Report | Kulturation 1/2003 | Terézia Kriedemann | Das Béla Balázs Studio und die ungarische neue Welle in den 60er Jahren
| Wir
setzen die 11/02 begonnene kritische Sichtung der osteuropäischen
Filmgeschichte ("In Osteuropa war es anders. Vier Gegenthesen zur
Filmgeschichte" von Lutz Haucke) mit einer Studie über das Béla Balázs
Studio fort, dem berühmten Budapester Experimentalstudio des
Regienachwuchses. Die Verfn. nähert sich dem ästhetischen Phänomen der
"ungarischen neuen Welle"(1961-69) aus der Sicht einer
kulturwissenschaftlichen Institutionenanalyse. Vorzug ist die
Aufarbeitung ausschließlich ungarischer Quellen.
Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre war die Zeit eines
revolutionären Erneuerungsschubs der Filmkunst in Europa. Der Aufbruch,
der sich in verschiedenen Ländern zeigte, mal die Traditionen der
nationalen Filmkunst fortsetzend und weiterentwickelnd (wie in
Italien), mal sie radikal verneinend (wie in Frankreich) zielte auf die
Umbewertung des Begriffes "Filmkunst" sowohl in thematischer als auch
in formaler Hinsicht. Als ein Teil dieses Aufschwungs kann - zumindest
seit den Auslandserfolgen von Miklós Jancsó, István Gaál und István
Szabó Mitte der sechziger Jahre - auch die ungarische neue Welle (die ihren Namen als Pendant zur französischen nouvelle vague erhielt) betrachtet werden. Mit dem Begriff új hullám
bezeichnet man in Ungarn - wie bei der französischen und den anderen
"neuen Wellen" - meist nichts anderes, als das relativ gleichzeitige
und relativ einheitliche Auftreten einer neuen Gruppe von jungen
Filmregisseuren. "Relativ" besagt, daß die Bewegung einerseits äußerst
heterogen war, und daß man andererseits auch von Gleichzeitigkeit nur
bedingt sprechen kann. In der ungarischen Filmkunst gab es gleichzeitig
mit dem Einsetzen der neuen Welle keinen spektakulären
Generationswechsel, um so mehr, da der Generationsbegriff auf die
Gesamtheit der ungarischen Nachkriegsfilmkunst nur mit recht mäßigem
Erfolg anwendbar ist./1/ An der Erneuerung des ungarischen Films
wirkten Regisseure dreier verschiedener Altersgruppen mit: neben Miklós
Jancsó und András Kovács, deren Filme Anfang der sechziger Jahre die
größte Beachtung fanden, produzierten auch Regisseure, die ihre
Laufbahn früher starteten, so Zoltán Fábri oder Károly Makk,
hervorragende Filme, bis sich ab Mitte der sechziger Jahre ein noch
größerer "Boom" der Debütanten, der Filmhochschulneulinge in der
ungarischen Filmproduktion entfaltete. Diese jungen Regisseure, die man
auch die "BBS-Generation" nennt, entstiegen tatsächlich ausnahmslos dem
Kreis des Béla Balázs Experimentalfilmstudios - und tatsächlich fast
gleichzeitig. Der gemeinsamer Nenner für die verschiedenen
Regiepersönlichkeiten der Budapester Schule, die sie von früheren Bestrebungen unterscheidet, sind die sog. Bekenntnisfilme (wie man sie in Ungarn nennt vallomásos filmek), also die Tatsache, daß das Kino der sechziger Jahre auch in Ungarn ein cinéma d'auteur
ist (auch wenn einige Regisseure die Relevanz dieses Begriffs
bestreiten), was eine ganz neue Erscheinung in der ungarischen
Filmkunst war.
Am Beginn der Karriere der "Debütanten-Klasse"
der ungarischen neuen Welle steht das 1961 erneuerte Béla Balázs Studio
für Experimentalfilme. In Ungarn wird der Name des Studios sogar im
festen Syntagma "das Béla Balázs Studio der jungen Talente" genannt,
was die Bestimmung dieser Produktionsstätte deutlich hervorhebt. Das
BBS, ein staatlich gefördertes Studio, ausschließlich für Experimente
des Filmnachwuchses gedacht, war in dieser Form eine einzigartige
Erscheinung in der internationalen Filmwelt. Die Regisseure, die ab
Mitte der sechziger Jahre erfolgreich mit Langspielfilmen debütierten,
entwarfen und produzierten hier ab 1961 ihre Kurzfilme. Die
international bekanntesten Namen sind wohl István Szabó und István
Gaál, aber auch Judit Elek, Zsolt Kézdi Kovács, Pál Gábor, János Rózsa
und Sándor Sára sind keine Unbekannten. Sie waren die erste Generation
des erneuerten BBS, die mit ihren erfolgreichen Kurzfilmen den nahezu
legendären Ruhm dieses Experimentalfilmstudios begründete.
In der ersten Phase des BBS war die Mitgliederzahl noch gering, die
Tendenzen überblickbar, von einem einheitlichen BBS-Stil kann man
allerdings nicht sprechen. Innerhalb des allgemeinen Oberbegriffs
"Experiment" fanden sich mehrere Tendenzen. Die Filme der Mitglieder
zeichnen sich nicht zuletzt auch durch eine ausgeprägte Individualität
aus.
Einige müssen hier genannt werden:
Zoltán Huszárik drehte seinen ersten experimentellen Film
"Elegie" (Elégia) 1965 im BBS. "Elegie" ist ein Film, der als Krönung
und Abschluß dieser ersten Phase gewertet wird und 1969 "Capriccio".
Huszárik blieb relativ lange aktives Mitglied des BBS, da er längere
Zeit als Kurzfilmer tätig war, bevor er 1971 seinen ersten
abendfüllenden Spielfilm "Sindbad" drehte.
Judit Elek war
eins jener Mitglieder, die sich verstärkt dem Experiment an einem
bestimmten Filmstil verschrieben haben. Sie arbeitete mit Methoden des Direct cinema.
Sie produzierte hier Filme wie:"Találkozás"(1963) oder "Wie lange lebt
ein Mensch?" (Meddig él az ember?, 1967). Letzterer Film wird bereits
als Übergang zu der nächsten Phase des BBS gewertet, zur Ära des
"soziographischen Dokumentarfilms"
Zsolt Kézdi Kovács
zählte wie István Szabó zu den "Lyrikern" im BBS. Seinen Spielfilm
"Herbst" (Ösz) drehte er 1961, "Die Geschichte einer Feigheit" (Egy
gyávaság története) 1966. Beide Filme widmen sich den Grenzsituationen
des Lebens, in denen menschliche Beziehungen erprobt werden.
Márk Novák,
der weder zu den Dokumentaristen noch zu den Spielfilmregisseuren zu
zählen ist, drehte hier zwei surrealistisch anmutende
Experimentalfilme: "Stilleben" (Csendélet, 1962), der auf dem IV.
Kurzfilmfestival 1963 in Budapest preisgekrönt wurde und "Dienstag"
(Kedd, 1963).
Pál Gábor widmete sich mit seinen Filmen
"Prometheus" (1962) und "Das goldene Zeitalter" (Aranykor, 1963) den
zwischenmenschlichen Beziehungen, verknüpft mit Experimenten an der
dramaturgischen Struktur des Films.
Imre Gyöngyössy zeichnete mit seinen subjektiven
Dokumentarfilmen "Männerporträt" (Férfiarckép, 1964) und "Ansichten
einer Stadt" (Változatok egy városról, 1965) einfühlsame, balladenhafte
Porträts dieser Zeit.
Ferenc Kósa drehte hier (mit Sándor
Sára als Kameramann) den mehrfach preisgekrönten Film "Selbstmord"
(Öngyilkosság, 1967) nach der Novelle von Attila József.
Ferenc Kardos startete
mit seinen beiden Filmen "Uns gehört die Welt" (Miénk a világ, 1963)
und "Briefe an Júlia" (Levelek Júliához, 1964) spielerische, zuweilen
selbstironische Experimente an der dramaturgischen Struktur.
István Szabó
war von Beginn einer der Inspiratoren des BBS. Er startete 1961
mit''Variationen auf ein Thema''(Variációk egy témara) und"Du"(Te).
1. Das institutionelle und kulturpolitische Vorfeld der neuen Welle(1957-61)
Der Aufschwung in der ungarischen Filmkunst Anfang bis Mitte der
sechziger Jahre folgt einerseits ähnlichen Prozessen in der
internationalen Filmkunst, andererseits verläuft er parallel zu einer
bedeutenden Bewegung in der ungarischen Gesellschaft - in
wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht gleichermaßen -,
die nach der gescheiterten Revolution von 1956 einsetzte. Es sollen an
dieser Stelle einige Erscheinungen aus dem (kultur)politischen und
gesellschaftlichen Leben nach 1956 herausgegriffen werden, denen der
wichtigste Einfluß auf Prozesse innerhalb der ungarischen
Filmproduktion zuzuschreiben ist. Diese betreffen die allgemeine
Liberalisierung im ungarischen öffentlichen Leben, die ideologische
Öffnung der Kulturpolitik und die daraus resultierende Förderung von
Institutionen, öffentlichen Einrichtungen und Produktionsstätten des
Films.
Es ist ohne Zweifel: die Herbstereignisse 1956 gehören zu den
einschneidendsten Ereignissen der neueren ungarischen Geschichte. Die
in diesem Zusammenhang formulierten Forderungen und Ziele der Ungarn
übten in ihrem (partiellen) Erfolg und gleichermaßen in ihrem Scheitern
einen entscheidenden Einfluß auf das Leben und die Kunst in der
nachfolgenden Kádár-Ära aus.
Die Situation des öffentlichen Lebens und der Kunst nach der Zäsur der
1956er Ereignisse ist von einer Widersprüchlichkeit gekennzeichnet, die
für alle Bereiche charakteristisch ist. Man darf nicht vergessen:
hinter der relativ schnellen Normalisierung der Verhältnisse in Ungarn
standen über 2000 Tote und 19.000 Verwundete der 56er Kämpfe, 200.000
Menschen, die "mit den Füßen abgestimmt" hatten, und Ungarn verließen
(die meisten der Toten, Verwundeten und Dissidenten waren junge
Menschen!), sowie all jene, die wegen ihrer Teilnahme am Aufstand mit
ihrem Leben oder mit Gefängnisstrafen bezahlen mußten. Ebenso führte
die Enttäuschung über den Westen, von dem sich die Ungarn seit dem
November 1956 in Stich gelassen fühlten, sowie der Verlust der
Illusion, das nach demokratischen Zielen strebende, einheitliche Ungarn
könne sich gegen eine Großmacht behaupten, zu einer gewissen
Resignation, einem Abfinden mit dem Unveränderbaren.
Auf der anderen Seite herrschte - dank der recht bald merkbaren
Erleichterungen im alltäglichen Leben - doch schnell eine
Aufbruchsstimmung in den meisten Bereichen (das politische Leben bleibt
davon natürlich größtenteils ausgeschlossen). Die wirtschaftliche
Konsolidierung nach den Ereignissen des Volksaufstandes war relativ
schnell vollzogen. Einige - wichtige - Errungenschaften der 56er
Ereignisse waren auch nicht mehr rückgängig zu machen (z.B. die
Abschaffung der Lebensmittelmarken und der Abgabepflicht der Bauern).
Auch jene Forderungen, die sich auf die industriellen
Produktionsnormen, auf die Festlegung des Existenzminimums, auf die
Meinungs- und Pressefreiheit bezogen, waren nicht vergessen, und die
Parteiführung bemühte sich auch, der Bevölkerung einigermaßen
entgegenzukommen. Die Bemühungen von Partei- und Staatsführung
konzentrierten sich von 1957 an auf die Anhebung des Lebensstandards
der Bevölkerung, wofür die Kádár-Regierung ("Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns")
große Summen mobilisierte. Insbesondere auf die "alltäglichen
Freiheiten" der Menschen wurde Rücksicht genommen, was sich zunächst in
der Äußerlichkeit wahrnehmen ließ, daß die 1956 abmontierten roten
Sterne und Spruchbänder weiterhin aus dem Straßenbild verschwunden
blieben. Der Staat hielt sich im Allgemeinen aus dem privaten Bereich
weitgehend heraus, der begrenzte Anspruch auf Privateigentum wurde
anerkannt und die Regierung gedachte das Land - entgegen anderen
Staaten der Region - nicht mehr vollständig gegenüber dem Westen
abzuschotten. So erreichten auch Ungarn (mit einigen Jahren Verspätung)
die Modetendenzen des Westens, sei es in der Kleidung, in der Beatmusik
oder in der Kunst./2/
Gleichzeitig zur Förderung eines
höheren materiellen Lebensstandards nahm sich die Politik in die
Pflicht, die geistige und ideologische "Schulung" der Bevölkerung in
Angriff zu nehmen, die nach den "revisionistischen Umtrieben" und den
ebenfalls demoralisierenden Übertretungen des Stalinismus nötig
erschien./3/ Dazu gehörte neben Maßnahmen in der Schul- insbesondere in
der Hochschulpolitik auch eine neue, vom Dogmatismus befreite
Einstellung zu den Künsten. Im Dokument Richtlinien der Kulturpolitik der Sozialisstischen Arbeiterpartei Ungarns
(Az MSZMP müvelödési politikájának irányelvei) heißt es: "...die Partei
spricht den Künsten - der Literatur, den Bühnen- und Filmkünsten, der
Musik, den bildenden Künsten - große Wichtigkeit zu, und unterstützt
mit allen Mitteln ihre Entwicklung."/4/
Und: "Neben der für die
Entwicklung der Künste notwendigen moralischen und materiellen
Unterstützung gewähren wir den dem Volk dienenden Künstlern weitgehende
Freiheit in der Wahl des Themas, in der Art der Bearbeitung, in der
Frage der Strömungen und der Formexperimente."/5/
Das erste Mal gestand die Kulturpolitik (und das offiziell und
schriftlich!) den Künstlern das Recht auf Experimente zu, die nun nicht
mehr als bourgeoiser Formalismus galten. Als Teil der allgemeinen
Liberalisierung in der ungarischen Gesellschaft sollte - wie im
wirtschaftlichen und sozialen Bereich - auch für die Künstler eine
größere persönliche und kreative Freiheit gelten. Freilich weist die
Formulierung "dem Volk dienende Künstler" auf die Mehrgesichtigkeit der Kulturpolitik hin. Die drei "T"-s der Kádár-Ära: tiltás, türés, támogatás
(auf dt.: verbieten, gewähren lassen, unterstützen) waren auch und
insbesondere für den kulturellen Bereich gültig. Die Widersprüche
entstehen unweigerlich, wenn man im Staatssozialismus von "Pluralität"
und "Freiheit" in der Kunst spricht. Doch überhaupt war nur hier, in
der Kunst, eine gewisse (begrenzte) Pluralität und eine schöpferische
Freiheit (mit Rücksichtnahme auf einige Tabus, wie z.B. 1956) möglich -
in der Politik blieb sie noch lange Jahrzehnte ausgeschlossen.
Neben den individuellen Freiheiten der Künstler - zu der nach langer
Zeit wieder auch Auslandsreisen gehörten - betont das Dokument auch die
Wichtigkeit der Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der
(natürlich immer noch zentral gesteuerten) Institutionen und
Werkstätten. Daß es sich bei den Leitsätzen dieses Dokuments nicht nur
um leere Floskeln handelte, zeigte sich auch schon vor der
Veröffentlichung des genannten Parteidokuments, denn bereits im Jahr
zuvor (1957) begann man von offizieller Seite her Institutionen und
Personen zu fördern, die früher kaum mit Unterstützung rechnen konnten.
Das Augenmerk der Kulturpolitik richtete sich Ende der fünfziger Jahre
stärker als je zuvor auf die Filmkunst. Die besondere Aufmerksamkeit,
die dem Film entgegengebracht worden ist, hatte ihre Gründe sicherlich
auch darin, daß man auch in Ungarn die Signale der Veränderungen im
internationalen Film vernahm und sich dieser Entwicklung anschließen
wollte. Was die "inneren" Gründe der Orientierung der Kulturpolitik an
der Filmkunst anbelangt, war diese verglichen mit der besonderen
Situation in der traditionellen kulturellen "Königsdisziplin" Ungarns,
der Literatur, eine weit weniger heikle Angelegenheit. Die ungarischen
Filmschaffenden, die sich weitgehend neutral bei den Herbstereignissen
1956 verhielten, waren politisch "unbedenklicher", als die
Schriftsteller, die eine aktive Rolle gespielt hatten, und nach 1956
von den Repressionen erheblich härter getroffen waren. Daß der
ungarische Schriftstellerverband 1957 aufgelöst wurde, ist nur ein
äußeres Zeichen: viele Schriftsteller saßen im Gefängnis (z.B. der auch
international bekannte Tibor Déry bis 1961), hatten Schreibverbot oder
beteiligten sich am "Schriftstellerstreik"./6/ Die Kulturpolitik
brauchte also auf einem anderen Gebiet prestigeträchtige Ergebnisse und
nach der sicherlich schädigenden Wirkung der schematischen Filme, gab
es auch einiges am Film (und auch an seinem Publikum) gutzumachen.
Außerdem eignete sich die Filmkunst - ähnlich dem Sport - mit ihrer
"internationalen" Sprache mehr als andere Künste als prestigebringende
"Ware" fürs Ausland.
Die ungarische Filmkunst produzierte in den fünfziger Jahren trotz der
schwierigen Produktionsbedingungen und der ideologischen Bevormundung
zweifellos bemerkenswerte Filme. Aber diese waren von geringer Zahl und
an einige wenige Regiepersönlichkeiten gebunden, die das Glück (und das
Talent) hatten, einigermaßen kontinuierlich und ungestört arbeiten zu
können. Filme wie "Liliomfi" (1954), "Das Haus unter den Felsen" (Ház a
sziklák alatt, 1958) von Károly Makk, "Die Geburt des Menyhért Simon"
(Simon Menyhért születése, 1954) von Zoltán Várkonyi, "Karussell"
(Körhinta, 1955),''Professor Hannibal'' (Hannibál tanár úr, 1956) von
Zoltán Fábri, "Die Schlucht" (Szakadék, 1956) von László Ranódy,
"Budapester Frühling" (Budapesti tavasz, 1955) und "Ein kleines Helles"
(Egy pikoló világos, 1955) von Félix Máriássy waren nicht nur für die
ungarische Filmkunst von großer Bedeutung, sie wurden auch auf
ausländischen Festivals beachtet und gewürdigt. Dennoch war es zum Ende
der fünfziger Jahre deutlich geworden: seit Jahren kamen wegen der
starren Strukturen in den staatlich geführten Filmstudios kaum mehr
neue Talente zu Wort, und infolge der ideologischen Sanktionierung
waren auch in der Filmsprache (außer einer leichten Orientierung am
italienischen Neorealismus) keine großen Neuerungen zu verzeichnen.
Die Notwendigkeit eines baldigen Handelns für den Film ergab sich aber
auch nicht zuletzt durch den westeuropäischen Aufschwung im technischen
Bereich. Die technische Entwicklung, die der Filmkunst neue
Möglichkeiten (Handkamera, empfindlicheres Filmmaterial) bot, bot sie
natürlich auch ihren Konkurrenten: der Musik und insbesondere dem
Fernsehen. Sendestart des ungarischen Fernsehens war 1958. Die Zahl der
Abonnenten wuchs sehr schnell (1958 waren es 16.000; 1962 -
325.000)./7/ Das Erscheinen des Fernsehens als Konkurrent wirkte
befruchtend auf die Filmkunst: nicht nur wegen der
Wettbewerbssituation, sondern auch in ästhetischer Hinsicht (so der
Einfluß auf den Reportage- und Dokumentarfilm). Es muß erwähnt werden,
daß Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre nicht nur die
Zahl der TV-Konsumenten anstieg, sondern auch die Zahl der Kinos und
die Bedeutung der Kulturhäuser, und zwar insbesondere auf den
Dörfern./8/
Neben der ideologischen bedurfte es und vor allem der institutionellen
und materiellen Förderung der Filmkunst, der Schaffung neuer
Möglichkeiten. Die ersten großen Veränderungen in der Filmproduktion,
die den Start einer neuen Regiegeneration Mitte der sechziger Jahre
begünstigten, gehen zurück auf das Jahr 1957.
1. Im Verwaltungsbereich:
1957 wurde das Ungarische Bildungsministerium (Müvelödési Minisztérium)
konstituiert. Innerhalb dieses Ministeriums wirkte die Filmoberdirektion,
welche als nun einzige und verbindliche verwaltende Institution die
Organisation der Filmfragen vom aufgelösten Ministerium für
Volksbildung und vom Nationalen Direktorium für Kinofragen übernahm./9/
Als Interessenvertretung der Filmkünstler wurde 1959 der Filmkünstlerverband ins Leben gerufen.
2. In der Filmwissenschaft:
1957 wurde auch einem früher wenig protegierten Vorhaben zur Geburt verholfen: dem Theater- und Filmwissenschaftliche Institut (Színháztudományi
és Filmtudományi Intézet). Béla Balázs unternahm unter dem Dach der
Theater- und Filmhochschule bereits von 1946 bis 1949 den Versuch, ein
Forschungsinstitut für die Filmkunst zu gründen. Dieses Projekt erfuhr
schon zu Balázs' Lebzeiten wenig offizielle Unterstützung und wurde
nach Balázs' Tod 1949 ganz eingestellt. Bis 1957 gab es keine
Institution, wo Filmtheorie, Filmforschung entstehen konnte, es gab
auch kein öffentlich zugängliches Filmarchiv oder eine Filmbibliothek
auf ungarischem Boden. Der Initiator für die Neugründung war der
Theatertheoretiker und -regisseur Ferenc Hont. Zwei Jahre später, 1959
trennten sich die Abteilungen Film und Theater, es entstand das
eigenständige Ungarische Filmwissenschaftliche Institut und
Filmarchiv./10/ Das Filminstitut sah es als eine seiner Aufgaben an,
das Publikum, die Kritiker und Filmkünstler gleichzeitig
filmgeschichtlich und theoretisch zu schulen (u.a. mit seiner ab
1960/11/ erscheinenden die Zeitschrift Filmkultúra ), ihnen
Zugänge zu den wichtigsten Werken der nationalen und internationalen
Filmgeschichte zu ermöglichen, ihnen ein Wertesystem vorzulegen und das
Interesse der Allgemeinheit am Film überhaupt zu fördern. Nicht zuletzt
der hier angedachten Aufklärungsarbeit ist es zu verdanken, daß sowohl
die debütierenden Regisseure der ungarischen neuen Welle als auch ihr Publikum sehr viel mehr "vorbereitet" waren als die Generationen davor.
3. In den öffentlichen Foren des Films:
Das Ungarische Filmwissenschaftliche Institut spielte auch bei der Unterstützung der Filmklub-Bewegung in Ungarn mit der Eröffnung eines eigenen Kinos, des Filmmúzeum in der Innenstadt (Teréz körút Ecke Dohány utca) eine große Rolle. Das Filmmúzeum stellte
sich in den ersten Jahren die Aufgabe, Archivmaterialien dem Publikum
nahezubringen (meist Filme aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg). Ab
1960, als rechtliche und organisatorische Probleme im Kauf und der
Vorführung von Filmen geklärt waren, zeigte man im Filmmúzeum auch
zeitgenössische ausländische Filme. So z.B. Resnais'"Hiroshima mon
amour" 1960 oder Wajdas"Asche und Diamant". Diese Filme fanden eine
große Resonanz. Resnais' Film sahen alleine 117.189 Zuschauer, eine für
das Filmmúzeum enorme Zahl (etwa ein Fünftel der Besucher in einem Halbjahr)./12/
1957 wurde die erste Filmzeitschrift im Nachkriegsungarn gegründet: Film Színház Muzsika.
Diese zweiwöchentlich erscheinende Zeitschrift war eher dem
bildungsbürgerlichen Anspruch nach aktuellen Informationen aus der Welt
des Theaters, der Musik und des Films verpflichtet, und war für
ausgedehnte theoretische Auseinandersetzungen der Fachwelt wenig
geeignet. Dennoch: ihre Rolle in der Popularisierung der Kunstfilme ist
nicht zu unterschätzen.
1958 erschien das erste Mal das zu jener Zeit wichtigste theoretische Organ der ungarischen Filmwelt, die Zeitschrift Filmvilág. Obwohl zunächst größtenteils Übersetzungen ausländischer Artikel und kaum eigene Beiträge erschienen, entwickelte sich die Filmvilág
schnell zu einer Arena der verschiedenen Meinungen zu den gerade
aktuellen Tendenzen ("Kinowahrheit"/13/, nouvelle vague/14/ etc.). Die
Streitartikel in der Filmvilág waren es, die den Boden für die Erneuerung der ungarischen Filmkunst Mitte der sechziger Jahre vorbereitet haben.
Um den bis dahin vernachlässigten Genres der Kurzfilmkunst zum
Aufschwung zu verhelfen, beschloß man 1960, ein Kurzfilmfestival ins
Leben zu rufen. Die Fachabteilung für Filmkunst des Verbandes der
Künstlergewerkschaften gab die Ausrichtung des Festivals das erste Mal
für den 7.-15. Mai 1960 bekannt./15/ Ab 1961 nahmen auch Fernsehfilme,
TV-Reportagen etc. an diesem Festival teil. Aus diesem Kurzfilmfestival
erwuchs dann einige Jahre später das erste ungarische Spielfilmfestival.
Wenn man über die zunehmende Öffnung im kulturellen Leben, über
öffentliche Foren des Films schreibt, muß man allerdings auch anmerken,
daß es zu unterscheiden gilt zwischen den Möglichkeiten in der
ungarischen Öffentlichkeit und innerhalb der Fachwelt. Es besteht eine
oft jahrelange Zeitverzögerung zwischen öffentlichen Kinopremieren und
den Vorführungen, die der Filmkünstlerverband für die Fachwelt
veranstaltete. Um nur ein Beispiel zu nennen: Antonionis "La notte"
(1960) kam erst 1965 in die ungarischen Kinos, für die Fachwelt indes
war der Film schon seit Jahren bekannt./16/ Ebenso war das 1960
gegründete Ungarische Kurzfilmfestival auch erst 1964 dem Publikum
zugänglich. Da stellt sich die Frage: was konnte das Lesepublikum mit
Streitartikeln in der Filmvilág
anfangen über Filme, die es vielleicht erst Jahre später zu sehen
bekam? Ebenso herrscht auch in den Filmkritiken eine seltsame
Zwiespältigkeit. Wie István Szabó bemerkt: "Die Fachpresse spielte für
die Kulturpolitik damals die Rolle eines Nachrichtenübermittlers oder
eines Briefträgers. Nur: es gab die außergewöhnliche Situation, daß die
kulturpolitische Führung zwei Nachrichten hatte: eine Richtung
Öffentlichkeit, die von der Fachpresse vertreten wurde und diese
Nachricht galt im allgemeinen nicht nur den Konservativen im eigenen
Lande (...) sondern auch für andere Länder mit einer ähnlichen
Kulturpolitik. Daneben gab es auch noch eine andere Nachricht, die die
kulturpolitische Führung persönlich überbrachte und diese war anderer
Art. Zum Beispiel erschien in den Kritiken ein offizieller,
prinzipieller Angriff gegen einen Film oder eine Strömung, während der
zuständige kulturpolitische Leiter in einem engen Fachkreis zum
Weitermachen ermutigte. (...) die Künstler wurden über andere Kanäle
gelenkt."/17/ Wegen dieses Zwiespalts lassen sich auch nur schwer
zeitgenössische, schriftliche Belege für die tatsächlichen Abläufe in
der Kulturpolitik finden. Oft widersprechen sich Beschlüsse und
nachfolgende Aktivitäten. Allgemein läßt sich jedoch über die
ungarische kulturelle Öffentlichkeit in der Periode 1957-1963
feststellen, daß sich infolge relativen wirtschaftlichen Wohlstandes
und des politischen Tauwetters in Ungarn eine - den Möglichkeiten
gemäße - offene geistige Atmosphäre und eine von staatswegen geförderte
kulturelle Infrastruktur entwickelt hat, die ein breites Interesse an
den Geschehnissen innerhalb der ungarischen Filmkunst überhaupt möglich
gemacht, und damit natürlich auch die Erwartungen, die an die Filmkunst
gestellt worden waren, hochgeschraubt hat.
4. In den Produktionsstätten:
Die Herbstereignisse von 1956 bedeuteten zwar politisch einen
Einschnitt, doch in ästhetischer Hinsicht änderte sich in der Filmkunst
kaum etwas. Der ungarische Film lebte immer noch vom 1955 beschwerlich
für sich entdeckten italienischen Neorealismus und von Einzelleistungen
von Regiepersönlichkeiten wie Zoltán Fábri oder Károly Makk. Mit der
Zeit wurde das Manko der ungarischen Filmkunst immer offensichtlicher:
seit Jahren bekamen junge Regiehoffnungen nicht die Chance, die
Filmlandschaft mit neuen, individuellen Stilen, Sprachen, Themen zu
bereichern. Dafür waren die Strukturen der Filmproduktion nicht
ausreichend. Jährlich konnten nicht mehr als max. 8 Filme entstehen.
Eine finanzielle Erweiterung und eine organisatorische Umwandlung waren
nötig geworden.
1957 änderte man den Wirkungsbereich der drei vorhandenen Studios
(Hunnia, Budapest und Pannónia) insofern, daß nun nicht mehr allein in
Hunnia Spielfilme produziert werden konnten, sondern von 1956 bis 1962
auch im Dokumentarfilmstudio Budapest und 1956-1958 im eigentlich für
Synchronisationen zuständige Studio Pannónia. 1962 bildeten sich
innerhalb der Hunnia drei Studiogruppen nach sowjetischem Muster, um
ein effektiveres, profilierteres Arbeiten innerhalb von "Werkstätten"
zu ermöglichen - allerdings mit kaum sichtbaren Erfolg.
1963 kam dann der nächste große Umstrukturierungsschub in den
Filmstudios. Die Studios Hunnia und Budapest wurden zusammengelegt zu
MAFILM (Magyar Filmgyártó Vállalat/Ungarische
Filmproduktions-gesellschaft). Innerhalb von MAFILM gab es vier
Spielfilmstudios (eigentlich: Produktionsgruppen mit Namen "Társulás",
"Objektív", "Dialóg" und "Hunnia"), sowie 6 weitere Studios für die
verschiedenen Kurz- und Dokumentarfilmgenres (das
Nachrichtenfilmstudio, das Reportage und Dokumentarfilmstudio, das
Studio für populärwissenschaftliche Filme etc.) Außer diesen
Produktionsstätten gab es das sog. "Nemzetközi Filmstúdió"
(Internationales Filmstudio) für die Aufträge aus dem Ausland./18/
Der Aufschwung in der ungarischen Filmkunst zeigte sich zunächst als
quantitativer Aufschwung. 1957 ist das erste Jahr seit der
Verstaatlichung der ungarischen Filmindustrie (1949), in dem die
relativ hohe Zahl von 15 Filmen produziert worden ist. 1957 melden sich
im Gegensatz zu früheren Jahren gleich 4 Debütanten mit ihrem ersten
Film. Die quantitative Steigerung hielt auch in den nächsten Jahren an.
1959 waren es 18, 1963 bereits 21 Filme. Zwar gibt es von Jahr zu Jahr
Schwankungen, doch bis zur Mitte der sechziger Jahre hat sich die
Jahresproduktion bei etwa 20 Filmen eingependelt./19/
Trotz der allmählichen Veränderungen seit 1957 blieb aber der
ungarische Film immer noch beträchtlich hinter dem internationalen Feld
zurück. Die schlechten technischen Voraussetzungen, das Fehlen
spezieller (leichterer und auch für Tonaufnahmen geeigneter) Kameras,
Optiken und des ebenfalls erforderlichen empfindlicheren Filmmaterials
konnte nur ein Grund dafür sein. In den großen Studios waren die
Möglichkeiten für Experimente sehr eingeschränkt.
So schreibt der junge Regisseur Sándor Sára in einem Interview 1961:
"Wir leben in einer Zeit der neuen Themen, also wünsche ich mir einen
Film mit einem neuen Thema und einer neuen Form. Es ist schade, daß
keine Experimentalfilme gemacht werden, um die Wege dorthin zu suchen,
denn den Filmen von Resnais, den neuen polnischen Langspielfilmen
gingen solche experimentellen Kurzfilme voran... Für die Erschaffung
einer neuen ungarischen Filmkunst sind größtenteils die jungen
Filmemacher prädestiniert... "/20/
Ab 1961 strukturierte man einen Gesprächsklub um, der von einigen
jungen Filmschaffenden seit einigen Jahren betrieben worden war. Hier
sollte für den Kamera- und Regienachwuchs der Filmhochschule die
Möglichkeit für die experimentelle Produktion von Kurzfilmen geschaffen
werden. Es entstand das Béla Balázs Studio für Experimentalfilme.
2. Das Béla Balázs Studio (BBS)
2.1. Die Anfänge
Die "erste" Gründung des Béla Balázs Studio betreffend liegen uns
unterschiedliche Angaben vor. Glaubt man István Nemeskürty/21/ und
Károly Nemes/22/, tauchte die Idee zur Gründung eines "jungen"
Filmstudios bereits 1958 im ungarischen Bildungsministerium auf, und
zwar durch den Direktor der Hauptverwaltung für Filmwesen
(Filmföigazgatóság), Miklós Révész. Geht man von anderen Berichten aus,
wie jenem Protokoll, das anhand von Interviews und Berichten der
BBS-Mitglieder zustande kam/23/, war die erste Gründung 1959. Dabei
handelte es sich um einen Filmklub, der auf Initiative des
Synchronregisseurs Pál Gerhardt zustande kam. Gerhardt brachte 1959 den
ersten Entwurf zur Gründung eines "jungen Filmstudios" zu Papier und
reichte es über die Filmkünstlergewerkschaft (genauer: über die
Fachabteilung Film des Verbandes der Künstlergewerkschaften) zur
Genehmigung ein. Die Hauptverwaltung für Filmwesen im
Bildungsministerium stimmte zu, und so fand am 11.12.1959 die
Gründungssitzung des Studios statt, das den Namen des bekannten
Filmtheoretikers Béla Balázs annahm./24/ Allein schon dieser Name war
ein Signal der Öffnung, denn in den fünfziger Jahren wurde der
international anerkannte Béla Balázs in Ungarn von der offiziellen
Seite wegen seines "Kosmopolitismus" gemieden.
Die Mitglieder dieses ersten Film- und Gesprächskreises waren jene
jungen Regisseure, die in den fünfziger oder sogar den vierziger Jahren
zum Film kamen. Die bekanntesten Namen sind hier: Pál Gerhardt, Miklós
Jancsó, Róbert Bán, József Magyar. Man traf sich einmal die Woche zu
Filmvorführungen und Diskussionen. Nicht nur die in der Filmbranche
Tätigen waren hierzu eingeladen, sondern auch junge Künstler anderer
Sparten oder filminteressierte "Laien".
Obwohl schon dieser Filmklub das Ziel hatte, eine von den offiziellen
Filmstudios unabhängige Produktionsstätte für Filme zu werden, kamen in
den ersten beiden Jahren seines Bestehens keine Filme zustande. Dem
Studio stand kein Geld zur Eigenproduktion von Filmprojekten zur
Verfügung. Die Zeichen für Absolventen der Filmhochschule und für junge
Regisseure, die ihre eigenen Filme drehen wollten, standen in den
fünfziger Jahren ohnehin schlecht. Die Ordnung im damaligen Filmbetrieb
verdammte diese jungen Leute zu jahre- oder sogar jahrzehntelanger
Assistentenarbeit und oft waren sie schon verbraucht, bevor sie ihren
ersten Film drehen konnten.
Innerhalb des BBS fehlte auch die nötige Organisation, um eine mehr
oder weniger regelmäßige Filmproduktion zu betreiben. Man beschränkte
sich also auf Diskussionen über Filme der internationalen Filmkunst und
entwarf Drehbücher. 1960 gab man in diesem Zusammenhang auch die
Filmzeitschrift Film 60 heraus, die Drehbücher und Filmpläne enthielt. Diese Zeitschrift erschien zweimal./25/
Es entstanden zwar auch in dieser Zeit (1959-60) Filme, die man dem
Einfluß des BBS zurechnet, da die Regisseure und ein Teil der
Mitarbeiter aus dem BBS oder seinem Umfeld kamen und die Drehbücher,
die Pläne im BBS diskutiert wurden. Aber nur wenige dieser Filme ließen
etwas ahnen von den im BBS schlummernden Erneuerungspotentialen.
Erwähnenswert sind hingegen "Es malen die Kinder" (Festenek a gyerekek,
1959) von Róbert Bán, unter Mitarbeit von Sándor Sára und "Beklemmender
Zauber" (Szorongó varázs, 1959) von Gyula Rémiás unter Assistenz von
István Szabó. Bei diesen frühen Filmen ist bereits die kollektive
Arbeitsweise zu beobachten, die später so typisch für die Filme des BBS
sein wird. Auch die Thematik nimmt schon einiges voraus. Der Film "Es
malen die Kinder" befaßt sich thematisch mit dem Zweiten Weltkrieg, wie
er auch noch in der Nachkriegszeit präsent ist in den Träumen und
Ängsten der Kinder, und wie sich diese in ihren Zeichnungen ausdrücken.
"Beklemmender Zauber" ist ein symbolisches Märchen von einem Jungen und
einem Mädchen, die sich in den letzten Kriegstagen begegnen und gute
Spielkameraden werden, bis sich herausstellt, daß das Mädchen Jüdin ist.
Es entstand auch ein abendfüllender Dokumentarfilm, den man zu den
frühen BBS-Filmen zählt. Der Regisseur war das BBS-Gründungsmitglied
József Magyar. Der Film trug den Titel "Unser Land" (A mi földünk,
1959) und zeigte ein aufrichtiges und mit Sorgfalt photographiertes
Bild von der Gründung der landwirtschaftlichen
Produktionsgenossenschaften/26/ (ein Thema, das man später noch oft
aufgreifen wird, u.a. auch Sándor Sára in seinem ersten Spielfilm "Der
geworfene Stein").
Von tatsächlichen Neuansätzen weder organisatorischer noch ästhetischer
Art konnte man in diesen ersten beiden Jahren aber noch kaum sprechen.
Die Gründungsmitglieder, wie z.B. Pál Gerhardt waren auch schon darüber
hinaus,um noch als Nachwuchsregisseure zu gelten. Miklós Jancsó drehte
nach zahlreichen Dokumentar- und Reportagefilmen 1958 bereits seinen
ersten abendfüllenden Spielfilm "Die Glocken gingen nach Rom" (A
harangok Rómába mentek).
1958-60 war derweil die Unzufriedenheit mit der ungarischen Filmkunst
zu einem Allgemeinplatz der Kritik geworden, der selbst in den
ungarischen Witzblättern auftauchte./27/ Die zaghaften Gehversuche der
Filmklubmitglieder waren noch nicht die Lösung für die ungarische
Filmkunst, die den Anschluß an den internationalen Film trotz
bedeutender Einzelleistungen der bereits etablierten Regisseure,
hoffnungslos verloren zu haben schien. József Darvas sagte auf der
konstituierenden Versammlung des Filmkünstlerverbandes 1959, man lebe
in einem "Zeitabschnitt der Grauheit"./28/
Das Jahr 1961 brachte dann eine grundsätzliche Änderung. In diesem Jahr
entschied der stellvertretende Kultusminister György Aczél, aus dem
Filmklub der jungen Leute einen "Musterbetrieb" der ungarischen
Filmproduktion zu machen. Die neuen Hoffnungsträger waren die
Mitglieder der Absolventenklasse der Hochschule für Bühnen- und
Filmkunst. Diesen jungen Regisseuren und Kameramännern sollte Geld zur
Produktion von Kurzfilmen zur Verfügung stehen, um in diesem weniger
kostspieligen und für Experimente besser geeigneten Genre ihre Versuche
zu starten.
2.2. Die Neuorganisation
1961 trat die Absolventenklasse Félix Máriássys von der Hochschule für
Bühnen- und Filmkunst geschlossen ins BBS ein. Dies war die Klasse von
István Szabó, von Zsolt Kézdi Kovács, István Kardos, Judit Elek, Pál
Gábor, Zoltán Huszárik, János Rózsa. Mit ihnen arbeiteten - obwohl
nicht aus der Máriássy-Klasse stammend - István Gaál, Sándor Sára und
Ferenc Kósa zusammen.
Laut den Erinnerungen István Szabós ging diesem Eintritt ein Gespräch
der gesamten Klasse mit György Aczél voran. Aczél soll in diesem das
Anliegen der Kulturpolitik geschildert haben, die etablierten "Alten"
des ungarischen Films mit dem gleichzeitigen und einheitlichen
Auftreten einer neuen und zahlreichen (die Máriássy-Klasse war jene mit
der größten Mitgliederzahl seit der Gründung der Hochschule)
Regiegeneration zu konfrontieren./29/
Das BBS erfuhr eine umfangreiche und aktive Unterstützung vom
Ministerium. Der stellvertretende Minister Aczél traf die jungen
Regisseure mehrere Male und bot ihnen nicht nur die Möglichkeit eines
Experimentalstudios und die nötigen finanziellen Mittel, sondern "er
lenkte diese Gruppe auch in eine ganz bestimmte Richtung."/30/
Ferenc Kardos formuliert die Motivationen der an der Neuorganisation
Beteiligten: "Zwei persönliche Interessen haben sich im Grunde
getroffen: das Interesse unserer Generation, daß wir uns ausdrücken,
etwas machen können, und das Bedürfnis und die Erwartung der
Kulturpolitik ... Die ungarische Filmproduktion war einfach veraltet.
Die Filmproduktion war schwerfällig, ihre ästhetischen und
produktionstechnischen Krankheiten hat sie noch aus der Vorkriegszeit
geerbt, so geriet sie in eine chaotische Situation und bedurfte einer
frischen Bluttransfusion. Dies hat die Kulturpolitik erkannt und sie
haben uns eingesetzt, damit wir diese Aufgabe erfüllen."/31/
Mit dem Eintreten der neuen Mitglieder kam es auch zu einer
Umstrukturierung des BBS. Mit der Ausarbeitung des neuen Statuts, das
sich nun verstärkt auf die BBS-eigene Filmproduktion bezog, wurden Pál
Gábor und István Gaál beauftragt. Dieses Statut war fast 10 Jahre
gültig.
Das Ziel des Studios war nicht nur "...unter Benützung der vom Staat
zur Verfügung gestellten materiellen Mittel..."Drehbücher zu besprechen
und Filme herzustellen, sondern auch die theoretische Weiterbildung und
das "politisch-gesellschaftliche Leben der Film- und Fernsehkünstler
durch die Organisation von Zusammenkünften und Debatten, das Einladen
heimischer und ausländischer Künstler, Politiker und Dozenten" zu
organisieren. Und ganz allgemein "den Kontakt der jungen Film- und
Fernsehkünstler mit der Ganzheit der Gesellschaft..." zu fördern./32/
Wie István Nemeskürty in seinem Werk Wort und Bild
bemerkt, war das BBS keineswegs eine gesonderte Institution oder ein
separates Unternehmen. Es war eine vom Staat geschaffene Möglichkeit
der Filmproduktion. Seine Mitglieder gehörten den verschiedenen großen
Studios (ab 1963 unter dem Namen MAFILM) an, waren dort meist als
Assistenten angestellt. Das Neuartige und Exklusive an diesem Studio im
Gegensatz zu den anderen Studios und Produktionsgruppen, die innerhalb
der MAFILM (genauer: innerhalb der "Hunnia") Werkstattarbeit versucht
haben, war die Tatsache, daß das BBS ein ausschließlich experimentierendes Studio war.
Das freie Experimentieren garantierten Vereinbarungen zwischen dem BBS
und dem Ministerium sowie der MAFILM. So versprach das Statut freien
Umgang mit den vom Ministerium zur Verfügung gestellten finanziellen
Mitteln. Das bedeutete zugleich eine schöpferische Unabhängigkeit, denn
die Verantwortung für die Genehmigung der Drehbücher lag voll und ganz
beim Studio. Die Entscheidungen bezüglich der zu realisierenden
Projekte traf - aufgrund der Meinung der Mitglieder - die
Studioleitung. Diese Studioleitung bestand aus fünf Personen, die die
Mitgliedschaft alle zwei Jahre aus ihren Reihen wählte.
Es gab keinen Zwang zur öffentlichen Aufführung für die im BBS
entstandenen Kurzfilme. Dies war einerseits durch den experimentellen
Charakter des Studios bedingt, andererseits war es natürlich auch eine
Absicherung der Kulturpolitik gegenüber eventuellen nicht
wünschenswerten Tendenzen. Wichtig für die Mitglieder war ebenfalls die
Unabhängigkeit von der "Filmfabrik", das heißt, daß die Mitglieder
wegen ihres obligatorischen Assistentenstatusses an der Herstellung
eigener Produktionen nicht gehindert wurden.
Wie bereits erwähnt, etablierte sich im BBS zumindest in der
Anfangsphase, ein spezieller, kollektiver Arbeitsstil. István Szabó
kommentierte: "...an den Kurzfilmen des BBS haben wir nicht voneinander
isoliert gearbeitet, sondern immer im kollektiven Geist im besten Sinne
des Wortes, erfüllt von ständiger Aufmerksamkeit und Verantwortung für
unsere Arbeiten."/33/
Das hohe fachliche Niveau wurde auch von mehreren Seiten unterstützt.
Einerseits durch die theoretische Ausbildung, die eine wichtige
Ergänzung der Ausbildung an der Hochschule war. Die Vorträge, die die
Studiomitglieder gehört haben, beschäftigten sich mit Filmgeschichte,
Ästhetik, bildender Kunst, Musik, Ethik und Philosophie. Zu Sáras
Hochschulzeiten (1953-57) waren westliche Filme im Unterricht verboten,
an manche Bücher kam der interessierte Student auch nur durch die
Privatbibliothek seines Dozenten heran./34/ Die Máriássy-Klasse hatte
schon eine viel umfassendere Ausbildung, in der auch Psychologie zu den
Fächern zählte. Dennoch- so Szabó: "Wir hatten das Gefühl, daß wir die
Prozesse, die innerhalb der Gesellschaft vor sich gingen, nicht mehr
verfolgen können ohne einen gewissen wissenschaftlichen Apparat, und
deshalb luden wir Dozenten ein, die uns halfen, Sachen kennenzulernen,
für die an der Filmhochschule keine Möglichkeit bestand... Wir haben
uns über die Probleme der Gesellschaft unterhalten, denn damals war
dafür eine ernsthafte Möglichkeit vorhanden. Und wir luden Menschen
ein, die unter den gegebenen Umständen ehrlich waren."/35/
Neben den Filmvorführungen des Filmklubs sah man sich auch aus
filmgeschichtlichen Gesichtspunkten wichtige Archivfilme des
Filminstituts an, organisierte Treffen mit Michail Romm, Grigorij
Tschuchrai, Henri Colpi, George Sadoul u.a. Der Filmkünstlerverband
ermöglichte den Mitgliedern auch Studienreisen ins Ausland: in die DDR,
Polen, die Sowjetunion, aber auch nach Italien (z.B. István Gaál) oder
Frankreich (István Szabó, Sándor Sára u.a.). Das frühe BBS verfolgte in
der theoretischen Ausbildung ähnliche Ziele, wie der Filmklub Bazins in
Paris, und brachte auch eine Generation von Filmemachern hervor, von
der es dann später hieß, "der Film ist ihre Muttersprache".
Im Laufe der sechziger Jahre wuchs dann die Mitgliederzahl des BBS
kontinuierlich, während die finanziellen Mittel und die
Produktionsbedingungen gleich blieben. (1970 hatte das Studio 80
Mitglieder und produzierte 8 Filme.) Das Mißverhältnis bestand aber
nicht nur zwischen Mitglieder- und Produktionsanzahl. Auch Ziele,
Auffassungen divergierten mit der Zeit immer mehr auseinander. Der für
den Anfang der sechziger Jahre gültige Arbeitsstil war nicht mehr
aufrecht zu erhalten. Ende der sechziger Jahre war es aufgrund der
komplizierten Probleme im organisatorischen und im kreativen Bereich zu
einer Krise im BBS gekommen. Eine Neuorientierung, das Entwerfen neuer
Konzepte war nötig geworden./36/
2.3. Künstlerische Tendenzen und Ziele im BBS bis Mitte der sechziger Jahre
Bemerkenswert ist, daß im Gründungsstatut des BBS aus dem Jahre 1961 keine künstlerischen
Ziele formuliert wurden, und es auch sonst keine Schriften, Äußerungen
des BBS aus dieser Zeit gibt, die man als "Manifest" oder
künstlerisches Programm ansehen könnte. Dies blieb im Grunde bis 1969
unverändert, bis die Gruppe um Ferenc Grunwalsky mit ihrem Programm
"Für eine soziologische Filmgruppe!" auftrat./37/
Robert Bán
hob hervor: "...innerhalb des BBS gab es nie und gibt es auch heute
keinen manifesten Geist, keine kohäsive gemeinsame Auffassung, dies
zeigen im übrigen auch die Werke. Die Auffassung der Filme Kósas und
Szabós, Sáras oder Kardos', die Art ihrer Annäherung an die
Wirklichkeit und nicht nur ihre formalen Zeichen sind recht weit
voneinander entfernt."/38/
Setzt man die Äußerung Francois Truffauts über das ästhetische Programm der nouvelle vague
daneben, werden Ähnlichkeiten deutlich. Truffaut sagte: "Die nouvelle
vague hatte kein ästhetisches Programm: sie war einfach ein Experiment,
jene Unabhängigkeit wiederzuerlangen, die der Film um 1924 herum
verlor..."/39/ Und: "Was uns verbindet, ist rein äußerlich. Das
betrifft die Art und Weise die Dreharbeiten anzugehen. Aber in
ästhetischer Hinsicht unterscheiden wir uns sehr. Schaut man sich diese
jungen Cineasten und ihre Filme an, so stechen besonders die
unterschiedlichen Konzepte und Ideen ins Auge."/40/
Nichtsdestotrotz gab es im BBS Anfang und Mitte der sechziger Jahre
(also vor einer verstärkten Orientierung auf den Dokumentarfilm)
durchaus ein ungeschriebenes "inneres Programm", das auf die Einhaltung
eines sehr hohen fachlichen Niveaus zielte und sowohl "aus ästhetischer
Hinsicht ... als auch hinsichtlich der ... Aussage" einen hohen Maßstab
aufstellte./41/
Die BBS-Gruppe führte außerdem als erste Generation von Filmkünstlern
in Ungarn eine intensive Auseinandersetzung mit den gerade aktuellen
Strömungen der westeuropäischen Filmkunst. Der Nachwuchs im BBS hatte -
wie Ervin Gyertyán schreibt/42/ - vor allem zwei Intentionen. Erstens,
Teil des weltweiten Modernisierungsschubs in der Filmsprache zu sein,
und zweitens, sich mit dem eigenen Ungarntum, dem Leben unter
ungarischen Verhältnissen auseinanderzusetzen und so auch in der
Filmkunst das vom Ausland Gelernte in ungarischen Verhältnissen
anwenden.
2.3.1. Die Vorbilder
Nach ihren Vorbildern
befragt nennen István Szabó und Sándor Sára 1967 in einem gemeinsamen
Interview/43/ eine Vielzahl von Namen und Filmen, durch die sie sich
beeinflußt fühlen. Natürlich ist hier der italienische Neorealismus (de
Sica) zu finden und die Filme Félix Máriássys, der ab der Mitte der
fünfziger Jahre den neorealistischen Einfluß in Ungarn in Filmen wie
"Budapester Frühling" (Budapesti tavasz, 1955) oder "Ein kleines
Helles" (Egy pikoló világos, 1955) umsetzte/44/. Szabó und Sára
erwähnen aber auch Eisenstein, den polnischen Film (Wajda, Polanski),
Bunuel, Fellini und Bergman, aus der französischen nouvelle vague Truffaut und Resnais.
Da bis Ende der 50er Jahre mit Ausnahme des Neorealismus fast überhaupt
keine ausländische Einflüsse nach Ungarn gelangt sind, war die
Zuwendung zu bekannt gewordenen ausländischen Filmen und Tendenzen ab
1960, als es möglich wurde, um so heftiger. Anfang der sechziger Jahre
wirkten in Ungarn gleichzeitig mehrere Modernisierungseinflüsse, von
denen die Wirkung der französischen nouvelle vague stellenweise nur noch schwer zu trennen ist: die New Yorker Schule, das englische free cinema und besonders der Einfluß Antonionis, der sich mitunter am stärksten zeigte und neben der nouvelle vague am meisten diskutiert wurde (insbesondere im Stil von Miklós Jancsó und Károly Makk)/45/.
Unter all diesen Einflüssen war aber zweifellos die französische nouvelle vague
am umfassendsten. Sie war jene filmästhetische Strömung, die Anfang der
sechziger Jahre die größte Wirkung auf die Filmkunst insbesondere der
osteuropäischen Länder ausübte. Neben der Tschechoslowakei ist ihre
Wirkung in Ungarn am deutlichsten nachvollziehbar. Nach Truffauts und
Resnais' Sensationserfolg bei den Filmfestspielen in Cannes 1959 bekam
die ungarische Fachwelt recht bald die Filme "Les quatre cent coups"
und "Hiroshima, mon amour" zu sehen, zusammen mit Chabrols Film "Les
cousins", der beträchtlichen Wirbel bei den Zensurbehörden verursacht
hatte und schließlich auch nicht für die öffentlichen Kinos zugelassen
wurde. Die BBS-Gruppe ließ sich vor allem von Truffaut und Resnais
beeindrucken und ein Jahr später nach "A bout de souffle" von Jean-Luc
Godard - zumindest wurde über diese Drei am meisten diskutiert. (Die
ersten öffentlichen Kinopremieren fanden 1960 statt: im Juni "Les
quatre cent coups" und im September "Hiroshima, mon amour"/46/.)
Vereinzelt ließen sich auch Regisseure, die schon länger Filme gedreht haben, von der nouvelle vague, insbesondere von dem eine realistische Tradition weiterführenden cinéma vérité inspirieren. Die massivste und augenscheinlichste Wirkung hatte die nouvelle vague
aber auf die 62er Klasse und die anderen Mitglieder der BBS-Gruppe. Das
"Französische" wurde zum fast ausschließlichen Privileg dieser
Generation.
Verfahren, die man in fast allen Filmen der
BBS-Mitglieder auffinden kann, die subjektive Autorenposition und die
intellektuelle Reflexion, das Aufbrechen der Kontinuität und der
Linearität der Story, der Eklektizismus der Stilmittel, das Häufen von
Perspektiven, das Forcieren der Dynamik sind alle dem französischen
Einfluß zuzuschreiben. Auffallend in dieser ersten Phase ist aber auch
ein anderer Wesenszug, der seine Wurzeln in den eigenen
filmästhetischen Traditionen hat und der für fast alle Werke, für die
Spielfilme wie die Dokumentarfilme zutrifft: die Betonung des
Lyrischen, fast schon Intimen, ein Ästhetizismus in den Bildern und in
der Struktur, das Hervorheben der Komposition. Ebenso ist aber auch
Ironie, spielerischer, "grotesk-philosophischer" Umgang mit den
einzelnen Themen zu beobachten. Besonders dieses Spielerische ist es,
das die erste Phase des BBS auszeichnet. In vielen der Filme heben sich
die Genregrenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm auf. Sándor Simós
Film "Vorder- und Kehrseite" (Színe és fonákja, 1965) war sogar ein
bewußter Versuch, die beiden Genres miteinander zu verschmelzen.
Insbesondere die Favorisierung der Subjektivität kam der jungen
Generation zugute. Sie konnte durch sie die aufzuarbeitende ungarische
Geschichte anhand der eigenen Erlebnisse, Gefühle, Beziehungen
erfassen, auf einer ganz anderen (subjektiven, nicht allgemeinen) Ebene
als der Altmeister Fábri oder Miklós Jancsó, der - einige Jahre älter -
bereits einen anderen Weg der Abstraktion für sich gefunden hatte./47/
Zu einem gewissen Grad kann man heute sicherlich auch den Skeptikern
unter den ungarischen Filmwissenschaftlern zustimmen, die der Meinung
waren (meist aus einigen Jahren Abstand), die nouvelle vague
sei eine kulturelle Mode gewesen, wie die Jeans oder die Beatmusik.
Nützlich, um Dämme zu durchbrechen. Das Programm des "Andersseins"/48/,
das Streben nach Modernität (und das war damals vor allem die nouvelle vague)
war einige Jahre lang genügend, um die verschiedenen Persönlichkeiten
innerhalb des BBS zusammenzuhalten und (wie es Gyula Maár schreibt)
"die weltanschaulichen und stilistischen 'Basaltblöcke' der ungarischen
Filmkunst (zu) sprengen"/49/. In den allerersten Werken dieser jungen
Regiegeneration ist das Experimentieren mit aktuellen Stilmitteln
demzufolge noch sehr deutlich. Nach der ersten "Tauflut" allerdings,
nach den ersten Langspielfilmen klang die Auseinandersetzung mit der
Form allmählich aus - die individuelle Filmsprache eines jeden
einzelnen war gefunden.
Doch nicht ausschließlich das formale
Experimentieren stand im BBS im Vordergrund. Diese Jugend, die sich
gegenüber internationalen Einflüssen extrem aufgeschlossenen zeigte,
bekannte sich ebenso dazu, aktiver Teil der eigenen (nationalen,
kollektiven, persönlichen) Geschichte und Gegenwart in diesem ihrem
Land Ungarn zu sein. So entwickelten diese jungen Menschen ein
künstlerisches Selbstverständnis, das zu einer Synthese beitrug, die
für die erste Phase des BBS (bis 1967) typisch ist. Hier mischte sich
der von der Cahiers-Gruppe inspirierte Subjektivismus in gleichem Maße
mit dem Anspruch nach sozialem Engagement./50/ Ein ungeschriebenes
Gesetz der Drehbuchauswahl im BBS war es, Themen mit gesellschaftlicher
Relevanz zu wählen und sich nicht mit ausschließlich formalen
Experimenten zu begnügen. Dazu Szabó: "Ich erinnere mich, daß Sára eine
Vorstellung hatte mit dem Titel "Fische", dessen Drehbuch er auch in
Form eines Bildgedichtes geschrieben hatte. Wir haben es nicht
angenommen, weil wir gesagt haben, es handle nicht über Sachen, die die
Welt besonders interessieren würden, es sei ein formales Spiel.. .wir
hielten es für nicht aufregend, nicht gesellschaftlich genug und wiesen
es ab."/51/ Problembewußtsein war ein starkes Charakteristikum der
BBS-Generation. Das zeigte sich in allen ihren Filmen, unabhängig
davon, was ihr Thema war oder welches Genre sie für sich wählten.
Das soziale Engagement gewann zum Ende der sechziger Jahre dann immer
mehr Raum gegenüber dem formalen Experiment, der Anteil der
Dokumentationen an der Gesamtzahl der Produktionen erhöhte sich
ständig. 1968 entstand mit Gyula Gazdags "Auf deinen langen Lauf können
wir immer zählen" (Hosszú futásodra mindig számíthatunk) ein Film, der
bereits auf ästhetische Neuorientierung und auf einen
Generationswechsel innerhalb des BBS hinweist. Ab 1970 übernahm im BBS
endgültig eine neue Generation das Zepter mit einem gänzlich neuen
künstlerischen Programm: György Szomjas, Ferenc Grunwalszky, Gábor Bódy
und andere. Das wichtigste neue Experiment dieser Epoche war der sog. soziographische Dokumentarfilm./52/
Róbert Bán schrieb in einer kritischen Betrachtung über die ersten 15
Jahre des BBS/53/, man hätte das Studio nach einigen erfolgreichen
Filmen zum "kollektiven Wunderkind" der ungarischen Filmkunst
hochstilisiert. Sicher waren in der ersten Phase des BBS die
Voraussetzungen günstig, wie seit langem nicht mehr. Selbst die sonst
wenig zu Schmeicheleien aufgelegte ungarische Filmkritik begegnete den
Filmen der BBS-Mitglieder mit bis dahin kaum gekanntem großen
Wohlwollen.
Es wäre sicherlich eine Überschätzung des Experiments BBS, wenn wir es
zum Ausgangspunkt, zur Quelle einer "filmästhetischen Revolution" im
ungarischen Film ernennen würden. Die Filme im BBS bedeuteten
sicherlich nicht alleine den Anfang einer sprunghaften Entwicklung der
ungarischen Filmkunst. Immerhin gab es auch Regisseure, die außerhalb
des BBS hervorragende Filme produziert haben: Miklós Jancsó, der als
erster der jungen ungarischen Regisseure auf sich aufmerksam gemacht
hatte (1965 in Cannes), Károly Makk oder András Kovács, der mit
"Schwierige Menschen" (Nehéz emberek, 1964) und "Kalte Tage" (Hideg
napok, 1966) Skandalerfolge in Ungarn feierte.
Das BBS war in einer günstigen Produktions- und Entfaltungssituation
eine Möglichkeit , eine Nische, zur rechten Zeit geschaffen. Es
fungierte als kreativer (Frei)Raum und erschuf kreative Räume. Filme im
BBS zu drehen, bedeutete nicht zuletzt kreative Kontinuität von den
Hochschuletüden zum Langspielfilmdebüt.
Anmerkungen
1 Vgl. Grafe, Frieda / Patalas, Enno: Das Alte und das Neue.In:
Ungarische Spielfilme II.1968-69.Hrsg.Verband der deutschen Filmklubs
e.V., Ffm 1969, S.4
2 Szerencsés Károly: Magyarország története a II. világháború után (1945-1975) IKVA Kiadó (Verlag), Budapest 1990 S.149ff
3
Der Wortlaut ist enthalten in: A magyar szocialista munkáspárt
müvelödési politikájának irányelvei, Kap.V. A kulturális munka fö
feladatai. Abschnitt 3. A müvészetekröl .In: Pártdokumentumok az
ideológiai és a kulturális munkáról; Kossuth Könyvkiadó ,Budapest 1962
4
A magyar szocialista munkáspárt müvelödési politikájának irányelvei
Kap.V. A kulturális munka fö feladatai. Abschnitt 3. A müvészetekröl
in:Pártdokumentumok az ideológiai és a kulturális munkáról; Kossuth
Könyvkiadó, Budapest 1962 S. 53 (sofern es sich um Quellen in
ungarischer Sprache handelt, stammen alle Übersetzungen von T.K.)
5 Ebd. S. 55
6
Vgl. A magyar irodalom története 1945-1975 Bd.1 Akadémiai Kiadó,
Budapest 1984 darin: Az irodalmi konszolidáció (1957-1961) S. 165ff
7 Angaben nach: Nemes, Károly. Sodrásban...A magyar film 25 éve-1945-70.Gondolat Kiadó, Budapest 1972, S.135
8 Die Wechselwirkungen zwischen Fernsehen und Filmkunst in Ungarn sind kaum erforscht
9 Angaben nach: Nemes, Károly: Sodrásban... S.106
10
Angaben nach: Magyar Filmtudományi Intézet és Filmarchívum 1957-1982
(Ungarisches Filmwissenschaftliches Institut und Filmarchiv), Budapest
1982 darin: Karcsai Kulcsár, István: Két álmodozó S. 23ff
11 Bis 1965 war Filmkultúra ein internes Blatt der Fachwelt, ab 1965 öffentlich
12
Alle Angaben nach Magyar Filmtudományi Intézet és Filmarchívum
1957-1982, Budapest 1982 darin: Draskovics, Tiborné - Bíró, Gyula: A
filmtudományi Intézet ismeretterjesztö tevékenysége - A Filmúzeum S. 175
13
Vgl. z.B. Nemes, Károly: Dokfilmjeink stílusáról. In: Filmvilág
1962/10, S.21; Nádasy, László: Igazság-e a filmigazság? In: Filmvilág
1964/9 ,S. 1; Bíró, Yvette: Jelenségek rögzítése vagy megfejtése? In:
Filmvilág 1964/10, S. 6
14 Vgl. z.B. Bíró, Yvette :Emlékek
és vágyak költészete. In: Filmvilág 1962/8, S.8; Bíró, Yvette: 400
csapás. In: Filmvilág 1960/10, S.13; Bíró, Yvette: Szerelmem,
Hiroshima. In: Filmvilág 1960/17, S.21
15 Vgl. Garai, Tamás: Az elsö magyar kisfilm-fesztivál. In :Filmvilág 1960/9 máj.1., S.28
16
Vgl. Nemes, Károly: A magyar filmmüvészet története 1957 és 1967.
Magyar Filmtudományi Intézet és Filmarchivum.Filmmüvészeti
köynvtár,Budapest 1978, S. 117
17 Vgl. Werkstattgespräch
mit István Szabó. In: Terézia Kriedemann: Die ungarische neue
Welle.Start einer Regiegeneration im Béla Balázs Studio.Kurzfilme von
István Szabó und Sára Sándor.Magisterarbeit, Humboldt-Universität
Berlin, Seminar für Theaterwissenschaft 1995, S.104f
18 Nach: Nemes, Károly: Sodrásban... S. 106f und S.171f
19 Vgl. Nemes, Károly: A magyar filmmüvészet története...,Budapest 1978, S.37f
20 Vgl.Padányi, Anna: A kamera mögött. Beszélgetés 3 operatörrel. In: Filmvilág 1961/24, S.9
21 Vgl. Nemeskürty, István: Wort und Bild.Die Geschichte des ungarischen Films.Ffm 1980, S.281
22 Vgl. Nemes, Károly. A magyar film története ...,Budapest 1978, S.197
23
Vgl. Durst, György(Hrsg.): Mozgó film különkiadás. A Balázs Béla Stúdió
története (1961-1986), dokumentumgyüjtemény. BBS Budapest 1988
24 Vgl. ebd. S.3
25 Angaben nach Nemes, Károly: A magyar film története...., S.197
26 Vgl. Nemeskürty, István: Wort und Bild..., S.282
27 Vgl. Bán, Róbert: A BBS filmjei, 1968. Als Manuskript im Archiv des Ungarischen Filmwissenschaftlichen Instituts
28 Vgl. Bán, Róbert: A BBS filmjei ...
29 Vgl. Werkstattgespräch mit István Szabó, a.a.O., S. 102
30 Ebd.
31
Durst, György(Hrsg.): Mozgó film különkiadás. A Balázs Béla Stúdió
története (1961-1986), dokumentumgyüjtemény. BBS Budapest 1988, S.12
32
Das Originalstatut von 1961 ist verschollen. Dieses Zitat und die noch
folgenden Angaben entnehmen wir aus der Diplomarbeit von Edit Köszegi
aus dem Jahre 1976, die eine Abschrift des Statutes enthält. Im Archiv
der BBS Foundation, Budapest
33 Vgl István Szabó in: Ungarische Spielfilme. Eine Dokumentation...Essen, 1968 S.40
34 Vgl. Werkstattgespräch mit Sándor Sára.In: Terézia Kriedemann:Die ungarische neue Welle...,Magisterarbeit a.a.O., S. 118
35 Vgl. Werkstattgespräch mit István Szabó.In: Terézia Kriedemann:Die ungarische neue Welle...., a.a.O., S. 104
36
Vgl. die entsprechende Literatur, z.B.: Zsugán, István: A BBS 15
esztendeje; Bán, Róbert: A BBS filmjei; Zalán, Vince: Kritikai
megjegyzések...; Durst, György (Hrsg.): Mozgó film: Különszám: A BBS
története...
37 Vgl. Szociológiai filmcsoportot! In: Durst,György(Hrsg.): Mozgó film különkiadás - BBS, S. 38ff
38 Zitat aus: Bán, Róbert: A BBS filmjei ..,.a.a.O., S. 18
39 Zitiert nach Kovács, András Bálint: Metropolis, Párizs.Képzömüvészeti Kiadó, Budapest 1992, S. 121
40
Nouvelle vague. Zwei oder drei Dinge. Themenabend von arte vom 19.3.95
(Vgl. VHS-Kasette Nr. 489 im Videoarchiv des Instituts für
Theaterwissenschaft/Kulturelle Kommunikation der Humboldt Universität
zu Berlin)
41 Vgl. Werkstattgespräch mit István Szabó, a.a.O., S. 103
42 Vgl. Gyertyán, Ervin: Új törekvések a magyar filmmüvészetben. In: Filmvilág 1966/15 S. 1
43
Vgl. Zsugán, István: Die künstlerische Autobiographie einer Generation.
Interview mit Sándor Sára und István Szabó. In: Hungarofilm bulletin
1967/2, S.18-31
44 Vgl. zu Félix Máriássy und sein
Werk: Szilágyi, Gábor: Életjel. A magyar filmmüészet megszületés
1954-1956. Magyar Filmintézet, Budapest 1994
45 Vgl. Bíró, Yvette: A felszabadulás utáni magyar film és a nyugati filmmüvészet. Im Archiv des Magyar Filmtudományi Intézet
46 Angaben nach Bíró, Yvette ebd.
47
Vgl. István Szabós Umgang mit dem historischen Thema in "Variationen
auf ein Thema" mit dem gänzlich anderen Stil von Miklós Jancsó
48 Vgl. Zsugán, István: A BBS 15 esztendeje, S.29f
49 In: Bán, Róbert: A BBS filmjei..,.a.a.O., S.19
50 Vgl. Zsugán, István: A BBS 15 esztendeje
51 Vgl. A Balázs Béla Stúdió története (1961-1968). In: Durst, György(Hrsg.): Mozgó film különkiadás.A BBS története, a.a.O., S.13
52 Vgl. Szociológiai filmcsoportot! In: Durst,György(Hrsg.): Mozgó film különkiadás. a.a.O.,, S. 38ff
53 Vgl. Bán, Róbert. A BBS filmjei...,a.a.O., 35
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