Report | Kulturation 2012 | Tom Mustroph | Zukunft der Vergangenheit
Die Digitalisierung des kulturellen Erbes
| Beispiel
Heratempel: die Ruine des antiken Originals in Olympia. Das
Digitalisierungsprojekt Archeoguide, das sich im Internet u. a. mit
dieser Abbildung präsentierte, wurde im Jahre 2003 abgebrochen.
Unterdessen steigt die Zahl der Treffer zum Sucheintrag »Heratempel
Olympia« bei Google. Startet man Google-Anfragen nach entsprechenden
Web-Einträgen für die Zeit bis Dezember 2001, werden lediglich 83
Ergebnisse angezeigt. Einen wirklichen Boom erfuhr die Digitalisierung
erst vor zwei Jahren. Für 2009 liefert Google 11 900 Treffer. Bei
aktuellen und zeitlich unbeschränkten Anfragen sinkt die Trefferzahl
erstaunlicherweise auf 4590. Grund ist wohl die automatische
Aussortierung mehrfach angezeigter ähnlicher Treffer (alle
Online-Abfragen 26.12.2011).
© Peterotto Ag.
Nackt sind die Säulen, glatt die Kapitelle des Heratempels in
Olympia. Im Gegensatz zum ruinenhaften Original auf dem Peloponnes
präsentieren sie sich in der Demonstrationsversion des
griechisch-deutschen Projekts Archeoguide immerhin in schönster
Unversehrtheit. Man kann sich sogar an das Gebäude heranzoomen,
einzelne Details näher betrachten und die Perspektive wechseln. Wenn es
die Programmierer in späteren Ausbaustufen ermöglichten, mit einem
Mausklick auf die Säulen Informationen über das Material, dessen
Herkunft, die Transportwege und die an der Produktion beteiligten
Arbeiter zu erhalten sowie den ganzen Heratempel in ein soziales,
architektonisches und topografisches Setting einzubetten - inklusive
Verweisen auf weitere Studien - dann wäre man Zeuge und Nutzer einer
sinnvollen Repräsentation von Kulturerbe im Internet.
© Archeoguide
Noch ist es nicht soweit. Gegenwärtig zirkulieren im Netz - außer
dem 2003 abgebrochenen Archeoguide-Projekt - nur Aufnahmen der letzten
übriggebliebenen Säulen des am Anfang des 4. Jahrhunderts bei einem
Erdbeben zerstörten Kultbaus. Ein Google-Treffer führt immerhin zu
einem Foto, das von der Grabungsexpedition unter Ernst Curtius im 19.
Jahrhundert angefertigt wurde und das sich jetzt in den - in einem
Pilotprojekt digitalisierten - Wissenschaftlichen Sammlungen der
Humboldt-Universität befindet. Das ist wenig. Und auch viel.
Die Digitalisierung kulturellen Erbes ist ein noch sehr junger
Trend. Erst im Jahre 2005 startete die EU mit dem Slogan »Europas
kulturelles Erbe per Mausklick verfügbar machen« den konzertierten
Aufbau digitaler Bibliotheken. Sechs Jahre später kreuzt das
Flaggschiff dieser Initiative, die Kulturerbe-Findemaschine Europeana
[http://www.europeana.eu/portal/], allerdings noch immer mit eher
schlaffen Segeln auf dem digitalen Meer. Zwar hat sie nach Eigenwerbung
schon über 20 Millionen Objekte gescannt und fotografiert - davon je
über drei Millionen aus Frankreich und Deutschland. Zum olympischen
Heratempel bietet sie aber nur ein Foto der Ausgrabungsstätte aus dem
Jahre 1897 aus den Beständen des Athener Benaki-Museums an. Gegenüber
fast 12 000 Treffern zum Stichwort »Heratempel Olympia« bei Google ist
dies erschreckend wenig. Eine Tempoverschärfung ist nicht abzusehen.
»Wir wollen langsam, aber gründlich vorgehen«, blickte Günther
Schauerte, Vizepräsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, bei der
Konferenz »Ins Netz gegangen - Neue Wege zum kulturellen Erbe« im
November in Berlin auf die nahe Zukunft der 2009 ins Leben gerufenen
Deutschen Digitalen Bibliothek, den hiesigen institutionellen
Zulieferer der Europeana, voraus. Schauerte konnte noch nicht einmal
einen exakten Starttermin nennen. Schneller sind dezentrale Akteure.
Kulturerbe-Digital, eine gemeinsame Plattform deutscher Bibliotheken,
Archive, Museen und Einrichtungen der Denkmalpflege, listet insgesamt
923 Digitalisierungsprojekte von insgesamt 638 Institutionen auf. In
wöchentlichem Rhythmus kommen neue hinzu.
Das ist erfreulich. Beim Scrollen durch die Liste bietet sich
allerdings nicht das Bild eines gewachsenen Corpus des kulturellen
Erbes, sondern eher der Anblick eines Archipels aus verstreuten und
disparaten Elementen. Die Digitalisierung des Uigurischen Wörterbuchs
an der Universität Göttingen steht neben dem Goethezeit-Portal der LMU
München. Diese interdisziplinäre Vorstellung der Epoche des deutschen
Dichterfürsten ist wiederum nicht mit dem ebenfalls bei
Kulturerbe-Digital gelisteten Projekt der Digitalisierung der
Theaterzettel des Weimarer Hoftheaters verlinkt. Virtueller Nachbar
einer Fachbibliothek Holztechnologie ist die Vasa Sacra, eine Sammlung
beweglicher Objekte in den Kirchen. Aus Angst, potenzielle Diebe auf
die Kulturschätze in den Gotteshäusern aufmerksam zu machen, zögerten
die Sammlungsbetreiber allerdings, Bilder ins Netz zu stellen.
Wem gehört das Kulturerbe?
Dem Digitalisierungswillen mancher Institutionen steht zudem das
gegenwärtige Urheberrecht im Weg. »Ein Großteil des musealen Kulturguts
aus neuerer Zeit unterliegt noch den Schutzfristen und kann daher nicht
in digitalisierter Form in öffentlich zugängliche Datenbanken
eingestellt werden«, betonte der Sammlungsdirektor der Stiftung Haus
der Geschichte Dietmar Preißler auf einer Fachtagung im Oktober 2011.
Wer einen bildlichen Eindruck von den Exponaten haben wolle - und das
sollte das Ziel einer Digitalisierung sein - »muss nach einer
generellen rechtlichen Lösung dieses Problems suchen«, so Preißler, der
eine Novellierung des Urheberrechtsgesetzes fordert. Damit zielt er auf
eine ganz zentrale Frage: Wem gehört das kulturelle Erbe eigentlich?
Gehört es den Einrichtungen, die es bislang bewahrt, aufbereitet,
der Forschung und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben? Den
privatwirtschaftlichen Akteuren, die angesichts der Langsamkeit der
öffentlichen Hand die Digitalisierung vorantreiben und auffindbar
machen? Den Autoren und Schöpfern, deren Erben?
»Google gehört es sicher nicht«, beruhigte Max Senges, Vertreter
des Suchmaschinenriesen, die Teilnehmer des Symposiums »Ins Netz
gegangen«. »Wir wollen nur ein Werkzeug zur Verfügung stellen, das die
Dinge zugänglich macht.« Das klingt defensiv. Was Googles Intentionen
betrifft, mag der Satz sogar stimmen. Was die Auswirkungen angeht,
stimmt er nicht. Wegen der flotten Digitalisierung von Buchbeständen
ist Google in einen Urheberrechtsstreit geraten ist. Und französische
Bibliothekare beklagen angesichts der universitären
Partnerorganisationen des Google-Book-Projekts eine anglo-amerikanische
Dominanz. Vor allem aber Googles Architektur und Geschäftsmodell sorgen
eben nicht für einen fairen Zugang zum kulturellen Erbe.
Der Suchdienst finanziert sich nach eigenen Angaben zu 98 Prozent
aus Werbung. Bei jedem Hinweis auf Objekte des kulturellen Erbes
verdient das Unternehmen also mit und kapitalisiert damit das
Allgemeingut. Das Verfahren »PageRank«, das die Rangfolge der Treffer
auf den Ergebnisseiten bestimmt, bemisst sich an der Popularität der
Seiten. Je mehr andere Websites auf eine Trefferwebsite verweisen und
je hochkarätiger diese Links sind, desto weiter vorn werden die Treffer
präsentiert. Prämiert wird also nicht die Qualität, sondern nur das
Ausmaß des digitalen Besucherverkehrs. Das bedeutet: Populäre Seiten
werden noch populärer, weiter hinten gelistete rücken noch weiter nach
hinten. So kritisiert die an der Universität Namur lehrende
Computerwissenschaftlerin Claire Lobet-Maris in der Aufsatzsammlung
»Deep Search«: »Dieses Phänomen der ›Reichen, die reicher werden‹, kann
insbesondere für neue Qualitätsseiten problematisch werden. Sie können
von Web-Nutzern völlig übersehen werden, weil einfach ihre laufende
Popularität sehr gering ist. Diese Situation ist sowohl für die Autoren
der Website unbefriedigend als auch für die Webnutzer im Allgemeinen.«
Für eine angemessene digitale Repräsentanz des kulturellen Erbes
scheint Google, das derzeit mächtigste Navigationsinstrument im Netz,
daher unzureichend geeignet. Dass die Firma gegenwärtig über zwölf
Millionen Bücher digitalisiert hat, über die Funktion Street View
zumindest die Fassadenansichten der bebauten Welt Europas und
Nordamerikas per Mausklick erfahrbar macht und mit Google Maps und
Google Earth den gesamten Planeten vermisst, ändert daran nichts.
Aufgrund des strukturellen Mangels der kontextlosen, auf Algorithmen
basierenden Suchmaschinen wie Google rücken ältere
Klassifikationssysteme wie Kataloge, thematische Register und
Enzyklopädien daher wieder in den Blickpunkt. So stellte Stefan
Gradmann von der Berliner Humboldt-Universität etwa die kontextuelle
und semantische Sucharchitektur des Europeana Data Model vor. Tim
Berners-Lee, einer der »Väter« des WWW, propagiert seit Jahren ein
»semantisches Web« jenseits von Google, Facebook & Co.
Auch Wikipedia bringt sich ins Spiel. Die Online-Enzyklopädie
startete mit dem Bundesarchiv ein gemeinsames Distributionsprojekt. Das
führte dem Bundesarchiv pro Tag zwei bis fünf neue Nutzer zu. Anfragen
stiegen um mehr als das Doppelte, Einnahmen aus der Gewährung der
Bildrechte auf 193 Prozent. Allerdings führten 95 Prozent aller
Neunutzungen zu Verletzungen der Urheberrechtsvereinbarungen der
Creative Commons. Die Kooperation wurde daher eingestellt.
Als interessantes Sortierungs- und Repräsentationsprinzip stellte
Jürgen Keiper, Leiter der IT Projekte der Deutschen Kinemathek auf der
Konferenz »Ins Netz gegangen« die Arche Noah vor. Dieses »Naturarchiv«
bewahre Informationen ausdifferenziert und kontextualisiert auf. Durch
den Modus der Reproduktion erfolge zudem eine dynamische Sicherung des
- gattungsspezifischen - Informationsbestands.
Stein hält sich länger
Keiper wies mit dem Beispiel der Arche Noah auf ein bislang
ungelöstes Problem der Digitalisierung hin: die Stabilität digitaler
Informationsmedien. Angesichts der rapiden Verfallsfristen von
Informationstechnologie ist es gut vorstellbar, dass die ca. 2500 Jahre
alten Steinbrocken des Heratempels von Olympia ihre um zweieinhalb
Jahrtausende jüngeren Digitalisate überdauern. Zwar lässt sich digitale
Information besser sortieren, transportieren und per Copy & Paste
weiterverarbeiten als die auf Stein niedergelegte Information.
Hinsichtlich der Haltbarkeit scheint das Uraltmedium Stein den
quarzhaltigen Chips aber immer noch weit überlegen.
Um das kulturelle Erbe auch digital sinnvoll nutzbar zu machen,
reicht Scannen allein nicht aus. Aufbewahrungshorizonte müssen
abgesteckt werden. Finanzielle, intellektuelle und symbolische
Interessen von Urhebern, Verwertern, Distributeuren und Nutzern sollten
in Einklang gebracht werden. Die alte Frage, ob Wissen besser in der
korporalen Form einer Enzyklopädie, dem hierarchischen Verweissystems
eines Katalogs, der Machtdispositiven unterworfenen »freien Suche« oder
in einer neuen, kontextuell und semantisch organisierten Infrastruktur
aufbewahrt und zugänglich gehalten werden soll, muss beantwortet
werden.
Der Weg vom Betrachten der abgebrochenen Säulen des Heratempels zum
Flanieren durch ihre virtuelle Komplettrekonstruktion ist lang und
windungsreich.
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