Report | Kulturation 2/2006 | Kristina Volke | Kunst als Lebensmittel. Anfang oder Ende der Utopie?
| Als
der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg im Dezember des vergangenen
Jahres von seiner Präsidentschaft der Akademie der Künste Berlin
zurücktrat, tat er dies mit Schelte ob verkrusteter Strukturen, in
denen sich der Apparat verzettle, obwohl ihm eigentlich ganz andere
gesellschaftliche Aufgaben zukämen. In einem Radiointerview formulierte
er seine Auffassung von der Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft:
Man bräuchte die Kunst »dann, wenn uns die Stützen von Wert und Glauben
und alles Mögliche abhanden kommen, dringender als sonst«. Das Ganze
verstand er als ein Plädoyer »gegen die Kunst als Kommerzobjekt … und
für die Kunst als Lebensmittel«.[1]
Das von Muschg verwendete Bild, das auch zum Thema der diesjährigen
Landeskunstschau Mecklenburg-Vorpommerns gewählt wurde, ist nicht neu.
Seit Ende der neunziger Jahre geistert es verstärkt durch die
Kunstwelt. Besonders häufig trifft man es in der Kulturpolitik, die es
den Kameralisten und Finanzverwaltern entgegen hält, wenn sie dem
Kulturstaat Deutschland eine weitere seiner kulturellen Institutionen
streichen wollen. »Kunst als Lebensmittel« ist das Gegenteil zu Heiner
Müllers Behauptung »Kunst ist Luxus« – eines der Zitate, die man trotz
aller Verehrung für den großen Dramatiker nie auf kulturpolitischen
Veranstaltungen treffen wird, weil man inzwischen fürchten muss, dass
die Kämmerer, Müller auf den Lippen, fröhlich den Rotstift walten
lassen.
Seit langem ist aus der reichen kulturellen Infrastruktur
Deutschlands ein Erbe geworden, das man sich nicht mehr leisten kann,
weil die Kassen der Länder und Kommunen leerer werden. Das galt bisher
vor allem für Ostdeutschland, doch sind es nach dem Umbau der neuen
Länder nun die alten, in denen der Aderlass an die Substanz geht. Das
Beispiel des Bremer Theaters weist als jüngstes darauf hin, nur dass
hier keiner so schnell vom Verlust »kultureller Substanz« spricht wie
im Osten, für den der schwergewichtige Terminus qua
Vereinigungsvertrag[2] erfunden wurde, ohne Einigung darüber, was
künftig darunter zu verstehen sei. Ost und West, so viel steht fest,
müssen um ihre Kultur kämpfen. Dort, wo Kulturdezernenten nicht schon
eingespart wurden, ist das Engagement der kulturpolitisch
Verantwortlichen davon getragen, Kultur und kulturelle Infrastruktur
gegen die Haushalts- und Sparzwänge zu verteidigen – nicht selten mit
der Behauptung, dass Kunst Lebensmittel und nicht Sahnehäubchen, oder,
wie der kürzlich verstorbene Altbundespräsident Johannes Rau es 2003
formulierte, »nicht die Sahne auf dem Kuchen, sondern die Hefe im
Teig«[3] sei. Damit ist das Problem allerdings schon benannt: Bislang
ist es eine Behauptung, und mit der ließ sich noch kein Zwang abwenden.
Was muss passieren, damit die Behauptung in ein Argument gewandelt
wird, das den Begehrlichkeiten standhält?
1| Kultur für alle? Elite für alle!
Im Spätherbst 2005 gerieten Europas Vorstellungen von einer
behaglichen, politisch korrekt eingerichteten Welt innerhalb seiner
Grenzen ins Wanken. In den Pariser Vorstädten stürmten Jugendliche aus
muslimischen Elternhäusern die Straßen, zündeten Autos an, zerstörten
Einkaufscenter, Bushaltestellen, Kindertagesstätten, um die gegen ihr
Schicksal ignorante französische Regierung zum Kampf zu fordern. Zum
gleichen Zeitpunkt wurde in Vitry sur Seine, der südlichen Banlieue,
ein Museum für zeitgenössische Kunst eröffnet. Das Musée d'Art
Contemporain (MAC) liegt im Département Val-de-Marne (VAL), sechs
Kilometer von Paris entfernt, und mitten im mattgrauen Vorstadtgürtel
der leuchtenden Metropole. Auch hier tobte ein Straßenkampf. Vitry hat
zirka 60.000 Einwohner, die meisten von ihnen leben in Wohnhochhäusern,
die in Frankreich nicht »Arbeiterschließfächer«, sondern
»Kaninchenställe« genannt werden. Kunst ist hier alles andere als
selbstverständlich. Bis zum Museumsneubau war Jean Dubuffets Plastik
»Chaufferie avec Cheminée« auf einem Kreisverkehr die einzige weit und
breit. Heute ist der Kreisverkehr Vorplatz des MAC/VAL, dessen
zeitgenössische Werke auf eine Sammlung zurückgehen, die in der
hiesigen Präfektur auf Initiative ihres ehemaligen Präsidenten Michel
Germa, einem passionierten Laien, angelegt wurde. Es handelt sich um
französische Kunst seit 1950, besonders Malerei, die bisher an
Betriebe, Krankenhäuser oder das Gefängnis ausgeliehen wurde. Dass die
Sammlung von mehr als eintausend Werken hochwertig ist, beweisen nicht
nur die versammelten Namen von Dubuffet bis Buren, sondern auch das
finanzielle Engagement des Kulturministeriums und die Tatsache, dass
das MAC/VAL zum Verband der französischen Nationalmuseen, den Musées de
France, gehört.
Man sagt, Architekt Jacques Ripault hätte das Museum als
»Anti-Guggenheim« konzipiert[4]. Viel näher liegt der »Anti-Louvre«,
denn erst mit dem Nationalheiligtum der Franzosen vor Augen lässt sich
ermessen, was die schmucklosen, kargen Fassaden des niedrigen Baus
bedeuten, der sich klar gegen die hohen Plattenbauten ab- und das
Terrain »besetzt«, der mit Glaswänden unverstellte Einblicke in die oft
als elitär wahrgenommene Welt der Kunst ermöglicht. Wer diese
architektonischen Zeichen nicht zu lesen vermag, soll durch das
außerdem im Gebäude befindliche Kino, die Bibliothek oder das
Restaurant ermutigt werden einzutreten. Im Museum erklären acht junge
Ausstellungsbetreuer, was es mit der gezeigten Kunst auf sich hat. Sie
sind alle verschiedener Herkunft und vom Museum im nahen Stadtumfeld
rekrutiert. Es wird kein Wissen vorausgesetzt, keine Ehrfurcht vor der
Kunst. Wenn das Konzept funktioniert, dann werden es vor allem die
Bewohner Vitrys sein, die sich im Museum einfinden.
Noch ist offen, ob diese Rechnung aufgeht. Vorerst lässt sich
sagen, dass die Scheiben während der Unruhen ganz blieben. Man darf
vermuten, dass das Museum hier der einzige Ort ist, der sich in dieser
Weise um die Menschen bemüht, der auf Augenhöhe ihre Bedürfnisse ernst
nimmt und ihnen Angebote unterbreitet. Ob es am Ende auch etwas mit der
Kunst zu tun hat, ob sie das Leben der Menschen in der Banlieue
verändern wird, wagt niemand zu prognostizieren, der sich nicht totaler
Naivität beschimpfen lassen will.
Die Haltung hinter diesem Konzept ist mit zwei Gewährspersonen im
Umfeld des Museums zu beschreiben. Der eine ist Jean Dubuffet, der
meinte, dass Kunst überall dort auftauchen müsse, wo man sie am
wenigsten erwarte. Der andere stammt aus einer anderen
Kulturinstitution der Banlieue: Antoine Vitez deklarierte im nur wenige
Kilometer entfernten Théâtre des Quartier d’Ivry einst, sein Theater
solle »élitaire pour tous«, elitär für alle sein.
Deutsche Kulturpolitik wird seit Jahrzehnten von Slogans wie
»Kultur für alle« und »Kultur von allen« geprägt. In den siebziger
Jahren der Bundesrepublik müssen sie wie Schlachtrufe geklungen haben
mit dem Ziel, die Welten der Kunst für alle zu öffnen. Die Soziokultur
ist eine Erfindung dieser Zeit, und sie hat tatsächlich zu einem neuen
Kulturverständnis geführt. Als Antwort auf den Impuls, den
gesellschaftlichen Eliten den Alleinanspruch auf Kultur streitig zu
machen, ist sie jedoch das genaue Gegenteil zur französischen
Denkrichtung, da sie nicht die hohe Kunst für die Massen öffnet,
sondern das »Soziokulturelle« erfand, um die spezifischen
künstlerischen und kulturellen Ansprüche der Massen zu befriedigen. In
dieser Zuspitzung war es selbstverständlich nie gemeint, auch ist es
dabei nicht geblieben. Zu konstatieren bleibt, dass weder Frankreich
noch Deutschland ihre großen Utopien von der kulturellen Wirkungsmacht
verwirklichen konnten. Dort ist es der zentralistische Staat, der sich
nie wirklich auf die »Provinz« eingelassen hat, hier ist es eine
kulturelle Vielfalt, die man sich nicht mehr leisten kann. Dies spricht
nicht für Lebensmittel, sondern für Luxus, der gestrichen wird, wenn
die Zeiten härter werden.
Dem entgegen zu wirken, gibt es in Deutschland neuerdings die Idee,
Kultur von der Subvention zur Investition zu erheben. Das Ziel ist
deutlich: Wie zuletzt das Koch-Steinbrück-Papier und die
EU-Rahmenvereinbarungen zeigten, sollen zur Rettung der Staatsfinanzen
Subventionen abgebaut werden. Investitionen indes sind zukunftsträchtig
weil Mehrwert und Gewinn bringend. Als Argument in der Sache dient,
dass Kultur eine Investition in die Zukunft Deutschlands und seiner
Bürger sei. Diese Vermischung von betriebswirtschaftlichen und
kulturellen, sagen wir lieber moralischen, da den ideellen Wert
diskutierenden Begriffen, ist jedoch problematisch. Auch Muschg hatte
argumentiert, Kunst gewinne immer dann an Relevanz, wenn »die Stützen
von Wert und Glauben« abhanden kämen. Als Beleg führte er an, dass die
»Rückkehrer 1945-46 (...) geradezu kunst- und bildungshungrig« waren.
»… man hat in Ruinen Theater gespielt. Das ist kein Widerspruch«.
Längst ist es Zeitgeist, den Verlust von demokratischen
Wertesystemen, von Verhaltens- und ethischen Codices, darunter die der
Religionen und des Glaubens, zu konstatieren. Der Sieg der wert- und
konsensfreien Konsumgesellschaft ist das Horrorszenario, das uns
einholt, sobald eine neue Katastrophe in Sicht ist. Wie Muschgs
Beispiel der deutschen Nachkriegszeit zeigt, ist da viel Wahres dran.
Nur, so absolut, wie es Kulturleute gerne setzen, ist es bei weitem
nicht.
Kultur gegen den Verfall zu setzen, ist ein zutiefst
bildungsbürgerlicher Impuls. Und es gehört zu den stärksten deutschen
Utopien, dass Kunst und Kultur als Heilmittel gegen die Verrohung,
gegen das Böse, gegen die Barbarei wirken könnten. Dies ist
begriffsgeschichtlich so angelegt. Wir hören deshalb immer wieder, dass
man von den Künsten lernen könne, »was es eigentlich heißt, mit
Pluralität in der Welt umzugehen, mit einer Pluralität von
Wirklichkeitsverfassungen, Wirklichkeitsanforderungen,
Wirklichkeitssichten«.[5] Vieles spricht dafür. Kulturell und
künstlerisch früh gebildete Kinder haben nachweislich bessere soziale
Kompetenzen als andere, sie sind intelligenter, schneller, offener. Der
Umgang mit Kunst kann zu all dem »erziehen«. Genau deshalb gibt es die
Slogans von der Kultur »für alle« und »von allen«. Oder eben Kunst und
Kultur als Investition oder Lebensmittel. Nur, nicht allein Kunst und
Kultur befördern diese Werte. Man weiß zum Beispiel vom Sport, dass er
dasselbe bewirken kann, besonders, wenn er in Vereinen, also in
Gemeinschaften ausgeübt wird. Es braucht nicht viel, um zu sehen, dass
er zugleich viel breitenwirksamer und in der Mehrheit der Gesellschaft
stärker akzeptiert ist.
Naturgemäß hören »Kulturleute« das nicht gern, denn der Vergleich
scheint den »Kulturkürzern« in die Hände zu spielen. Und doch liegt
hier die Krux der gesamten Diskussion. Bislang sind die Behauptungen
vom Wert der Kultur eine Beschwörung, von der man hofft, sie entfalte
allein durch den Wortklang genug Magie, um andere zu erfassen. Denn
während Künstler, Kulturvermittler und Kulturpolitiker zurecht darauf
verweisen, dass die Beschäftigung mit den Künsten sehr wohl Gewinn
bringt (und damit den Investitionsbegriff zu bestätigen scheint), da
sie die Kreativität und die Intelligenz entwickeln hilft, soziale
Kompetenzen stärkt und wer weiß was noch für das geistige Wohlbefinden
der Menschen tut, gibt es außerhalb der ohnehin kulturbeflissenen
Schichten immer noch viel zu wenige, die daran teilhaben, die Kunst als
etwas betrachten, das mit ihrem Leben zu tun hat, oder gar als etwas
Substantielles. Denn hierin liegt das große Missverständnis: »Kunst als
Lebensmittel« ist keine Beschreibung eines Ist-Zustands, sondern es ist
eine Herausforderung, eine Utopie, bis zu deren Erfüllung noch
Grundsätzliches geschehen muss. Wer Lebensmittel herstellen oder
bewahren will, muss überzeugend darstellen, dass das Produkt mehr ist
als Luxus, den sich Leute leisten, die »keine wirklichen Probleme«
haben. Und dabei hilft nicht die Wiederholung der immer gleichen
Behauptungen, sondern das konkrete, lokal gültige, regional verankerte
Argument, das das Potential der Künste, Lebensmittel zu sein, in
Realität verwandelt. Gerade weil die Kulturlandschaften Deutschlands
bedroht sind, braucht es die Einsicht, dass es nicht um den Erhalt des
Status Quo gehen kann, sondern nur um neue Ideen davon, was Kunst und
Kultur in der Gesellschaft sein wollen. Es geht um nicht weniger als um
Kunst und Kultur in den und trotz der zahlreichen Krisen, in denen sich
Deutschland wähnt.
2 | Ostdeutsche Paradigmenwechsel: Kultur als Intervention in der gesellschaftlichen Krise
Bezeichnenderweise lassen sich gerade in Ostdeutschland, wo es mehr
Menschen »mit wirklichen Problemen« zu geben scheint als anderswo,
Anhaltspunkte finden, dass hier ein Wandel stattfindet, der Kunst und
Kultur in neue Zusammenhänge stellt – und dem Wort von »Kunst als
Lebensmittel« eine Dimension verleiht, die mehr ist als Wunschdenken.
Ostdeutschland ist, darauf verweisen zahlreiche Analysen, eine
Region, in der geläufige Entwicklungsmodelle nicht mehr greifen.
Abgesehen von einigen wenigen Zentren sind die fünf neuen Länder von
wirtschaftlicher Unselbständigkeit, enorm hohen Arbeitslosenzahlen, von
anhaltender Abwanderung der jungen und mittleren Generation
gekennzeichnet, in deren Folge Städte schrumpfen, ländliche Regionen
leer fallen oder überaltern und öffentliche Infrastruktur zunehmend
untragbar wird. Von einer schnellen Angleichung der Lebensverhältnisse
wird längst nicht mehr gesprochen, und blühende Landschaften beschämen
nur noch den, der das Bild bemüht. Nach wirtschaftlichen und
demographischen Zahlen ist Ostdeutschland die Banlieue des Westens, die
Verliererregion, in der Kultur nicht das einzige ist, das nicht mehr
finanzierbar ist. Zu schlussfolgern, dass sie deshalb nicht mehr
existiert, wäre jedoch ein fataler Trugschluss, und das, obwohl die
Liste der geschlossenen Theater, Museen, Jugendtreffs, Kulturhäuser und
Bibliotheken lang ist. Die Konjunktur, die Kunst und Kultur seit mehr
als einem Jahrzehnt in den neuen Ländern erfährt, ist beachtlich und
geht dabei zunehmend über die üblichen Standort- und
Tourismusdiskussionen hinaus.
Vor allem im Bereich des Theaters zeichnen sich in den letzten
Jahren Tendenzen ab, die für einen kulturellen Paradigmenwechsel
sprechen[6], dem auch angesichts der Argumentationslücken, in die Kunst
und Kultur ob leerer Kassen geraten sind, nicht genug Beachtung zuteil
werden kann. Im Moment geschieht das fast außerhalb der
kulturpolitischen Wahrnehmung, doch dürfte das nur eine Frage der Zeit
sein. Eine Ausnahme stellt die Neue Bühne Senftenberg dar, die 2005
zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter als »Theater des Jahres«
erhielt und plötzlich in aller Munde ist. Bevor das so war, übernahm
Intendant Sewan Latchinian das Amt mit dem Ziel, das einstige Theater
der Bergarbeiter in ein Theater zu verwandeln, das den Bedürfnissen
einer »Verliererregion« gerecht werden kann – ein an sich paradoxes
Unterfangen, das die Idee des Stadttheaters völlig auf den Kopf stellt.
Senftenberg verzeichnet 30 Prozent Arbeitslosigkeit und 40 Prozent
Rentner. Selbst das Kino gab vor einigen Jahren den Betrieb auf. Von
einer funktionierenden Stadt oder dem »Städtischen«, das es braucht, um
ein Theater zu tragen, kann also längst keine Rede mehr sein.
Latchinians Konzept wird in der Summe der Einzelteile sichtbar: Die
Neuerfindung des Logos, ein stilisiertes Schaufelrad, wie man es an
Bergbaugeräten findet, die Einführung des »GlückAufFestivals«, das an
alte Bergarbeitertraditionen anknüpft, ein Theaterjugendclub, eine
Kindermusicalgruppe, ein Seniorentheater und Schülerpraktika als
Möglichkeit für alle Bevölkerungsgruppen, selbst Teil des Theaters zu
werden, Kochshows des Intendanten mit einem prominenten Gast, der
kleine, wunderbare Talenteschuppen »Senftenberg lebt!« und eine so
ungeheuerlich große Serie von Neuinszenierungen, die das
»geschrumpfte«, von Abwanderung und »brain drain« gezeichnete lokale
Publikum immer wieder neu ins Theater ziehen sollen, sind Bestandteile
eine Gesamtkonzepts, Theater für die Dagebliebenen zu machen, das
vorhandene Publikum ernst zu nehmen und so eine völlig neue Form des
Stadttheaters zu begründen. Das Ganze ist in der Geste nicht anbiedernd
und auf den vermeintlich den Kulturbedürfnissen von Arbeitern (oder
eben Arbeitslosen) entsprechenden Unterhaltungssektor zielend, sondern
intellektuell, provokant und mit präziser Sprache und entschiedener
Geste. Darüber hinaus überaus erstaunlich ist der Vorgang, dass das
Theater so die Stadt oder das Städtische rekonstruiert und eine
Öffentlichkeit wiederherstellt, die längst verloren schien.
Latchinian ist das prominenteste Beispiel für eine Tendenz, die
belegt, dass in quasi bildungsbürgertumfreien Zonen Stadttheater
möglich ist. Mit ihm wird ein Paradigmenwechsel sichtbar, der alldem
zugrunde liegt: Theater übernimmt eine gesellschaftsbildende Funktion
und erschafft Kommunikationsräume, die quer zu den Medien und konträr
zu den für Ostdeutschland ebenso typischen Nostalgieshows der
Kommerzkultur stehen. Fast scheint sich so durch die Hintertür das
Konzept einer in der Kunst, besonders im Theater, gelebten
Gegenöffentlichkeit wiederherzustellen, wie es für die an
demokratischer Medienöffentlichkeit arme DDR kennzeichnend und für den
gesellschaftlichen Diskurs existentiell war. Als Angelpunkt stellt sich
dabei das Kriterium der Augenhöhe heraus. Nicht das bildungsbürgerliche
Ideal, nach dem die hehre Kunst den tumben Menschen erzieht und
bessert, nicht der international orientierte Kunstdiskurs, der in
deutschen Großstädten ein ebenso international orientiertes,
intellektuelles Publikum anzieht und in den eigenen Dynamiken
Begründung findet, sondern die Aushandlung konkreter regional, sozial
und politisch bestimmter Kommunikationszusammenhänge und -bedürfnisse
bildet eine der wichtigsten Folien erfolgreicher Kulturkonzepte in
Ostdeutschland. Wer hier ostdeutsche Nabelschau vermutet, verkennt
sowohl die künstlerischen Möglichkeiten, die in den anderen, nicht
unbedingt kleineren Maßstäben stecken, als auch die Notwendigkeit
neuer, stichhaltiger Argumente für einen subventionierten
Kulturbetrieb.
Auf der Suche nach Beispielen solcher Tendenzen außerhalb des
Theaters wird es schwierig – und das liegt, wie das Beispiel des
MAC/VAL in Vitry sur Seine zeigt, nicht am Genre. Deutschland, das mit
seiner kulturellen Infrastruktur schnell an die Spitze europäischer
Kulturinstitutionencharts gelangt, besitzt bundesweit mehr als 6000
Museen und mehr als 400 Ausstellungshäuser. Laut Künstlersozialkasse
leben hier rund 55.000[7] bildende Künstler, es existieren unzählige
Kunstvereine. Allein in den Museen zählte das deutsche Institut für
Museumskunde[8] im Jahr 104.450.773 Besuche. Was sich so ultimativ
anhört und, mit dem Verweis, dass deutsche Sportstadien nicht solche
Zahlen aufweisen könnten, ebenfalls gern als Beleg für die
Kunst-ist-Lebensmittel-These genommen wird, verliert bei näherer
Betrachtung jedoch an Glanz. Zum einen muss das gleiche Institut
konstatieren, dass es in den letzten drei Jahrzehnten zwar eine
kontinuierliche Zunahme an Museen, gar einen »Museumsboom« gegeben
habe, die Besucherzahl jedoch nahezu konstant geblieben sei. Dies
spricht nicht dafür, dass Museen an gesellschaftlicher Relevanz
gewonnen haben, sondern für eine Umverteilung der ohnehin
Kunstinteressierten. Mit dem Wissen, dass die Superlativschauen in
Berlin, München, Köln oder Hamburg eher mehr Besucher ziehen, rechnet
sich die Zahl für kleinere und mittlere Museen nach unten. Gewiss ist,
dass der Konkurrenzdruck unter den Museen gewachsen ist, die Mittel
sind es nicht. Zu beobachten sind deshalb eine Reihe »attraktiver oder
sogar spektakuläre Museumsbauten und Ausstellungen mit hoher
Anfangsattraktivität«[9], die auf lange Sicht nicht aufrechterhalten
werden können. Die meisten mittleren und kleinen, aber auch viele große
Häuser sind strukturell unterfinanziert, was zu geschrumpften oder
aufgefressenen Ankaufsetats, zu Personalmangel und Unterbezahlung bei
freien Mitarbeitern und Volontären führt. So lässt sich kaum noch der
öffentliche Auftrag, der mit dem Dreischritt des wissenschaftlichen
Sammelns – Bewahrens – Präsentierens/Vermittelns beschrieben ist,
erfüllen – und dies, obwohl die allermeisten Museen in den letzten
Jahrzehnten fast unbemerkt bewiesen haben, dass sie mit neuen
Rechtsformen, durch Sponsoring und Public Private Partnerships flexibel
auf die neuen Zeiten reagieren können.
Martin Roth, Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen
Dresden, beschrieb das Dilemma deutscher Museen 2003 zum Beispiel:
»Anstatt Museen mit allen Werkzeugen des flexiblen und wirtschaftlichen
Managements auszurüsten, um qualitätsorientierter und effizienter
arbeiten zu können, werden nun die Folterinstrumente der Ökonomie
vorgezeigt und häufig schon angewandt.«[10] Die Allgegenwart des
neoliberalen Kapitalismus ist in der Tat das größte Problem für die
Kultur, die innerhalb der hier geltenden Logik keinen festen Platz hat
und deshalb Rahmenbedingungen unterliegt, unter denen qualitätvolle
Arbeit immer mehr den Zwängen der Ökonomie geopfert wird. Roths Klage
ist deshalb verständlich: »Wie oft habe ich in letzter Zeit meine
japanischen Kollegen beneidet, die zwar auch finanzielle Probleme
haben, aber bei denen kein Politiker daran zweifelt, dass technischer
und gesellschaftlicher Fortschritt nur aus der Tradition erwachsen
kann«. Und doch ist es das Gegenteil dessen, was das Beispiel des
MAC/VAL lehrt. Denn auch wenn es zukünftig darum gehen muss, dass die
Politik andere Rahmenbedingungen und mehr Handlungsfreiheiten schafft,
damit die deutschen Kulturinstitutionen nicht mehr an den kurzen Leinen
einer bürokratisierten Kameralistik ersticken, wäre die Reduzierung der
tatsächlichen Erfordernisse auf diese Art von Marktanpassung auch ein
erhebliches Missverständnis der Situation. Abgesehen davon, dass es
keine sonderlich schöne Vorstellung ist, dass kulturelle Institutionen
nur noch unter den Bedingungen der totalen Ökonomie weiter existieren,
scheint die Umdeutung des Kulturbetriebs, hier des Museums, zur
»Event-Agentur«[11] keine Lösung der Probleme zu bergen. Die
erforderliche Neuorientierung muss vielmehr in einer anderen als der
marktwirtschaftlichen, heißt, in der kulturellen Dimension von Angebot
und Nachfrage gehen. Hier liegt die Herausforderung für Politiker und
für Kulturakteure. Auch in Mecklenburg-Vorpommern. Denn diese zu
bestimmen, kann nur in einem konkreten lokal und regional
ausgehandelten Kontext geschehen, der sich nicht in Tourismus- oder
Wirtschaftsstandortdiskussionen erschöpft. Das gilt für alle
kulturellen Institutionen und, um am Beispiel zu bleiben, sowohl für
Museen, die Institutionen des kulturellen Gedächtnisses einer
Gesellschaft, als auch für die Künstler, die den Anspruch erheben,
innerhalb der Gesellschaft wahrgenommen und als wertvoll empfunden zu
werden. Hierin liegt eine Vision zukünftiger Kulturpolitik: Die Idee
von Kunst und Kultur als öffentlichem Gut unter den Gegebenheiten der
drohenden permanenten Krise neu auszuloten, kann dem Satz »Kunst ist
Lebensmittel« wieder Sinn geben und mehr sein als Sonntagsrede. Dazu
braucht es weit mehr als Besitzstandswahrung. Wir stehen am Anfang,
nicht am Ende des Weges.
Dieser Text ist ein Beitrag zum Katalog der 16. Landesweiten
Kunstschau des Künstlerbundes Mecklenburg und Vorpommern e.V. im BBK
2006.
Anmerkungen
[1] Deutschlandradio Kultur vom 25. 12. 2005: Akademie der Künste
muss sich auf ihren Auftrag besinnen. Interview mit Adolf Muschg.
[2] Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 31. August 1990, Art. 35.
[3] Johannes Rau, Rede auf dem Kongress »Bündnis für Theater« 2003 in Dokumentation des Kongresses vom 14. 11. 2003 in Berlin.
[4] Eberhard Spreng über das Museum im Tagesspiegel vom 6. 12. 2005.
[5] Christina Weiss in ihrer Rede vor dem Kulturforum der Sozialdemokratie Köln e.V. » KULTUR ALS LEBENSMITTEL« am 5. 7. 04.
[6] Eine ausführliche Darstellung des kulturellen
Paradigmenwechsels in Ostdeutschland am Beispiel von Theatern und
Festspielen findet sich in: Kristina Volke: Der Wandel der
Kulturlandschaft. Über strukturelle Krisen und ihre Potentiale zur
Innovation. In: Bahrmann/Links: Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit.
Eine Zwischenbilanz, Berlin, 2005, veröffentlicht auch auf
www.kunstmuseum-thurgau.de. [7] Quelle: www.kuenstlersozialkasse.de, dort
»Versichertenbestand auf Bundesebene nach Berufsgruppen, Geschlecht und
Alter zum 01. 01. 2005«.
[8] Prof. Dr. Bernhard Graf, Leiter des Instituts für
Museumskunde, in einem schriftlichen Statement für die
Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland«: EK-Kultur AU 15/129,
Zusammenfassung der Umfrage Museen und Ausstellungshäuser (Hilmar
Sack), In: Tätigkeitsbericht der Enquete-Kommission »Kultur in
Deutschland«, Berlin 2005.
[9] Dr. Barbara Rommé, Leiterin Stadtmuseum Münster, ebenda.
[10] Martin Roth: Dichter und Denker, Defizite und Debakel. Das
Plädoyer für eine Kulturpolitik, die Kultur als tragende Säule unserer
Gesellschaft begreift – auch in Zeiten des Neoliberalismus. In:
Stuttgarter Zeitung vom 27. 9. 2003, S. 45.
[11] Dr. Cornelia Förster, Direktorin des Historischen Museums Bielefeld, siehe 8.
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