im Urlaub
Zu Gast beim „Club Dialektik“, einem „Verein zur Förderung dialektischer Philosophie“
| Schon
seit einigen Jahren hatte ich per Internet mit Interesse und Sympathie
die Unternehmungen des rheinländischen Philosophievereins verfolgt. Nun
lernte ich seine Arbeitsweise im schönen Münsterland - eine Woche lang
aktiv an einem Philosophieurlaub teilnehmend - aus der Nähe kennen.
Themen und Arbeitsformen des Clubs
Fachlich angeleitet und inspiriert von den Vereinsvorsitzenden
Stephan Siemens und Eva Bockenheimer, finden sich seit 2001
philosophisch interessierte Leute zu Symposien, Gesprächskreisen und
inzwischen schon zum wiederholten Mal in Sommerurlauben zusammen, um
sich gemeinsam Texte lesend und deutend zu erschließen und darüber ins
Gespräch zu kommen.
Wie auf der Homepage des Clubs erklärt wird, kann und soll aber
grundsätzlich alles, was einer philosophischen Diskussion fähig ist und
für die Beteiligten interessant genug, um damit ihre Zeit zu
verbringen, Gegenstand des Gedankenaustauschs werden. Entsprechend
breit ist das bisher bearbeitete Themenspektrum. Ausgewählte
Textpassagen von illustren Denkern der Vergangenheit wurden bereits
diskutiert, so von Platon, Aristoteles, Descartes, Leibniz, Spinoza,
Kant und Hegel. Einer Lektüre und Diskussion im Rahmen von speziellen
Arbeitsgruppen und Symposien für würdig befand man aber auch
marxistische Texte zur Begründung der materialistischen
Geschichtsauffassung, zur kritischen Auseinandersetzung mit Feuerbach
und Hegel - „Deutsche Ideologie“, “Kritik der Hegelschen
Rechtsphilosophie“ - , zum Begriff der revolutionären Praxis vor allem
anhand der „Thesen über Feuerbach“, zur Arbeitswerttheorie wie auch
einige revolutionstheoretische Schriften, z.B.: „Der Achzehnte Brumaire
des Louis Bonaparte“, „Bürgerkrieg in Frankreich“ und neuerdings Lenins
„Staat und Revolution“.
Unter Anleitung der Literaturwissenschaftlerin Uschi Siemens widmet
sich seit einigen Jahren eine Arbeitsgruppe den „Geschlechtertheorien“.
Nach der Verständigung über Simone de Beauvoirs Buch „Das andere
Geschlecht“ lasen und diskutierten in letzter Zeit die am Thema
Interessierten Clara Zetkins: „Zur Geschichte der proletarischen
Frauenbewegung Deutschlands“.
Schon vor Jahren hatten mich die Arbeiten und Projekte von Uschi
Siemens besonders interessiert, woraus sich schließlich ein spezieller
freundschaftlicher Gedankenaustausch und sogar eine persönliche
Begegnung in Berlin ergaben, was mich zusätzlich motivierte, an den
Aktivitäten des Vereins aus der Ferne wenigstens virtuellen Anteil zu
nehmen. Frau Siemens erarbeitete und veröffentlichte nämlich unter dem
Titel „Produktivkraft Sexualität“ eine sehr anregende Untersuchung zu
ausgewählten DDR-Romanen. Der Text kann über die Homepage des Clubs
unter der Rubrik „Hochschulschriften“ aufgerufen werden. 2006 erschien
ein bemerkenswerter Briefwechsel zwischen ihr, der „Westfrau“, und der
„Ostfrau“ Margitta Zellmer, einer Journalistin: “Späte Freundschaft.
Ein Ost-West-Briefwechsel“. Die beiden Frauen hatten sich 2005
anlässlich der III. Irmtraud-Morgner-Tafelrunde in Chemnitz
kennengelernt und ein Jahr lang brieflich ausgetauscht über ihre
Biographien, über Politik und Philosophie, über Zeitgeschehen und
persönliche Lebensprobleme. Diese „späte Freundschaft“ mündete
schließlich in eine hochinteressante und sehr lesenswerte gemeinsame
Publikation: „Jahrgang 1949, Lebensgeschichten aus Ost und West“,
erschienen erneut im Projekte-Verlag, Halle, 2009. Es war also wieder
ein Ost/ West - Projekt. Dies im doppelten Sinne. Jede der beiden
Autorinnen befragte Männer und Frauen des Jahrgangs 1949 in Ost und
West nach ihren Lebensumständen und Erfahrungen, danach, was sie
antrieb, förderte oder hemmte, und was sie noch vom Leben erwarteten.
Philosophieurlaub 2010 im malerischen Tagungshaus „Karneol“ bei Steinfurt
Diesmal ging es um Engels‘ Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus
von der Utopie zu Wissenschaft“. Die Arbeit war mir seit langen nicht
nur studienhalber bekannt, hatte ich ihre Interpretation doch selbst in
den 80er Jahren im Rahmen von Qualifizierungslehrgängen politischer
Funktionäre anzuleiten gehabt. Umso mehr interessierte es mich, wie
Menschen - verschieden nach Alter, Bildungsgang, beruflicher Erfahrung,
Geschlecht und politischer Orientierung - mit diesem Text freiwillig
und ohne andere Motivation als der Freude am gemeinsamen Lesen und
Verstehen umgehen würden. Nicht nur beobachtend, sondern aktiv in die
Debatten verwickelt, gewann ich dabei zugleich einen Einblick in die
Arbeitsweise des Vereins. Denn wie auch beim Umgang mit den Schriften
anderer Denker wurde der Schwerpunkt nicht vorrangig auf eine
ideengeschichtliche Klassifizierung oder den Nachweis einer wie immer
begründeten ideologischen oder sozialen „Beschränktheit“ gelegt. Vor
jeder Bewertung, also vorurteilsfrei und gewissermaßen neugierig
interessiert an dem, was der jeweilige Autor zu einer bestimmten Frage
anzubieten hatte, versuchte man, sich auch den Engelsschen Text Schritt
für Schritt zu erarbeiten. Diese Haltung ist übrigens charakteristisch
für den Arbeitsstil des Vereins, gilt also auch im Umgang mit
Überlegungen und Wortmeldungen der Teilnehmer. Als allein fruchtbar
erscheint ihnen eine Kommunikation, die ernst nimmt, was einer sagt und
es zu verstehen sucht. Einander zuhören, das Gehörte bedenken, es zu
eigenen Überlegungen und Erfahrungen in Beziehung setzen – ein im
besten Sinne also dialogisches Verfahren, welches ermöglicht, sich auf
diese Weise nicht nur durch den Text, sondern auch gegenseitig angeregt
und bereichert zu fühlen. Für einen Verein, der sich dem Erwerb und der
praktischen Erprobung dialektischer Denkens verpflichtet fühlt, eine
durchaus angemessene und keineswegs zufällige Arbeitsweise.
Gegenseitiger Respekt, Unvoreingenommenheit und Ermutigung zur
Darlegung eigener Zugänge zum diskutierten Problem sichern, dass
wirklich jeder zu Wort kommt, die Lust nicht verliert, sich auch auf
durchaus schwierige Fragepunkte einzulassen und sich in der
angemessenen sprachlichen Formung von Denkresultaten zu üben. Die
intensive Lektürearbeit in kleineren Arbeitsgruppen wird bei solchen
Veranstaltungen gerahmt und inhaltlich unterstützt durch ebenfalls zur
Diskussion gestellte Referate der philosophisch geschulten Moderatoren,
im Falle des diesjährigen Philosophieurlaubs von Stephan Siemens und
Eva Bockenheimer.
Vor allem der Abschnitt II zur Dialektik sollte schrittweise
erarbeitet, dabei die „Selbstbegründung“ der marxistischen Theorie
gedanklich nachvollzogen und in ihrer Aktualität befragt werden.
“Selbstbegründung“ einer wissenschaftlichen Theorie des Sozialismus war
hier zu verstehen als Methode, die eigenen sozial- und
ideengeschichtlichen Voraussetzungen zu reflektieren, dabei aber auch
den korrigierenden Blick für künftige Entwicklungen zu öffnen.
Naheliegend also auch zu fragen, ob ein emanzipatorisches Konzept vom
Ende des 19. Jahrhunderts – zumal nach dem Scheitern erster praktischer
Versuche seiner Umsetzung – überhaupt noch zeitgemäß sein könnte, und
wenn ja, welche veränderten Bedingungen theoretisch aufzuarbeiten,
welche neuartigen, zumal weltweiten Organisationsformen von
gesellschaftlicher Produktion und menschlichem Zusammenleben in der
Wirklichkeit zu entdecken, zu untersuchen und zu erproben wären.
Diese weiterführende Fragestellung und Blickrichtung waren dem Text
von Engels durchaus nicht äußerlich, etwa einem forcierten
Aktualisierungsbedürfnis geschuldet, sondern folgten gewissermaßen
logisch den Anregungen gerade jenes gemeinsam gelesenen und
ausgewerteten Kapitels zur materialistischen Dialektik, in welchem eben
eine Denkweise vorgestellt ist, die grundsätzlich das Bestehende nicht
nur als veränderlich, vergänglich, sondern als den Bildungsort des
Neuen zu begreifen und daraus Konsequenzen für das eigene Denken und
Handeln abzuleiten sucht. Ich gewann bei dieser sommerlichen Begegnung
jedenfalls den Eindruck, dass den sich hier in einer solchen Denkweise
Schulenden ein profitorientierter Umgang mit natürlichen und
menschlichen Ressourcen eben nicht als das letzte Wort der Geschichte
vorstellbar und wünschenswert ist.
In diesem Sinne konnte Stephan Siemens in seinem Abschlussbeitrag
also völlig zu Recht an Überlegungen anknüpfen, die er seit einiger
Zeit in Symposien und auf der Homepage des Clubs zur Diskussion
gestellt hat z.B. in seinem sehr anregenden und lesenswerten Text
„Meine Zeit ist mein Leben“. Überlegungen, für die er inzwischen auch
bereits im Rahmen gewerkschaftlicher Bildungsarbeit Interesse zu wecken
sucht.
Es geht dabei um marktregulierte und profitorientierte Formen der
internen Arbeitsorganisation global agierender Konzerne wie z.B. IBM,
in denen - per „indirekter Steuerung“ - auf miteinander konkurrierende
, sich selbst organisierende Teams abhängig Beschäftigter
Eigentümerfunktionen produktivitätssteigernd übertragen und in der
Folge nicht nur gesundheitsgefährdende Belastungen für die Beteiligten
heraufbeschworen – diskutiert unter dem Stichwort „Burnout“ - , sondern
auch die Organisierung betrieblicher und gewerkschaftlicher Gegenmacht
erschwert werden. Zu diesem Problemkreis hat Stephan Siemens unter dem
Titel „Thesen zur Gegenwart“ eine Reihe interessanter Gedanken
formuliert und sie auch beim diesjährigen Philosophieurlaub in die
Abschlussdebatte zu Engels‘ Schrift getragen.
Eine Debatte, in der es ja letztlich um die Frage ging, inwiefern
die Notwenigkeit des Sozialismus aus den Bewegungsgesetzen der
kapitalistischen Produktionsweise selbst wissenschaftlich hergeleitet
werden kann. Zugespitzt formuliert: Weiterhin gelte, dass das Kapital
seinen „Totengräber“ selbst hervorbringt, inzwischen aber sei sogar zu
beobachten, dass es mit der „Vergesellschaftung“ weiterer
Unternehmerfunktionen seinem „Widerpart“ auch noch die „Schaufel in die
Hand“ drückt. Dies allerdings, ohne dabei die Verfügungsgewalt über
ökonomische Ressourcen und die Entscheidung über Produktionsstandorte
und Gebrauchswerte aus der Hand zu geben und schon erst recht nicht
willens, über den letzten Zweck kapitalistischen Wirtschaftens - die
höchstmögliche Verwertung des eingesetzten Kapitals - jene mitbestimmen
zu lassen, auf deren lohnabhängiger Arbeit jegliche Profitsteigerung
beruht. Im Kontext der Engels‘ schen Schrift erginge - so die
Schlussfolgerung der Diskussion - von diesen neuen Herausforderungen an
die Arbeitskräfte und ihre Interessenvertretungen die Aufgabe, diese
Veränderungen am Ursprungsort der Produktion gesellschaftlichen
Reichtums wissenschaftlich abzubilden und in ihm nicht nur eine neue
Stufe intensivierter Ausbeutung, erschwerter Mobilisierung von
Widerstand zu beklagen, sondern darin auch einen zukunftsträchtigen
Lernprozess grundsätzlicher Art zu erkennen, eine Möglichkeit, den
gesellschaftlichen Charakter moderner Produktion durch die partielle
Wahrnehmung von Eigentümerverantwortung - wie kapitalistisch verformt
auch immer - individuell anzueignen.
Es scheint auch mir nicht abwegig, darin einen ökonomisch
gesteuerten Kulturprozess von geradezu strategischer Bedeutung zu
sehen, an dessen unzureichender Bewältigung nach Auffassung einst
sympathisierender Linker in letzter Instanz und möglicherweise die
sozialistischen Experimente gescheitert seien. Denn durch das
gesellschaftliche Eigentum an den entscheidenden Produktionsmitteln und
ökonomischen Ressourcen war eine prinzipielle Identität von Eigentümer,
Produzent und Konsument zwar formal gegeben, kampagnenhaft auch immer
wieder angemahnt, in allerlei ökonomischen und sozialpolitischen
Experimenten real umzusetzen versucht worden, diese funktionelle
Einheit konnte aber praktisch nur in Ausnahmefällen wirklich subjektiv
erleb- und erlernbar gemacht, also massenhaft individuell erfahren
werden. Ein wenig altfränkisch ausgedrückt - die gesellschaftlichen
Produktivkräfte waren nur unzureichend den assoziierten Produzenten
subsumiert.
Angeregt von solchen Überlegungen, erschien es mir nach diesem
Philosophenurlaub jedenfalls wünschenswert, dass Forscher, die
„Bausteine ostdeutscher Kulturgeschichte“ zusammentragen und
Wissenschaftler, die sich mit eben jenen neuen Organisationsformen
gesellschaftlicher Arbeit kritisch und philosophisch reflektiert
auseinandersetzen, voneinander wüssten.
Aber es war auch Urlaub
Von den Höhen der Welträtsel herab zu einigen Impressionen vom
„Ambiente“, in dem sich 13! Engelsdeuter für eine Augustwoche
versammelt hatten: Männer und Frauen in den Altersgruppen von Mitte
Zwanzig bis Mitte Sechzig. Ihre universitären philosophischen,
medizinischen, pädagogischen und technischen Bildungsgänge waren also
noch ganz frisch oder lagen bereits Jahrzehnte zurück. Lebens- und
Berufserfahrungen sehr verschiedener Art trafen bereichernd
aufeinander. Wer, wie seinerzeit Engels, auch nach möglichen „Trägern“
gesellschaftlicher Alternativen fragte, konnte profitieren von durchaus
auch ernüchternder Problemkenntnis z.B. einer langjährigen
Betriebsrätin bei IBM.
Der Ort des Treffens eine Idylle, die sich per Internet selbst
empfiehlt als Stätte, welche fernab vom stressigen Weltgetriebe,
Gelegenheit bieten möchte, den „Blick aufs Wesentliche zu schärfen“,
was immer die jeweiligen Nutzer auch für das „Wesentliche“ halten
mögen.
Das „Karneol“ also, benannt nach dem „rötlichen“ Edelstein gleichen
Namens – ein Tagungshaus nahe Steinfurt. Es verdankt sich der
Geschäftsidee einer Psychotherapeutin und Reikimeisterin, die eine
denkmalgeschützt Hofanlage erwarb und zum Gästehaus für Seminare,
Tagungen, Workshops oder Familienfeiern umbauen ließ.
Bilder
Wir Dreizehn waren in jener Woche die einzigen Gäste, liebe- und
phantasievoll umsorgt von einem freundlichen Team fleißiger Frauen -
natürlich Frauen. Man wohnte in schlichten, aber modern und bequem
ausgestatteten Zimmern und die Mahlzeiten konnte man unbedingt als
„urgesund“, also kernig und körnig, wo immer möglich „naturbelassen“
einstufen, nach Wunsch gab es selbstverständlich auch Vegetarisches.
Wir fügten uns ganz entspannt in diese Atmosphäre rustikalen
Charmes, diskutierten im Dunstkreis diskreter Bezüge zu Bedürfnissen
einer Klientel, denen wohl und warm ums Herz sein mag beim Anblick
einer Buddahstatue, diverser Klangkörper, bodennaher, zu Meditation und
Selbsterfahrung einladender Sitzgelegenheiten und diskret im Haus
angebrachter Sprüche, welche etwa zur Besinnung auf das JETZT
aufforderten. Diese Aura der „Achtsamkeit“ bei allem Tun war den
Clubmitgliedern wohl genehm, auch der Wechsel von An- und Entspannung,
von geistiger Anstrengung im „Plenum“ oder in den Arbeitsgruppen, von
Gemeinschaftlichkeit und Rückzug ins paarweise Gespräch, ins schlichte
„Abhängen“ oder in die allabendliche Hingabe an rhythmische
Selbsterfahrung erschlaffter Körper , den obligatorischen
„After-Work-Partys“, sinnig geplant und durchgezogen nach geistiger Arbeit und vor
dem reichhaltigen Abendessen. Der kulturelle Habitus dieser
sympathischen Stätte dürfte wohl am ehesten als „synkretisch“
charakterisiert werden, dies ja eben die „Geschäftsidee“, daher auch
vereinbar sogar mit Problemkreisen, die nun wiederum uns am Herzen
lagen.
Am Rande sei noch bemerkt und klargestellt: Wenn uns der Gedanke
des Heraklit’schen „Alles ist und ist auch nicht, denn alles fließt“
oder gar die Vorstellung, Ideen, sobald sie die Massen ergreifen,
könnten zur „materiellen Gewalt“ werden, nicht ganz fremd waren, so
eignet solchem Weltverständnis doch keinerlei meteorologische Macht.
Unser letztlich urhumanes Anliegen wäre im Übrigen mit einer nicht nur
ökologisch verantwortungslosen, aber doch verbreiteten Haltung „Nach
uns die Sintflut“ absolut unvereinbar gewesen. Die allerdings brach
wenige Tage nach unserem Urlaub über gerade jene zauberhafte Gegend,
über Wiesen, Felder Gehöfte, Mensch und Tier herein. Ein Jammer.
Bilder
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