Report | Kulturation 2012 | Dieter Kramer | Waalwege und Wachstumsgesellschaft. Kulturelle Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung
| Der
Bildungsausschuss der Südtiroler Gemeinde Algund (Lagundo) hatte Dieter
Kramer zu einem Vortrag über die Chancen nachhaltiger Entwicklung
eingeladen. Am 19. Oktober hat er im dortigen Thalguterhaus (Casa della
Cultura Peter Thalguter) seine Vorstellungen anhand der nachstehend
wiedergegebenen 9 Thesen vorgetragen und mit Bürgern von Algund
diskutiert. Den Hintergrund für ihr Interesse bildete ein
kulturhistorisches Erbe der Südtiroler, das heute meist touristisch
genutzt wird: die Waal-Wege, Überreste ihrer einst gemeinschaftlich
genutzten Bewässerungsanlagen.
1. Die Waale (aquale, Wasserrinnen) zur Bewässerung von Äckern,
Wiesen und Plantagen sind für Südtirol ein bedeutendes kulturelles
Erbe. Sie sind in manchen Fällen noch genutzt, in vielen Fällen
übergegangen in arbeitssparende Beregnungsanlagen, in anderen Fällen
wegen der Umwelt und als Kulturdenkmal in ihrer Funktion erhalten, in
sehr vielen Fällen aber als Wege für einfache Wanderungen
ein unerschöpfliches Kapital für den Tourismus, freilich weder
nachwachsend noch beliebig vermehrbar (ähnlich wie alpine Wanderwege).
Sie sind wie die Allmenden und Gemeinschaftsalmen meist Zeugnisse von
Gemeinnutzen, von Nutzergemeinschaften mehr oder weniger in Eigenregie
verwaltet, mit oft über lange Zeiten überlieferten, vielfach recht
komplizierten Regelungen der geteilten Nutzung.
2. Elinor Ostrom, Wirtschaftsnobelpreisträgerin von 2009 hat für
die zeitgenössische ökonomische und politische Theorie die „Commons",
den verwalteten Gemeinnutzen wieder entdeckt. Sie hat gezeigt, wie auch
heute gemeinschaftliches Eigentum von Nutzerorganisationen erfolgreich
verwaltet werden kann.
3. Als Tragedy ofthe Commons (Tragödie der Gemeindewiesen)
benannte der Biologe Garrett Hardin 1968 die von Wirtschaftstheoretiker
und Politikern gern übernommene These, dass gemeinschaftlich genutztes
Eigentum aufgrund des Egoismus der Beteiligten dem Verfall preisgegeben
sei. Aber die in Europa seit Jahrhunderten betriebenen Formen des
gemeinschaftlichen Umganges mit Ressourcen wie Hochweiden,
Bewässerungswasser, Wald, Fischgründen und Wasserkraft beweisen das
Gegenteil. Staatliche Kontrolle der Ressourcen ist eines der immer
wieder zur Überwindung vorgeschlagenen aktuellen politischen Rezepte.
Das aber ist, nicht zuletzt wegen der sich schnell einschleichenden
Korruption, illusionär. Der andere empfohlene Ausweg ist die
Privatisierung. Aber ein „Wettbewerbsmarkt - das Paradigma privater
Institutionen - ist selbst ein öffentliches Gut. ... Ohne zugrunde
liegende öffentliche Institutionen, die ihn aufrechterhalten, kann kein
Markt lange existieren." Zudem schließt Privatisierung privaten Raubbau
nicht aus. Auch der Markt muss kontrolliert werden.
4. Für Ostrom überraschend hoch ist die „Regelkonformität" bei der
Verwaltung von Allmend-Ressourcen. Das wertet die „soziale Kontrolle"
auf. „Die gegenseitige Überwachung trägt zwar Züge eines Dilemmas
zweiter Ordnung, doch gelingt es den Aneignern irgendwie, das Problem
zu lösen. Ferner sind die festgesetzten Bußgelder in diesen Szenarien
überraschend niedrig." Bei Normverletzungen drohen „sowohl innere
psychische als auch äußere soziale Kosten". In der Vergangenheit waren
solche Formen des kollektiven Handelns in der Regel mit Festen und
„brauchtümlichen" Formen verbunden.
5. Auch für die Sozialpolitik sind Allmend-Ressourcen nicht
uninteressant. Andre Habisch hat im Zusammenhang mit dem
Bürgerschaftlichen Engagement auf das Soziale Kapital hingewiesen, das
so aktiviert werden kann. Netzwerke, „runde Tische" oder
gesellschaftliche Institutionen, wie sie beim Management von
Allmend-Ressourcen wichtig sind, ermöglichen auch bei sozialen
Problemen kontrollierbare Selbstbindungjenseits von Markt und Staat. Er
zitiert ein eindrucksvolles Beispiel: In den Niederlanden haben sich in
den 1980er und 1990er Jahren bei der Arbeitsmarktreform beim
„Polder-Modell" die Sozialpartner und die Regierung zu koordinierten
Reformen verpflichtet. „Dazu mussten im Zeitablauf von den Partnern
unabhängig voneinander erhebliche Vorleistungen erbracht werden". Ein
festes Netzwerk aller Beteiligten trifft sich für solche Absprachen und
deren Kontrolle „in Anwesenheit der Königin und der Gattinnen":
„Ein Vertragsbruch hätte in dieser Runde zu einer äußerst peinlichen
Situation für den Vertreter der jeweiligen Seite geführt, was eine
informelle, aber deshalb nicht weniger wirkungsvolle
Sanktionsmöglichkeit bildete."
6. Diskutiert wird derzeit über Messgrößen, mit denen die üblichen
Kriterien für Wohlstand ersetzt werden können, die sich auf das
Bruttosozialprodukt beziehen. Vom „Bruttosozialglück" wird in dem
Himalaya-Königreich Bhutan gesprochen. Die Enquete-Kommission
„Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem
Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen
Marktwirtschaft" des Deutschen Bundestages soll seit 2009 die
„grundlegende Diskussion über gesellschaftlichen Wohlstand,
individuelles Wohlergehen und nachhaltige Entwicklung" aufgreifen.
„Buen Vivir" ist das Leitkonzept der Verfassung von Ecuador von 2008.
Im neuen Grundgesetz von Bolivien ist von „Vivir Bien" die Rede, also
vom guten Leben. Das alles ist keine Romantisierung von Zuständen der
Vergangenheit, sondern der Versuch, unter den heutigen
Lebensbedingungen Lebensqualität ins Zentrum der Gesellschafts- und
Wirtschaftspolitik zu stellen.
7. Zur großen Familie der „Gemeinnutzen" gehören die „digitale
Allmende", neue Formen von Nutzergemeinschaften, Selbsthilfegruppen,
Gemeinschaftsgärten, Netzwerke, aber auch Genossenschaften. Lokale
Energiegenossenschaften zur Eigenversorgung mit erneuerbarer Energie,
Fischereigenossenschaften und viele andere gehören dazu. „Energiewende,
Finanzkrise und Geldmangel der Kommunen lassen kollektive
Selbsthilfefirmen gedeihen." Zwar sind auch Genossenschaften gehalten,
rentabel und auch mit Gewinn zu arbeiten (genaueres regelt die
jeweilige Satzung), auch Wachstum ist nicht ausgeschlossen, aber sie
sind immer abhängig von den Interessen der Beteiligten.
8. Gemeinnutzen-Anteile können nicht beliebig verkauft werden. „In
dem Grundsatze, dass Marknutzungen nicht zur Bereicherung bestimmter
Personen dienen sollten, liegt ein oft übersehenes Moment, das zu
pfleglicher Benutzung und Schonung der Waldungen führen musste." Der
Handel mit Nutzungs- oder Emissionsrechten für Gemeinnutzen hat
kontraproduktive Nebenwirkungen. Wenn z.B. im Nordatlantik den Fischern
handelbare Fangquoten zugeteilt werden, dann entwickeln sich diese
Fischer zu „individuellen Nutzenmaximierern" und handeln mit ihren
Rechten. Das Ergebnis ist die Konzentration der Fangquoten auf wenige
Fischereibetriebe. Die historischen Gemeinnutzungen regeln die
Übertragungen von Nutzungsanteilen in der Regel so, dass die Struktur
erhalten bleibt.
9. Der Umgang mit Problemen der zeitgenössischen Krisen der
Marktgesellschaften kann erleichtert werden durch die Entdeckung des
Gemeinnutzens: Wenn immer wieder geklagt wird, dass es keinen Ausweg
aus den Zwängen der Wachstumsgesellschaft gibt, so werden hier Wege aus
diesem Käfig erkennbar. Unterschieden werden muss dabei zwischen der
individuellen (privaten) Ebene und derjenigen der (staatlichen)
Gemeinschaft: Lokal, national und global gibt es eine Vielzahl von
Problemen, die ohne ein (nachhaltig gestaltbares) „qualitatives"
Wachstum nicht gelöst werden können. Seine Formen können in der
Demokratie konsensfähig ausgehandelt werden (mit allen Konflikten und
Kompromissen). Anders
die private Ebene: Die Individuen sind sich in der Regel bewusst, dass
sie sich Grenzen setzen müssen. Wer dies nicht tut, scheitert in den
verschiedenen Abhängigkeiten: Arbeitssucht, anderen Süchten,
Konsumrausch und dergleichen. Darauf hinzuweisen erinnert an die von
allen notwendigerweise immer wieder aktivierten
Selbstbegrenzungsfähigkeiten. Die Frage, ob denn Lebensqualität
definiert wird durch „immer mehr vom Gleichen" oder anders, ob denn
wahrer „Luxus" nicht souveräne Verfugung über Ressourcen und Zeit
bedeutet, ob „Wachstum" nicht viel stärker auf die Ebene der
individuellen Entwicklung von „Beziehungsreichtum" liegt, und wie man
sich durch eine Steigerung des Anteils von Formen der selbständig
entwickelten Ressourcen mehr Unabhängigkeit von Markt und Einkommen
erarbeiten kann und damit die Abhängigkeit von Markt vermindern kann,
all das spielt eine Rolle. Damit wird auch relativiert, dass vom
ressourcenaufwändigen privaten Konsum die Weltwirtschaft abhängt.
„Zukunft ist ein kulturelles Programm", argumentiert Hilmar Hoffmann,
und betont damit, dass technische und ökonomische Strategien allein
keine Lösung für die Herauforderungen der Gegenwart liefern. Inzwischen
wird eine Ebene der sozialkulturellen Innovationen angesprochen, die
bei dieser Diskussion mit Hilfe der Gemeinnutzen eine neue Perspektive
eröffnen will. „Die Commons eignen sich für eine große Erzählung. Ihr
Potential besteht darin, soziale Innovation als entscheidenden Hebel
gesellschaftlicher Transformation zu entwickeln." (Silke Helfrich)
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