KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ReportKulturation 2012
Isolde Dietrich
Das Schweigen der Kombinatsdirektoren – eine Bestandsaufnahme


Am 21. September trifft sich eine Gruppe von 15 Generaldirektoren der DDR-Wirtschaft auf Einladung des "Vereins zur Förderung lebensgeschichtlichen Erinnerns und biografischen Erzählens" in Berlin. Gemeinsam mit Wissenschaftlern und Journalisten sollen mit dieser Tagung die bisherigen Bemühungen zusammengefasst werden, die bislang vernachlässigte Sammlung lebensgeschichtlicher Erinnerungen an die Wirtschaft der DDR zu befördern. Zur Diskussion steht, wie es gelingen kann, die Lebensgeschichten der DDR-Wirtschaftselite zu sichern. Nachstehend veröffentlicht kulturation einen Vortrag, den die Kulturwissenschaftlerin Isolde Dietrich im März 2010 in der Reihe "Kulturdebatte im Salon" gehalten hat. Sie hat ihre Übersicht über diesen Bereich deutscher Geschichtskultur zur Vorbereitung der Septembertagung überarbeitet und dabei auch aktualisiert.
Alle schreiben Autobiografien – nur die einstige Elite der ostdeutschen Industrie nicht. Dabei erscheinen Lebensweg und Leistungen dieser Führungskräfte auch Jahrzehnte nach dem Ende der DDR in verschiedener Hinsicht bemerkenswert und einmalig. Sie haben Neuland betreten, dabei wesentliches zum industriellen und kulturellen Erbe Deutschlands beigetragen. Viele ihrer Unternehmen waren Marktführer im RGW, einem Wirtschaftsraum von 300 Millionen Menschen. (Zum Vergleich: Die Staaten der EU haben heute rund 500 Millionen Einwohner.) Sie haben gute deutsche Industrietraditionen unter veränderten Bedingungen fortgesetzt und zu internationaler Anerkennung geführt. Und sie haben Betriebe bewusst als soziale und kulturelle Organismen gesteuert, dabei immer die Interessen der Belegschaften im Auge gehabt, weshalb ihnen nach 1989 mitunter vorgehalten wurde, eher zum Betriebsrat als zum Manager zu taugen.

Eine biografische Würdigung haben die wenigsten erfahren. Nicht einmal ihre Namen sind einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Die Forschungen zur Arbeits-, Wirtschafts-, Industrie- und Unternehmensgeschichte Deutschlands machen nach wie vor – von Ausnahmen abgesehen – einen Bogen um ostdeutsche Industriebetriebe und ihr leitendes Personal oder sie messen sie allein am vermeintlich erfolgreicheren westdeutschen Gegenstück. Die Industriekader der DDR selbst haben bislang wenig getan, diese Situation zu ändern. Vor allem haben sie ihre eigenen Erfahrungen nicht aufgeschrieben – ganz entgegen dem allgemeinen Trend, wo auch noch die letzten Domestiken der politisch Verantwortlichen ihre Beobachtungen aus der Kammerdienerperspektive zu Papier gebracht haben.

Schaut man auf den Büchermarkt, so sind seit 1990 mehr als 1200 DDR-Autobiografien in Buchform erschienen. Dabei handelt es sich nur um die lieferbaren Titel. Nicht einbegriffen sind jene Lebenserinnerungen, die lediglich für den engeren Kreis der Familie, der Freunde und Weggefährten geschrieben wurden und gar nicht in den Handel kamen.

Nun stehen Autobiografien generell hoch im Kurs – nicht nur hierzulande. Nach Recherchen der Neuen Zürcher Zeitung ist nahezu jedes zweite kommerziell erfolgreiche Sachbuch in England, Deutschland und in der Schweiz eine Autobiografie bzw. eine Biografie. Auf die Ursachen für diesen allgemeinen Boom soll hier nicht eingegangen werden. Sie hängen zusammen mit den Bedingungen moderner Subjektivität, die nach Selbstvergewisserung und Selbstdarstellung drängen. Für die Ostdeutschen dürfte ein weiterer Grund hinzukommen. Der gesellschaftliche Umbruch von 1989/90 war eine Zäsur, die zum Innehalten und Bilanzieren veranlasste.

Überblickt man die Autoren- und Titelliste der DDR-Autobiografien, so stehen der Häufigkeit nach an erster Stelle die Widerstands-, Opfer- und Leidensgeschichten – Berichte von Oppositionellen, politischen Häftlingen und politisch anderweitig Verfolgten, von Flüchtlingen und von aus der DDR Freigekauften, von Zwangsadoptierten und von in Jugendwerkhöfe Eingewiesenen. An zweiter Stelle folgen die Erinnerungen von Theologen und von Angehörigen verschiedener Glaubensgemeinschaften. Mit größerem Abstand wird die Reihe fortgesetzt von Künstlern, Schriftstellern, Offizieren von NVA und MfS, Sportlern, Wissenschaftlern, Politikern, Journalisten, Soldaten, Seeleuten, Ausländern (die sich in der DDR aufhielten), Diplomaten und anderen. Relativ selten vertreten sind Ärzte, Lehrer, Juristen, Ingenieure, Handwerker und Bauern. Arbeiterautobiografien muss man mit der Lupe suchen – ein merkwürdiger Befund angesichts der Tatsache, dass es in der DDR rund 400 Zirkel schreibender Arbeiter gab. Was ebenfalls nahezu vollständig fehlt, sind eben die Lebenserinnerungen von DDR-Wirtschaftsführern.

Das absolute Übergewicht der Widerstands- und Opfergeschichten zeigt einmal das verbreitete Bedürfnis, gravierende persönliche Erfahrungen zu verarbeiten. Vor allem aber widerspiegelt es die Verteilung der Fördergelder. Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU) und die jeweiligen Landesbehörden haben eigene Reihen initiiert, die jeweils Dokumente aus Stasibeständen mit autobiografischen Berichten verbinden. Als Herausgeber fungieren Experten aus der Abteilung Bildung und Forschung, die die Autoren in allen Belangen beraten und unterstützen. Auch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur fördert solche Publikationen. Dieses Vorgehen ist legitimiert durch das offizielle Geschichtsbild, das die DDR als Unrechtsstaat, als zweite deutsche Diktatur versteht. Insofern erfüllen diese Lebensgeschichten eine wichtige geschichtspolitische Funktion. Vor allem sie sind es, die neben Schule und Medien die Erinnerung an die DDR an künftige Generationen weitergeben sollen.

Personengruppen, die nicht mit solch einer staatlichen Förderung rechnen konnten, fanden andere Geldgeber oder sie verfügten über genügend finanzielles sowie soziales und kulturelles Kapital, um ihre Autobiografie aus eigener Kraft herauszugeben. Wieder andere, vor allem solche von Rang, kamen ganz regulär bei Verlagen unter, weil allein ihre Namen und Positionen einen Verkaufserfolg sicherten.

Das politische, militärische, wissenschaftliche und künstlerische Führungspersonal der DDR hat sich nach 1990 zu Wort gemeldet, nicht aber die Wirtschaftselite. Es gibt nur wenige Ausnahmen. 2004 erschienen im kleinen Schkeuditzer GNN-Verlag zwei bemerkenswerte Publikationen. Es handelte sich um die beiden ersten – und bisher einzigen – Autobiografien von Generaldirektoren bekannter DDR-Kombinate. Heinz Schwarz (Jg. 1921), der von 1971 bis 1983 das Chemiekombinat Bitterfeld leitete und mit Leuna „die ältesten Klamotten der DDR am Halse“ hatte, nannte seine Lebensgeschichte Prägungen aus acht Jahrzehnten. Herbert Richter (Jg. 1933), der von 1970 bis 1990 das Kohleveredelungskombinat „Schwarze Pumpe“ mit seinen erst in den 50er und 60er Jahren errichteten Anlagen führte, gab seinen autobiografischen Skizzen über ein „Leben für Kohle und Gas“ den Titel Lose Blätter – Visionen und Realitäten. Beide Autoren inszenieren sich nicht als Lichtgestalten, sondern beschreiben ganz nüchtern ihren Werdegang, ihren Arbeitsalltag, ihre Antriebe, ihre Erfolge und Niederlagen, ihr Scheitern und ihre Zukunftsvorstellungen.

Diese Erlebnisberichte sind nie auf eine Bestsellerliste gelangt. Nur wenige Rezensenten machten auf ihr Erscheinen aufmerksam. Der Verlag, ein Zwei-Mann-Betrieb, der on demand auch selbst druckt, konnte keine großartige Reklame machen. Und nicht einmal die indirekte Werbung des sächsischen Verfassungsschutzes, der das Schkeuditzer Unternehmen als linksextremistisch einstufte, hat für eine größere Verbreitung gesorgt. Da verwundert es nicht, dass sich die Bibliotheken ebenfalls zurückgehalten haben. Die Deutsche Nationalbibliothek verfügt jeweils über ein Pflichtexemplar, für das Bundesarchiv ist die Anschaffung ein Muss, im reichen München kann man selbstverständlich auch diese Bücher lesen, ansonsten findet man sie nur noch in homöopathischer Dosierung in der jeweiligen Region.

Den Erinnerungen Werner Bahmanns (Jg. 1930), über Jahrzehnte Direktor für Forschung und Entwicklung der Berliner Werkzeugmaschinenfabrik Marzahn, erging es nicht viel besser. Auch sie sind in öffentlichen Bibliotheken kaum präsent. Am Verlag kann es in diesem Fall nicht gelegen haben. Der Titel Gewonnen, und doch verloren erschien 2008 im Berliner verlag am park in der edition ost Ltd., einem Unternehmen der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

Bahmanns Lebensbericht reicht bis ins Jahr 2004 und stellt auch insofern eine Besonderheit dar, als er zeigt, wie ein namhafter Chefkonstrukteur nicht nur um technische Innovationen kämpft, sondern zugleich um „seinen“ Betrieb und um den Erhalt der Arbeitsplätze. Es ging ihm und seinem Team um Patente, um High-Tech, zuletzt um eine Hochleistungsschleifmaschine, die wie frühere Konstruktionen Weltspitze bedeutete. Sich dabei zugleich um die Zukunft der Beschäftigten zu sorgen, war wohl eine Perspektive, wie sie nur ein in der DDR ausgebildeter und tätiger Ingenieur einnehmen konnte. Wenn Bahmanns Buchlesungen stets überfüllt waren, so deutete das nicht nur auf die alte Betriebsverbundenheit ehemaliger Mitarbeiter hin. Hier zeigte sich, dass eine alternative Unternehmensführung als Erinnerung, Sehnsucht und Hoffnung nach wie vor lebendig ist.

Von den 1989 amtierenden 125 Generaldirektoren zentralgeleiteter Industriekombinate hat ein einziger seine Erinnerungen veröffentlicht, das sind 0,8 Prozent. Setzt man die vorliegenden Autobiografien ins Verhältnis zur Gesamtheit des rund 2400 Führungskräfte umfassenden Managements in diesen Kombinaten (Generaldirektoren, Fachdirektoren, Direktoren von Kombinatsbetrieben) oder gar des gesamten Leitungspersonals bis herab zur Meisterebene (33.000 Personen), so fällt die Relation noch wesentlich ungünstiger aus - ein schwer erklärbares Phänomen. Zum Vergleich: Von den 25 Mitgliedern des Politbüros von 1989 haben zehn, also 40 Prozent ihre Lebensberichte veröffentlicht, einige sogar mehrfach. Martin Sabrow spricht in diesem Zusammenhang von einem „autobiographischen Regierungsrekord in Deutschland“ (Ders., Den Umbruch erzählen. Vortrag am 16.02.2012 am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam).

Woher rührt das Schweigen der ostdeutschen Industriekader? Was verschlägt ihnen die Sprache? Liegt es an fehlender Nachfrage und Ermutigung? Beruht es auf ihrem Selbstverständnis als Ingenieure und Naturwissenschaftler, das sie nicht in vermintem Gelände wildern lässt? Sind sie nicht so exhibitionistisch veranlagt oder fürchten sie, durch Veröffentlichungen Freunde zu verlieren – ein unvermeidlicher Kollateralschaden fast jeder Autobiografie? Ist es eine Verweigerung, nachdem sie durch die Treuhandanstalt als Altlasten entsorgt und in der Öffentlichkeit ungerechtfertigt für den wirtschaftlichen Niedergang der DDR verantwortlich gemacht worden waren, manch einem gar persönliche Unredlichkeit unterstellt worden war? Hat ihre pauschale Einschätzung als „Parteibuchkarrieristen und Nichtskönner“ durch westdeutsche Personalberatungen und Medien dazu geführt? Obwohl inzwischen zahlreiche seriöse Studien diesem Personenkreis hohe Professionalität, Leistungsorientierung und Motivation, technische und unternehmerische Innovationsstärke bescheinigten, hat sich im landläufigen Verständnis offenbar das Bild vom Versager gehalten.

Wirkt die Masse der Rechtfertigungs- und Asche-aufs-Haupt-Geschichten anderer Verantwortungsträger so abschreckend, zumal Wirtschaftsführer zu derartigen Bekenntnissen keinerlei Veranlassung sehen? Sind sie generell als Macher und Pragmatiker nicht die Typen, die den Blick auf sich selbst richten und sich in übergreifende Zusammenhänge, in die allgemeine Wirtschafts- und Kulturgeschichte des Landes einordnen?

Oder haben sie schlicht keine Zeit für solcherart Rückbesinnung, weil sie nach dem beruflichen Aus in ihrem Kombinaten die Ärmel hochgekrempelt und sich neue Betätigungsfelder erschlossen haben? Niemand von ihnen hat einen Platz in der Riege der 400 deutschen Top-Manager einnehmen können, dennoch haben die allermeisten erfolgreiche Nachwende-Karrieren gestartet. Entgegen vielen Mutmaßungen führte der Weg der Industriekader mehrheitlich weder ins Arbeitsamt, noch aufs Altenteil. Über die Hälfte von ihnen hatte zehn Jahre nach der Wende immer noch oder wieder eine Führungsposition inne, nicht mehr in der Königsklasse, aber eine mit hoher Verantwortung, wo Professionalität und Pragmatismus, oft auch ihr spezielles Sozialkapital gefragt waren. Jeder Zehnte war Mitarbeiter ohne Leitungsfunktion, sieben Prozent waren freiberuflich tätig, ein Viertel hatte inzwischen das Rentenalter erreicht, war aber meist noch in berufliche Zusammenhänge eingebunden. Lediglich zwei Prozent gaben an, auf Arbeitsuche zu sein. Bei dieser Konstellation ist klar, dass die industrielle Elite der DDR – anders als die politische und militärische – vielfach wirklich keine Zeit hatte, sich ans Aufschreiben des eigenen Lebens zu setzen.

Von einem Schweigen zu sprechen, ist vielleicht auch nicht ganz gerechtfertigt. In anderer Form haben sie sich durchaus geäußert, etwa in Interviews, die Sozialwissenschaftler und Zeithistoriker mit ihnen führten. In gesonderten Spezialuntersuchungen – nicht etwa im Rahmen der allgemeinen deutschen und europäischen Wirtschaftsgeschichte - sind die Industriekader der DDR vor allem als Gruppe erforscht worden. Angaben zu Alter, Geschlecht, sozialem Herkunftsmilieu, Bildung, fachlicher Qualifikation, Weiterbildungen, Fremdsprachenkenntnissen, Familienstand, Heiratsbeziehungen, Kindern, politischer Orientierung von Eltern und Ehepartnern, Parteimitgliedschaft, Engagement in gesellschaftlichen Organisationen, Wahlfunktionen, Parteischulbesuch, Wehrdienst, Nomenklatur- und Reisekaderstatus, Westverwandtschaft, Titel und Auszeichnungen usw. ließen sich mühelos dem Zentralen Kaderdatenspeicher des DDR-Ministerrats entnehmen. (Diese Datei, die Auskunft gibt über 330.000 Beschäftigte, ist in anonymisierter Form im Bundesarchiv Koblenz einzusehen – ebenso wie andere personenbezogene Arbeitskräfte-Datenspeicher der DDR, darunter der Datenspeicher Gesellschaftliches Arbeitsvermögen des Staatssekretariats für Arbeit und Löhne von 1989 mit Angaben zu sieben Millionen Personen.) Die einschlägige Literatur der zurückliegenden zehn Jahre weist aus, dass nicht nur große Datenmengen ausgewertet worden sind, sondern dass auch mit qualitativen Methoden gearbeitet wurde. Zahlreiche Industriekader sind persönlich befragt worden, um Aussagen etwa zu Habitus und Selbstverständnis dieser Gruppe zu gewinnen. Auf diese Weise sind einzigartige Studien entstanden (denn Vergleichbares ließe sich für West-Manager nicht erstellen), die in die Richtung von Kollektivbiografien bestimmter Berufsgruppen in der Abfolge verschiedener Generationen weisen.

Nicht nur in solchen biografischen Interviews haben Generaldirektoren und andere Leitungskader Auskunft gegeben. Sie haben sich auch im Rundfunk, in Dokumentarfilmen und in Videos geäußert, haben an Industrie-, Kombinats-, Werks- und Produktgeschichten mitgeschrieben, sich in Museen und Traditionsvereinen engagiert, um das Erbe der DDR-Industriekultur zu sichern. Nur Autobiografien haben sie eben nicht verfasst. Dabei wäre das beim gegenwärtigen Stand der Dinge die einzige Möglichkeit, dass die Akteure der Wirtschaft die Kontrolle über ihre eigenen Daten zurückgewönnen, Herren ihrer Biografie blieben, der Interpretation durch andere etwas entgegenzusetzen hätten. Das Ziel müsste sein, sich selber zu Wort zu melden, statt über sich befinden zu lassen.

Autobiografien würden nicht nur die Außensicht relativieren und korrigieren, zu einem ausgewogeneren Urteil beitragen. Sie wären die einzige Quelle, um etwas über die innere Welt der Wirtschaftsführer zu erfahren, ihre Wert- und Zielvorstellungen, ihre Grundüberzeugungen, ihre ethischen Maßstäbe, ihre Denk- und Entscheidungsmuster, ihre Motive und Antriebe, immer von neuem überaus komplexe, scheinbar aussichtslose Vorhaben anzupacken und zu Wege zu bringen usw. Diese subjektive Seite, mag man sie Gesinnung, Haltung, Denkweise oder wie auch immer nennen, ist nach wie vor eine große Unbekannte. Sie dürfte aber den Boden bilden für das Selbstbewusstsein der Industriekader, für ihre Gewissheit, unter den gegebenen Bedingungen der Verantwortung gerecht geworden zu sein, etwas in die Zukunft Weisendes geleistet zu haben.

Wer waren überhaupt die ostdeutschen Wirtschaftsbosse (bis auf zwei Generaldirektorinnen handelte es sich ausschließlich um Männer)? Wie gesagt, sie sind der breiten Öffentlichkeit nicht einmal dem Namen nach bekannt. In den internationalen und deutschen biografischen Lexika sucht man sie vergebens, ebenfalls in den spezielleren Manager-Nachschlagewerken, Handbüchern und Darstellungen zur deutschen Wirtschaftselite des 20. Jahrhunderts. Lediglich das Internationale Biographische Archiv (Munzinger-Archiv) verzeichnet unter der Klassifikation Wirtschaftsmanager, Industriemanager, Wirtschaftspolitiker einige wenige Kombinatsdirektoren wie Friedrich Wokurka, Herbert Kroker oder Wolfgang Biermann. Sie werden dort hinsichtlich Herkunft, Ausbildung und Wirken vorgestellt. Die Portraits des Ravensburger Unternehmens zeichnen sachlich den Werdegang nach, ordnen Leistungen ein und würdigen die jeweilige Führungspersönlichkeit.

Selbst in rein DDR-bezogenen biografischen Nachschlagewerken wie Wer war wer in der DDR? sind Wirtschaftsleute deutlich unterrepräsentiert. Das Autorenteam vom Christoph Links Verlag hat in dieser Hinsicht zwar Anstrengungen unternommen, aber noch keinen befriedigenden Stand erreicht. Während die 1. Auflage von 1996 nur 15 Generaldirektoren von Kombinaten verzeichnete, enthält die 5. Auflage von 2010 immerhin schon 56 derartige Kurzbiografien. Das sind 1.4 Prozent der namentlich Erwähnten. Man erfährt dort alles über Chris Doerk oder Herbert Köfer, über Fußballer und Schachspieler, Kirchenjuristen und Sprachforscher, Bürgermeister, Abgeordnete und Funktionäre, aber nichts über einen Generaldirektor wie etwa Rudi Rosenkranz, der mit Textima Karl-Marx-Stadt einen der großen Tanker (30.000 Beschäftigte) durchs Fahrwasser der DDR-Wirtschaft geleitete. Die Führungsposten in den 257 zentral- und bezirksgeleiteten Kombinaten sind im Laufe der Zeit von unterschiedlichen Personen besetzt gewesen. Nur selten hat ein „General“ das Unternehmen von der Gründung bis zum Ende geführt. Es müssten in einem zuverlässigen Nachschlagewerk also allein auf dieser Leitungsebene Hunderte von biografischen Portraits enthalten sein.

Ein spezielles Lexikon der DDR-Wirtschafts- oder Industriemanager gibt es nicht. Es existieren Lexika der (politischen) Funktionäre, der DDR-Opposition, der DDR-Künstler, -Sportler, -Historiker, -Stars usw., der DDR-Literatur und des DDR-Rocks. In Kürschners Gelehrtenkalender wurden nach der Wende in aller Eile die Lebensdaten und Arbeitsfelder der an DDR-Universitäten und Hochschulen tätigen Wissenschaftler aufgenommen, so dass es vor den großen Entlassungswellen zumindest eine unvollständige Momentaufnahme von diesem Zeitpunkt gibt. Vergleichbares ist für die Chefetagen der Wirtschaft nicht geleistet worden. Das Rowohlt-Lexikon So funktionierte die DDR von 1994 listete zwar 169 Kombinate auf, die Ministerien direkt unterstellt waren, konnte in 85 Prozent der Fälle auch die 1989 dort amtierenden Generaldirektoren ausmachen. Biografische Angaben wurden jedoch nur zu sechs Personen aus diesem Kreis angeführt, ansonsten blieb es bei der bloßen Namensnennung. Das Handbuch von 1997 aus dem Dietz Verlag Berlin Die SED. Geschichte-Organisation-Politik stellt im Abschnitt Kurzbiographien der Führungskader ganze fünf Kombinatsdirektoren von 1989 vor. Es handelt sich um diejenigen, die neben ihrer beruflichen Tätigkeit in der Industrie Mitglied des ZK oder der Zentralen Revisionskommission der SED waren. Nach dieser Klassifikation wurden Wirtschaftskader nicht als Führungskader der SED eingestuft.

Das weitgehende Ausblenden der DDR-Wirtschaftselite aus dem öffentlichen Bewusstsein zeigt einen politischen Wandel an. Bis 1989 war die DDR auch im Westen von vielen als europäischer Industriestaat eigener Art gesehen worden, dessen politisches System eine alternative Ordnung darstellte. Erst die Nachwende-Legenden von der durchgängig maroden Wirtschaft und dem Unrechtsstaat haben die Perspektive verengt. Von daher ist es erklärlich, dass nun auch die gesamte historische Forschung und die Erinnerungsindustrie, alle Aufarbeitungs- und Bewältigungskampagnen in diese Richtung rollen. Dennoch dürfte dies sehr kurz gedacht sein. Eine vorurteilsfreie Betrachtung und Erörterung der jüngeren deutschen Geschichte (einschließlich der ostdeutschen) wäre nicht nur eine lohnende wissenschaftliche Aufgabe. Sie ist auch aus ganz praktischen Gründen ein Gebot der Stunde.

Denn es zeichnet sich ab, dass ganz andere Wenden vor der Tür stehen, gegen die das Ende der DDR wohl wirklich nur eine historische Miniatur war. Hier soll nicht zum wiederholten Mal der drohende Untergang des Abendlandes beschworen werden. Aber allein schon die demografische Entwicklung wird dafür sorgen, dass Europa in absehbarer Zeit ein weltpolitischer Zwerg ist, eine Region, die von Wirtschafts-, Währungs-, Energie-, Rohstoff-, Umwelt- und vielen anderen Krisen gebeutelt wird. Unter solchen Bedingungen einen halbwegs akzeptablen mitteleuropäischen Lebensstandard zu sichern, wird eine große Kunst sein. Sicher wird das künftige Europa nicht mit der alten DDR vergleichbar sein. Aber wenn die Musik anderswo spielt, der Zugriff auf die Reichtümer der Welt begrenzt wird, weil Milliarden anderer Menschen ihre Ansprüche geltend machen, müssen die inneren Ressourcen umfassender genutzt werden.

Es wäre übertrieben zu sagen: dann schlägt die Stunde der Generaldirektoren – schon, weil keiner von ihnen dann mehr wird Auskunft geben können und weil sich geschichtliche Vorgänge nicht wiederholen. Aber unter schwierigsten Bedingungen eine Wirtschaft am Laufen halten, mit dem allgemeinen Mangel an Energie, an Rohstoffen, Arbeitskräften und vielem anderen fertig werden (ganz im Sinne heutiger Vorstellungen von Nachhaltigkeit), mit knappen Finanzen auskommen, den Menschen Arbeit, Brot und ein anständiges Leben sichern – das ließe sich möglicherweise bei ostdeutschen Industriekadern lernen. Ihr das eigene Unternehmen und das rein kaufmännische und technokratische Denken überschreitender Horizont, ihre technologischen, ingenieurtechnischen, produktionsorganisatorischen und sozialen Erfahrungen wären zu sichern, die vielen aus der Not geborenen Lösungen, ihr Teamgeist, aber auch ihr Verständnis für die Situation der Beschäftigten, ihre Pflicht und Bereitschaft, nicht nur für die Produktion, sondern auch für die Reproduktion der Arbeitskräfte zu sorgen. Nur ein Beispiel: Die Einrichtung von Krippenplätzen, woran heute viele Unternehmen scheitern, gehörte für einen Kombinatsdirektor noch zu den kleineren Übungen. Es könnte sein, dass in Regionen mit armen oder ausgedünnten Kommunen den Betrieben wieder solche Funktionen zuwachsen, wie sie in der Frühzeit der deutschen Industrialisierung und in der DDR ganz selbstverständlich waren – die notwendige Infrastruktur zu sichern, das soziale und kulturelle Leben zu organisieren.

Andere Szenarien, etwa dass Europa am Tropf der aufstrebenden neuen politischen und wirtschaftlichen Machtzentren hängen wird, sollen hier nicht diskutiert werden.

In jedem Fall wäre es wichtig, die Erfahrungen gestandener DDR-Industriekader zu sichern. Schließlich war die ostdeutsche Re-Industrialisierung nach dem Krieg in mehrfacher Hinsicht eine Erfolgsgeschichte. Abgeschnitten von den bisherigen Rohstoff- und Energiequellen gelang es, eine Industrie ohne Privateigentum und ohne Konkurrenzwirtschaft aufzubauen. Das verlangte einen besonderen Typ von Wirtschaftsführern, die die DDR binnen weniger Jahrzehnte in ein international geachtetes Industrieland verwandelt haben. Die Erfolgsgeschichte des deutschen Kapitalismus ist sehr gut erforscht und im Gedächtnis der Deutschen fest verankert. Die Lebensgeschichten deutscher Industriepioniere gehören nach wie vor zu den Bestsellern des Büchermarktes, sind auch in der jungen Generation präsent.

Die industrielle Erfolgsgeschichte der DDR ist dagegen wenig erforscht und noch weniger in den Köpfen der Menschen verankert. Seit dem staatlichen Ende und der weitgehenden Deindustrialisierung des Landes scheint die Erinnerung an die Blütezeit der ostdeutschen Industrie verschüttet zu sein. Die Generaldirektoren der Kombinate und ihr Führungsstab werden ganz selbstverständlich als nicht zur deutschen Wirtschaftselite des 20. Jahrhunderts zugehörig angesehen. Sie gelten als Repräsentanten einer kommunistischen Misswirtschaft, werden bestenfalls in wissenschaftlichen Spezialabhandlungen untersucht, die in der breiten Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden.

Die ostdeutsche Wirtschaftselite wurde verdrängt. Als Repräsentanten der SED-Wirtschaftspolitik galten ihre Vertreter als politisch belastet. Von Hause aus ganz überwiegend Ingenieure und Naturwissenschaftler fehlten ihnen viele der für eine Marktwirtschaft unumgänglichen betriebs-, finanz- und weltwirtschaftlichen Kompetenzen. Und es mangelte ihnen an Elitebewusstsein als Folge ihres Herkunftsmilieus und ihrer jahrzehntelangen DDR-Sozialisation. Schon allein vom Habitus her konnten sie unter West-Managern nicht bestehen.

All das ist Geschichte. Nun wäre es an der Zeit, nicht weiter die vermeintlichen Defizite aufzulisten, sondern ganz andere Fragen zu stellen: Was machte diese Industriekader in der DDR so erfolgreich? Worin bestand ihr soziales und kulturelles Kapital? Eine Antwort müssten die Akteure selbst geben und dabei in Deutungskonkurrenz zu Zeithistorikern und Soziologen treten. Letztere können Rekrutierungsmuster und Karrierewege der Kombinatseliten nachzeichnen, nicht aber die subjektive Seite dieser Vorgänge. Mit Max Weber wäre zu fragen: Was waren das für Typen, wovon haben sie sich leiten lassen, von welchen Gesellschafts- und Kulturauffassungen, von welchem Wirtschafts- und Berufsethos? Gab es so etwas wie den „Geist des Sozialismus“, eine Übereinstimmung von weltanschaulichen Grundüberzeugungen und Wirtschaftsgesinnung, die sich nicht mehr auf die Bourgeoise gründeten, sondern einen anderen sozialen Träger hatten? Oder war die sozialistische Arbeits- und Berufsauffassung nur eine Spielart der protestantischen bzw. pietistischen?

Inwiefern waren Industriekader Motor des Wirtschaftslebens? Worauf gründete sich ihre Innovations- und Risikobereitschaft? Was hat sie ausgebremst? Welche Spielräume, welche reale Macht hatten Führungskräfte in den Kombinaten? Was konnten sie nicht? Wie kamen sie mit der Verantwortung für alles und jedes und mit der Überfülle an Aufgaben zu recht? Wie leitet man ein Unternehmen, in dem große Gruppen der Beschäftigten gar nicht oder nur eingeschränkt an der Erwirtschaftung des Betriebsergebnisses beteiligt sind? Kein Konzern hatte sich herumzuschlagen mit Auflagen zur Konsumgüterproduktion, zur Frauen- und Jugendförderung, zur Erwachsenenqualifizierung, zum warmen Essen in der Nachtschicht, zur medizinischen Versorgung, zu Kitas und Betriebsferienlagern, zur polytechnischen Erziehung der Schüler, zur Betreuung der Rentner, zur Wiedereingliederung straffällig Gewordener, zu einer derart überbordenden Kulturarbeit, dass Enthusiasten aller Art ihrem Hobby auf Betriebs- bzw. Staatskosten nachgehen konnten. Waren dies „Errungenschaften“ oder schlicht Belastungen des Arbeitszeitfonds, die auf die Produktivität drückten? Wirtschaftsführer wussten genau, dass solche Aktivitäten „schlecht fürs Geschäft“, im gesamtgesellschaftlichen Interesse aber unumgänglich waren.

Was waren die Antriebe, sich solch einem Gewirr einander auch widersprechender Anforderungen zu stellen? Das Geld kann es bekanntlich nicht gewesen sein und auch nicht die lächerlich geringfügigen sonstigen „Privilegien“. In der Literatur ist mitunter beiläufig von verschiedenen Typen von Industriekapitänen die Rede, ohne dass dafür Belege herangezogen werden. Da wird berichtet von Ingenieuren, die sich mit aller Leidenschaft der Technik verschrieben hatten, von Großorganisatoren, bei denen zuverlässig Eines ins Andere greifen musste, vom sozial-fürsorglichen Hausvatertyp, vom machtbesessenen Schinder usw. Wenn es sie denn gegeben hat, wie konnten Führungspersönlichkeiten von so unterschiedlichem Zuschnitt in einer zentralverwalteten Planwirtschaft bestehen?

Diese und andere Fragen werden zu beantworten sein, sobald deutlich mehr Autobiografien von Generaldirektoren und ihren Stellvertretern, von den Fachdirektoren für Kader und Bildung, für Technologie, für Ökonomie, für Kultur und Sozialwesen, von Hauptbuchhaltern und Justitiaren, von den einzelnen Betriebsdirektoren, von Abteilungsleitern usw. vorliegen.

Es wäre also endlich damit zu beginnen, diesen Personenkreis zu autobiografischen Äußerungen zu ermutigen, dies auch professionell zu begleiten und finanziell zu fördern. Die vorgelegten Lebensberichte von Heinz Schwarz, Herbert Richter und Werner Bahmann bieten unterschiedliche Varianten an, wie man sich solch einem Unterfangen nähern kann. Mit dem Abstand der Jahre und den neuen Erfahrungen in der Marktwirtschaft blicken sie auf ihr Tun in der Planwirtschaft zurück. Und sie schauen in die Zukunft. All dies werden in Gedanken auch viele andere Fachleute aus der DDR-Wirtschaft schon getan haben. Jetzt heißt es nur noch: Aufschreiben oder einem anderen erzählen, der das dann zu Papier bringt!