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KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ReportKulturation 1/2010
Renate Schuster
Mit Engels im Urlaub
Zu Gast beim „Club Dialektik“, einem „Verein zur Förderung dialektischer Philosophie“

Schon seit einigen Jahren hatte ich per Internet mit Interesse und Sympathie die Unternehmungen des rheinländischen Philosophievereins verfolgt. Nun lernte ich seine Arbeitsweise im schönen Münsterland - eine Woche lang aktiv an einem Philosophieurlaub teilnehmend - aus der Nähe kennen.


Themen und Arbeitsformen des Clubs

Fachlich angeleitet und inspiriert von den Vereinsvorsitzenden Stephan Siemens und Eva Bockenheimer, finden sich seit 2001 philosophisch interessierte Leute zu Symposien, Gesprächskreisen und inzwischen schon zum wiederholten Mal in Sommerurlauben zusammen, um sich gemeinsam Texte lesend und deutend zu erschließen und darüber ins Gespräch zu kommen.

Wie auf der Homepage des Clubs erklärt wird, kann und soll aber grundsätzlich alles, was einer philosophischen Diskussion fähig ist und für die Beteiligten interessant genug, um damit ihre Zeit zu verbringen, Gegenstand des Gedankenaustauschs werden. Entsprechend breit ist das bisher bearbeitete Themenspektrum. Ausgewählte Textpassagen von illustren Denkern der Vergangenheit wurden bereits diskutiert, so von Platon, Aristoteles, Descartes, Leibniz, Spinoza, Kant und Hegel. Einer Lektüre und Diskussion im Rahmen von speziellen Arbeitsgruppen und Symposien für würdig befand man aber auch marxistische Texte zur Begründung der materialistischen Geschichtsauffassung, zur kritischen Auseinandersetzung mit Feuerbach und Hegel - „Deutsche Ideologie“, “Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ - , zum Begriff der revolutionären Praxis vor allem anhand der „Thesen über Feuerbach“, zur Arbeitswerttheorie wie auch einige revolutionstheoretische Schriften, z.B.: „Der Achzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, „Bürgerkrieg in Frankreich“ und neuerdings Lenins „Staat und Revolution“.

Unter Anleitung der Literaturwissenschaftlerin Uschi Siemens widmet sich seit einigen Jahren eine Arbeitsgruppe den „Geschlechtertheorien“. Nach der Verständigung über Simone de Beauvoirs Buch „Das andere Geschlecht“ lasen und diskutierten in letzter Zeit die am Thema Interessierten Clara Zetkins: „Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung Deutschlands“.

Schon vor Jahren hatten mich die Arbeiten und Projekte von Uschi Siemens besonders interessiert, woraus sich schließlich ein spezieller freundschaftlicher Gedankenaustausch und sogar eine persönliche Begegnung in Berlin ergaben, was mich zusätzlich motivierte, an den Aktivitäten des Vereins aus der Ferne wenigstens virtuellen Anteil zu nehmen. Frau Siemens erarbeitete und veröffentlichte nämlich unter dem Titel „Produktivkraft Sexualität“ eine sehr anregende Untersuchung zu ausgewählten DDR-Romanen. Der Text kann über die Homepage des Clubs unter der Rubrik „Hochschulschriften“ aufgerufen werden. 2006 erschien ein bemerkenswerter Briefwechsel zwischen ihr, der „Westfrau“, und der „Ostfrau“ Margitta Zellmer, einer Journalistin: “Späte Freundschaft. Ein Ost-West-Briefwechsel“. Die beiden Frauen hatten sich 2005 anlässlich der III. Irmtraud-Morgner-Tafelrunde in Chemnitz kennengelernt und ein Jahr lang brieflich ausgetauscht über ihre Biographien, über Politik und Philosophie, über Zeitgeschehen und persönliche Lebensprobleme. Diese „späte Freundschaft“ mündete schließlich in eine hochinteressante und sehr lesenswerte gemeinsame Publikation: „Jahrgang 1949, Lebensgeschichten aus Ost und West“, erschienen erneut im Projekte-Verlag, Halle, 2009. Es war also wieder ein Ost/ West - Projekt. Dies im doppelten Sinne. Jede der beiden Autorinnen befragte Männer und Frauen des Jahrgangs 1949 in Ost und West nach ihren Lebensumständen und Erfahrungen, danach, was sie antrieb, förderte oder hemmte, und was sie noch vom Leben erwarteten.


Philosophieurlaub 2010 im malerischen Tagungshaus „Karneol“ bei Steinfurt

Diesmal ging es um Engels‘ Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zu Wissenschaft“. Die Arbeit war mir seit langen nicht nur studienhalber bekannt, hatte ich ihre Interpretation doch selbst in den 80er Jahren im Rahmen von Qualifizierungslehrgängen politischer Funktionäre anzuleiten gehabt. Umso mehr interessierte es mich, wie Menschen - verschieden nach Alter, Bildungsgang, beruflicher Erfahrung, Geschlecht und politischer Orientierung - mit diesem Text freiwillig und ohne andere Motivation als der Freude am gemeinsamen Lesen und Verstehen umgehen würden. Nicht nur beobachtend, sondern aktiv in die Debatten verwickelt, gewann ich dabei zugleich einen Einblick in die Arbeitsweise des Vereins. Denn wie auch beim Umgang mit den Schriften anderer Denker wurde der Schwerpunkt nicht vorrangig auf eine ideengeschichtliche Klassifizierung oder den Nachweis einer wie immer begründeten ideologischen oder sozialen „Beschränktheit“ gelegt. Vor jeder Bewertung, also vorurteilsfrei und gewissermaßen neugierig interessiert an dem, was der jeweilige Autor zu einer bestimmten Frage anzubieten hatte, versuchte man, sich auch den Engelsschen Text Schritt für Schritt zu erarbeiten. Diese Haltung ist übrigens charakteristisch für den Arbeitsstil des Vereins, gilt also auch im Umgang mit Überlegungen und Wortmeldungen der Teilnehmer. Als allein fruchtbar erscheint ihnen eine Kommunikation, die ernst nimmt, was einer sagt und es zu verstehen sucht. Einander zuhören, das Gehörte bedenken, es zu eigenen Überlegungen und Erfahrungen in Beziehung setzen – ein im besten Sinne also dialogisches Verfahren, welches ermöglicht, sich auf diese Weise nicht nur durch den Text, sondern auch gegenseitig angeregt und bereichert zu fühlen. Für einen Verein, der sich dem Erwerb und der praktischen Erprobung dialektischer Denkens verpflichtet fühlt, eine durchaus angemessene und keineswegs zufällige Arbeitsweise.

Gegenseitiger Respekt, Unvoreingenommenheit und Ermutigung zur Darlegung eigener Zugänge zum diskutierten Problem sichern, dass wirklich jeder zu Wort kommt, die Lust nicht verliert, sich auch auf durchaus schwierige Fragepunkte einzulassen und sich in der angemessenen sprachlichen Formung von Denkresultaten zu üben. Die intensive Lektürearbeit in kleineren Arbeitsgruppen wird bei solchen Veranstaltungen gerahmt und inhaltlich unterstützt durch ebenfalls zur Diskussion gestellte Referate der philosophisch geschulten Moderatoren, im Falle des diesjährigen Philosophieurlaubs von Stephan Siemens und Eva Bockenheimer.

Vor allem der Abschnitt II zur Dialektik sollte schrittweise erarbeitet, dabei die „Selbstbegründung“ der marxistischen Theorie gedanklich nachvollzogen und in ihrer Aktualität befragt werden. “Selbstbegründung“ einer wissenschaftlichen Theorie des Sozialismus war hier zu verstehen als Methode, die eigenen sozial- und ideengeschichtlichen Voraussetzungen zu reflektieren, dabei aber auch den korrigierenden Blick für künftige Entwicklungen zu öffnen. Naheliegend also auch zu fragen, ob ein emanzipatorisches Konzept vom Ende des 19. Jahrhunderts – zumal nach dem Scheitern erster praktischer Versuche seiner Umsetzung – überhaupt noch zeitgemäß sein könnte, und wenn ja, welche veränderten Bedingungen theoretisch aufzuarbeiten, welche neuartigen, zumal weltweiten Organisationsformen von gesellschaftlicher Produktion und menschlichem Zusammenleben in der Wirklichkeit zu entdecken, zu untersuchen und zu erproben wären.

Diese weiterführende Fragestellung und Blickrichtung waren dem Text von Engels durchaus nicht äußerlich, etwa einem forcierten Aktualisierungsbedürfnis geschuldet, sondern folgten gewissermaßen logisch den Anregungen gerade jenes gemeinsam gelesenen und ausgewerteten Kapitels zur materialistischen Dialektik, in welchem eben eine Denkweise vorgestellt ist, die grundsätzlich das Bestehende nicht nur als veränderlich, vergänglich, sondern als den Bildungsort des Neuen zu begreifen und daraus Konsequenzen für das eigene Denken und Handeln abzuleiten sucht. Ich gewann bei dieser sommerlichen Begegnung jedenfalls den Eindruck, dass den sich hier in einer solchen Denkweise Schulenden ein profitorientierter Umgang mit natürlichen und menschlichen Ressourcen eben nicht als das letzte Wort der Geschichte vorstellbar und wünschenswert ist.

In diesem Sinne konnte Stephan Siemens in seinem Abschlussbeitrag also völlig zu Recht an Überlegungen anknüpfen, die er seit einiger Zeit in Symposien und auf der Homepage des Clubs zur Diskussion gestellt hat z.B. in seinem sehr anregenden und lesenswerten Text „Meine Zeit ist mein Leben“. Überlegungen, für die er inzwischen auch bereits im Rahmen gewerkschaftlicher Bildungsarbeit Interesse zu wecken sucht.

Es geht dabei um marktregulierte und profitorientierte Formen der internen Arbeitsorganisation global agierender Konzerne wie z.B. IBM, in denen - per „indirekter Steuerung“ - auf miteinander konkurrierende , sich selbst organisierende Teams abhängig Beschäftigter Eigentümerfunktionen produktivitätssteigernd übertragen und in der Folge nicht nur gesundheitsgefährdende Belastungen für die Beteiligten heraufbeschworen – diskutiert unter dem Stichwort „Burnout“ - , sondern auch die Organisierung betrieblicher und gewerkschaftlicher Gegenmacht erschwert werden. Zu diesem Problemkreis hat Stephan Siemens unter dem Titel „Thesen zur Gegenwart“ eine Reihe interessanter Gedanken formuliert und sie auch beim diesjährigen Philosophieurlaub in die Abschlussdebatte zu Engels‘ Schrift getragen.

Eine Debatte, in der es ja letztlich um die Frage ging, inwiefern die Notwenigkeit des Sozialismus aus den Bewegungsgesetzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst wissenschaftlich hergeleitet werden kann. Zugespitzt formuliert: Weiterhin gelte, dass das Kapital seinen „Totengräber“ selbst hervorbringt, inzwischen aber sei sogar zu beobachten, dass es mit der „Vergesellschaftung“ weiterer Unternehmerfunktionen seinem „Widerpart“ auch noch die „Schaufel in die Hand“ drückt. Dies allerdings, ohne dabei die Verfügungsgewalt über ökonomische Ressourcen und die Entscheidung über Produktionsstandorte und Gebrauchswerte aus der Hand zu geben und schon erst recht nicht willens, über den letzten Zweck kapitalistischen Wirtschaftens - die höchstmögliche Verwertung des eingesetzten Kapitals - jene mitbestimmen zu lassen, auf deren lohnabhängiger Arbeit jegliche Profitsteigerung beruht. Im Kontext der Engels‘ schen Schrift erginge - so die Schlussfolgerung der Diskussion - von diesen neuen Herausforderungen an die Arbeitskräfte und ihre Interessenvertretungen die Aufgabe, diese Veränderungen am Ursprungsort der Produktion gesellschaftlichen Reichtums wissenschaftlich abzubilden und in ihm nicht nur eine neue Stufe intensivierter Ausbeutung, erschwerter Mobilisierung von Widerstand zu beklagen, sondern darin auch einen zukunftsträchtigen Lernprozess grundsätzlicher Art zu erkennen, eine Möglichkeit, den gesellschaftlichen Charakter moderner Produktion durch die partielle Wahrnehmung von Eigentümerverantwortung - wie kapitalistisch verformt auch immer - individuell anzueignen.

Es scheint auch mir nicht abwegig, darin einen ökonomisch gesteuerten Kulturprozess von geradezu strategischer Bedeutung zu sehen, an dessen unzureichender Bewältigung nach Auffassung einst sympathisierender Linker in letzter Instanz und möglicherweise die sozialistischen Experimente gescheitert seien. Denn durch das gesellschaftliche Eigentum an den entscheidenden Produktionsmitteln und ökonomischen Ressourcen war eine prinzipielle Identität von Eigentümer, Produzent und Konsument zwar formal gegeben, kampagnenhaft auch immer wieder angemahnt, in allerlei ökonomischen und sozialpolitischen Experimenten real umzusetzen versucht worden, diese funktionelle Einheit konnte aber praktisch nur in Ausnahmefällen wirklich subjektiv erleb- und erlernbar gemacht, also massenhaft individuell erfahren werden. Ein wenig altfränkisch ausgedrückt - die gesellschaftlichen Produktivkräfte waren nur unzureichend den assoziierten Produzenten subsumiert.

Angeregt von solchen Überlegungen, erschien es mir nach diesem Philosophenurlaub jedenfalls wünschenswert, dass Forscher, die „Bausteine ostdeutscher Kulturgeschichte“ zusammentragen und Wissenschaftler, die sich mit eben jenen neuen Organisationsformen gesellschaftlicher Arbeit kritisch und philosophisch reflektiert auseinandersetzen, voneinander wüssten.


Aber es war auch Urlaub

Von den Höhen der Welträtsel herab zu einigen Impressionen vom „Ambiente“, in dem sich 13! Engelsdeuter für eine Augustwoche versammelt hatten: Männer und Frauen in den Altersgruppen von Mitte Zwanzig bis Mitte Sechzig. Ihre universitären philosophischen, medizinischen, pädagogischen und technischen Bildungsgänge waren also noch ganz frisch oder lagen bereits Jahrzehnte zurück. Lebens- und Berufserfahrungen sehr verschiedener Art trafen bereichernd aufeinander. Wer, wie seinerzeit Engels, auch nach möglichen „Trägern“ gesellschaftlicher Alternativen fragte, konnte profitieren von durchaus auch ernüchternder Problemkenntnis z.B. einer langjährigen Betriebsrätin bei IBM.

Der Ort des Treffens eine Idylle, die sich per Internet selbst empfiehlt als Stätte, welche fernab vom stressigen Weltgetriebe, Gelegenheit bieten möchte, den „Blick aufs Wesentliche zu schärfen“, was immer die jeweiligen Nutzer auch für das „Wesentliche“ halten mögen.

Das „Karneol“ also, benannt nach dem „rötlichen“ Edelstein gleichen Namens – ein Tagungshaus nahe Steinfurt. Es verdankt sich der Geschäftsidee einer Psychotherapeutin und Reikimeisterin, die eine denkmalgeschützt Hofanlage erwarb und zum Gästehaus für Seminare, Tagungen, Workshops oder Familienfeiern umbauen ließ.
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Wir Dreizehn waren in jener Woche die einzigen Gäste, liebe- und phantasievoll umsorgt von einem freundlichen Team fleißiger Frauen - natürlich Frauen. Man wohnte in schlichten, aber modern und bequem ausgestatteten Zimmern und die Mahlzeiten konnte man unbedingt als „urgesund“, also kernig und körnig, wo immer möglich „naturbelassen“ einstufen, nach Wunsch gab es selbstverständlich auch Vegetarisches.

Wir fügten uns ganz entspannt in diese Atmosphäre rustikalen Charmes, diskutierten im Dunstkreis diskreter Bezüge zu Bedürfnissen einer Klientel, denen wohl und warm ums Herz sein mag beim Anblick einer Buddahstatue, diverser Klangkörper, bodennaher, zu Meditation und Selbsterfahrung einladender Sitzgelegenheiten und diskret im Haus angebrachter Sprüche, welche etwa zur Besinnung auf das JETZT aufforderten. Diese Aura der „Achtsamkeit“ bei allem Tun war den Clubmitgliedern wohl genehm, auch der Wechsel von An- und Entspannung, von geistiger Anstrengung im „Plenum“ oder in den Arbeitsgruppen, von Gemeinschaftlichkeit und Rückzug ins paarweise Gespräch, ins schlichte „Abhängen“ oder in die allabendliche Hingabe an rhythmische Selbsterfahrung erschlaffter Körper , den obligatorischen „After-Work-Partys“, sinnig geplant und durchgezogen nach geistiger Arbeit und vor dem reichhaltigen Abendessen. Der kulturelle Habitus dieser sympathischen Stätte dürfte wohl am ehesten als „synkretisch“ charakterisiert werden, dies ja eben die „Geschäftsidee“, daher auch vereinbar sogar mit Problemkreisen, die nun wiederum uns am Herzen lagen.

Am Rande sei noch bemerkt und klargestellt: Wenn uns der Gedanke des Heraklit’schen „Alles ist und ist auch nicht, denn alles fließt“ oder gar die Vorstellung, Ideen, sobald sie die Massen ergreifen, könnten zur „materiellen Gewalt“ werden, nicht ganz fremd waren, so eignet solchem Weltverständnis doch keinerlei meteorologische Macht. Unser letztlich urhumanes Anliegen wäre im Übrigen mit einer nicht nur ökologisch verantwortungslosen, aber doch verbreiteten Haltung „Nach uns die Sintflut“ absolut unvereinbar gewesen. Die allerdings brach wenige Tage nach unserem Urlaub über gerade jene zauberhafte Gegend, über Wiesen, Felder Gehöfte, Mensch und Tier herein. Ein Jammer.

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