Report | Kulturation 2012 | Isolde Dietrich | Das Schweigen der Kombinatsdirektoren – eine Bestandsaufnahme
Am
21. September trifft sich eine Gruppe von 15 Generaldirektoren der
DDR-Wirtschaft auf Einladung des "Vereins zur Förderung
lebensgeschichtlichen Erinnerns und biografischen Erzählens" in Berlin.
Gemeinsam mit Wissenschaftlern und Journalisten sollen mit dieser
Tagung die bisherigen Bemühungen zusammengefasst werden, die bislang
vernachlässigte Sammlung lebensgeschichtlicher Erinnerungen an die
Wirtschaft der DDR zu befördern. Zur Diskussion steht, wie es gelingen
kann, die Lebensgeschichten der DDR-Wirtschaftselite zu sichern.
Nachstehend veröffentlicht kulturation einen Vortrag, den die
Kulturwissenschaftlerin Isolde Dietrich im März 2010 in der Reihe
"Kulturdebatte im Salon" gehalten hat. Sie hat ihre Übersicht über
diesen Bereich deutscher Geschichtskultur zur Vorbereitung der
Septembertagung überarbeitet und dabei auch aktualisiert. | Alle
schreiben Autobiografien – nur die einstige Elite der ostdeutschen
Industrie nicht. Dabei erscheinen Lebensweg und Leistungen dieser
Führungskräfte auch Jahrzehnte nach dem Ende der DDR in verschiedener
Hinsicht bemerkenswert und einmalig. Sie haben Neuland betreten, dabei
wesentliches zum industriellen und kulturellen Erbe Deutschlands
beigetragen. Viele ihrer Unternehmen waren Marktführer im RGW, einem
Wirtschaftsraum von 300 Millionen Menschen. (Zum Vergleich: Die Staaten
der EU haben heute rund 500 Millionen Einwohner.) Sie haben gute
deutsche Industrietraditionen unter veränderten Bedingungen fortgesetzt
und zu internationaler Anerkennung geführt. Und sie haben Betriebe
bewusst als soziale und kulturelle Organismen gesteuert, dabei immer
die Interessen der Belegschaften im Auge gehabt, weshalb ihnen nach
1989 mitunter vorgehalten wurde, eher zum Betriebsrat als zum Manager
zu taugen.
Eine biografische Würdigung haben die wenigsten erfahren. Nicht einmal
ihre Namen sind einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Die Forschungen
zur Arbeits-, Wirtschafts-, Industrie- und Unternehmensgeschichte
Deutschlands machen nach wie vor – von Ausnahmen abgesehen – einen
Bogen um ostdeutsche Industriebetriebe und ihr leitendes Personal oder
sie messen sie allein am vermeintlich erfolgreicheren westdeutschen
Gegenstück. Die Industriekader der DDR selbst haben bislang wenig
getan, diese Situation zu ändern. Vor allem haben sie ihre eigenen
Erfahrungen nicht aufgeschrieben – ganz entgegen dem allgemeinen Trend,
wo auch noch die letzten Domestiken der politisch Verantwortlichen ihre
Beobachtungen aus der Kammerdienerperspektive zu Papier gebracht haben.
Schaut man auf den Büchermarkt, so sind seit 1990 mehr als 1200
DDR-Autobiografien in Buchform erschienen. Dabei handelt es sich nur um
die lieferbaren Titel. Nicht einbegriffen sind jene Lebenserinnerungen,
die lediglich für den engeren Kreis der Familie, der Freunde und
Weggefährten geschrieben wurden und gar nicht in den Handel kamen.
Nun stehen Autobiografien generell hoch im Kurs – nicht nur hierzulande. Nach Recherchen der Neuen Zürcher Zeitung
ist nahezu jedes zweite kommerziell erfolgreiche Sachbuch in England,
Deutschland und in der Schweiz eine Autobiografie bzw. eine Biografie.
Auf die Ursachen für diesen allgemeinen Boom soll hier nicht
eingegangen werden. Sie hängen zusammen mit den Bedingungen moderner
Subjektivität, die nach Selbstvergewisserung und Selbstdarstellung
drängen. Für die Ostdeutschen dürfte ein weiterer Grund hinzukommen.
Der gesellschaftliche Umbruch von 1989/90 war eine Zäsur, die zum
Innehalten und Bilanzieren veranlasste.
Überblickt man die Autoren- und Titelliste der DDR-Autobiografien, so
stehen der Häufigkeit nach an erster Stelle die Widerstands-, Opfer-
und Leidensgeschichten – Berichte von Oppositionellen, politischen
Häftlingen und politisch anderweitig Verfolgten, von Flüchtlingen und
von aus der DDR Freigekauften, von Zwangsadoptierten und von in
Jugendwerkhöfe Eingewiesenen. An zweiter Stelle folgen die Erinnerungen
von Theologen und von Angehörigen verschiedener Glaubensgemeinschaften.
Mit größerem Abstand wird die Reihe fortgesetzt von Künstlern,
Schriftstellern, Offizieren von NVA und MfS, Sportlern,
Wissenschaftlern, Politikern, Journalisten, Soldaten, Seeleuten,
Ausländern (die sich in der DDR aufhielten), Diplomaten und anderen.
Relativ selten vertreten sind Ärzte, Lehrer, Juristen, Ingenieure,
Handwerker und Bauern. Arbeiterautobiografien muss man mit der Lupe
suchen – ein merkwürdiger Befund angesichts der Tatsache, dass es in
der DDR rund 400 Zirkel schreibender Arbeiter gab. Was ebenfalls nahezu
vollständig fehlt, sind eben die Lebenserinnerungen von
DDR-Wirtschaftsführern.
Das absolute Übergewicht der Widerstands- und Opfergeschichten zeigt
einmal das verbreitete Bedürfnis, gravierende persönliche Erfahrungen
zu verarbeiten. Vor allem aber widerspiegelt es die Verteilung der
Fördergelder. Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU) und
die jeweiligen Landesbehörden haben eigene Reihen initiiert, die
jeweils Dokumente aus Stasibeständen mit autobiografischen Berichten
verbinden. Als Herausgeber fungieren Experten aus der Abteilung Bildung
und Forschung, die die Autoren in allen Belangen beraten und
unterstützen. Auch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
fördert solche Publikationen. Dieses Vorgehen ist legitimiert durch das
offizielle Geschichtsbild, das die DDR als Unrechtsstaat, als zweite
deutsche Diktatur versteht. Insofern erfüllen diese Lebensgeschichten
eine wichtige geschichtspolitische Funktion. Vor allem sie sind es, die
neben Schule und Medien die Erinnerung an die DDR an künftige
Generationen weitergeben sollen.
Personengruppen, die nicht mit solch einer staatlichen Förderung
rechnen konnten, fanden andere Geldgeber oder sie verfügten über
genügend finanzielles sowie soziales und kulturelles Kapital, um ihre
Autobiografie aus eigener Kraft herauszugeben. Wieder andere, vor allem
solche von Rang, kamen ganz regulär bei Verlagen unter, weil allein
ihre Namen und Positionen einen Verkaufserfolg sicherten.
Das politische, militärische, wissenschaftliche und künstlerische
Führungspersonal der DDR hat sich nach 1990 zu Wort gemeldet, nicht
aber die Wirtschaftselite. Es gibt nur wenige Ausnahmen. 2004
erschienen im kleinen Schkeuditzer GNN-Verlag zwei bemerkenswerte
Publikationen. Es handelte sich um die beiden ersten – und bisher
einzigen – Autobiografien von Generaldirektoren bekannter
DDR-Kombinate. Heinz Schwarz (Jg. 1921), der von 1971 bis 1983 das
Chemiekombinat Bitterfeld leitete und mit Leuna „die ältesten Klamotten
der DDR am Halse“ hatte, nannte seine Lebensgeschichte Prägungen aus acht Jahrzehnten.
Herbert Richter (Jg. 1933), der von 1970 bis 1990 das
Kohleveredelungskombinat „Schwarze Pumpe“ mit seinen erst in den 50er
und 60er Jahren errichteten Anlagen führte, gab seinen
autobiografischen Skizzen über ein „Leben für Kohle und Gas“ den Titel Lose Blätter – Visionen und Realitäten.
Beide Autoren inszenieren sich nicht als Lichtgestalten, sondern
beschreiben ganz nüchtern ihren Werdegang, ihren Arbeitsalltag, ihre
Antriebe, ihre Erfolge und Niederlagen, ihr Scheitern und ihre
Zukunftsvorstellungen.
Diese Erlebnisberichte sind nie auf eine Bestsellerliste gelangt. Nur
wenige Rezensenten machten auf ihr Erscheinen aufmerksam. Der Verlag,
ein Zwei-Mann-Betrieb, der on demand auch selbst druckt, konnte keine
großartige Reklame machen. Und nicht einmal die indirekte Werbung des
sächsischen Verfassungsschutzes, der das Schkeuditzer Unternehmen als
linksextremistisch einstufte, hat für eine größere Verbreitung gesorgt.
Da verwundert es nicht, dass sich die Bibliotheken ebenfalls
zurückgehalten haben. Die Deutsche Nationalbibliothek verfügt jeweils
über ein Pflichtexemplar, für das Bundesarchiv ist die Anschaffung ein
Muss, im reichen München kann man selbstverständlich auch diese Bücher
lesen, ansonsten findet man sie nur noch in homöopathischer Dosierung
in der jeweiligen Region.
Den Erinnerungen Werner Bahmanns (Jg. 1930), über Jahrzehnte Direktor
für Forschung und Entwicklung der Berliner Werkzeugmaschinenfabrik
Marzahn, erging es nicht viel besser. Auch sie sind in öffentlichen
Bibliotheken kaum präsent. Am Verlag kann es in diesem Fall nicht
gelegen haben. Der Titel Gewonnen, und doch verloren erschien 2008 im Berliner verlag am park in der edition ost Ltd., einem Unternehmen der Eulenspiegel Verlagsgruppe.
Bahmanns Lebensbericht reicht bis ins Jahr 2004 und stellt auch
insofern eine Besonderheit dar, als er zeigt, wie ein namhafter
Chefkonstrukteur nicht nur um technische Innovationen kämpft, sondern
zugleich um „seinen“ Betrieb und um den Erhalt der Arbeitsplätze. Es
ging ihm und seinem Team um Patente, um High-Tech, zuletzt um eine
Hochleistungsschleifmaschine, die wie frühere Konstruktionen Weltspitze
bedeutete. Sich dabei zugleich um die Zukunft der Beschäftigten zu
sorgen, war wohl eine Perspektive, wie sie nur ein in der DDR
ausgebildeter und tätiger Ingenieur einnehmen konnte. Wenn Bahmanns
Buchlesungen stets überfüllt waren, so deutete das nicht nur auf die
alte Betriebsverbundenheit ehemaliger Mitarbeiter hin. Hier zeigte
sich, dass eine alternative Unternehmensführung als Erinnerung,
Sehnsucht und Hoffnung nach wie vor lebendig ist.
Von den 1989 amtierenden 125 Generaldirektoren zentralgeleiteter
Industriekombinate hat ein einziger seine Erinnerungen veröffentlicht,
das sind 0,8 Prozent. Setzt man die vorliegenden Autobiografien ins
Verhältnis zur Gesamtheit des rund 2400 Führungskräfte umfassenden
Managements in diesen Kombinaten (Generaldirektoren, Fachdirektoren,
Direktoren von Kombinatsbetrieben) oder gar des gesamten
Leitungspersonals bis herab zur Meisterebene (33.000 Personen), so
fällt die Relation noch wesentlich ungünstiger aus - ein schwer
erklärbares Phänomen. Zum Vergleich: Von den 25 Mitgliedern des
Politbüros von 1989 haben zehn, also 40 Prozent ihre Lebensberichte
veröffentlicht, einige sogar mehrfach. Martin Sabrow spricht in diesem
Zusammenhang von einem „autobiographischen Regierungsrekord in
Deutschland“ (Ders., Den Umbruch erzählen. Vortrag am 16.02.2012 am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam).
Woher rührt das Schweigen der ostdeutschen Industriekader? Was
verschlägt ihnen die Sprache? Liegt es an fehlender Nachfrage und
Ermutigung? Beruht es auf ihrem Selbstverständnis als Ingenieure und
Naturwissenschaftler, das sie nicht in vermintem Gelände wildern lässt?
Sind sie nicht so exhibitionistisch veranlagt oder fürchten sie, durch
Veröffentlichungen Freunde zu verlieren – ein unvermeidlicher
Kollateralschaden fast jeder Autobiografie? Ist es eine Verweigerung,
nachdem sie durch die Treuhandanstalt als Altlasten entsorgt und in der
Öffentlichkeit ungerechtfertigt für den wirtschaftlichen Niedergang der
DDR verantwortlich gemacht worden waren, manch einem gar persönliche
Unredlichkeit unterstellt worden war? Hat ihre pauschale Einschätzung
als „Parteibuchkarrieristen und Nichtskönner“ durch westdeutsche
Personalberatungen und Medien dazu geführt? Obwohl inzwischen
zahlreiche seriöse Studien diesem Personenkreis hohe Professionalität,
Leistungsorientierung und Motivation, technische und unternehmerische
Innovationsstärke bescheinigten, hat sich im landläufigen Verständnis
offenbar das Bild vom Versager gehalten.
Wirkt die Masse der Rechtfertigungs- und Asche-aufs-Haupt-Geschichten
anderer Verantwortungsträger so abschreckend, zumal Wirtschaftsführer
zu derartigen Bekenntnissen keinerlei Veranlassung sehen? Sind sie
generell als Macher und Pragmatiker nicht die Typen, die den Blick auf
sich selbst richten und sich in übergreifende Zusammenhänge, in die
allgemeine Wirtschafts- und Kulturgeschichte des Landes einordnen?
Oder haben sie schlicht keine Zeit für solcherart Rückbesinnung, weil
sie nach dem beruflichen Aus in ihrem Kombinaten die Ärmel
hochgekrempelt und sich neue Betätigungsfelder erschlossen haben?
Niemand von ihnen hat einen Platz in der Riege der 400 deutschen
Top-Manager einnehmen können, dennoch haben die allermeisten
erfolgreiche Nachwende-Karrieren gestartet. Entgegen vielen Mutmaßungen
führte der Weg der Industriekader mehrheitlich weder ins Arbeitsamt,
noch aufs Altenteil. Über die Hälfte von ihnen hatte zehn Jahre nach
der Wende immer noch oder wieder eine Führungsposition inne, nicht mehr
in der Königsklasse, aber eine mit hoher Verantwortung, wo
Professionalität und Pragmatismus, oft auch ihr spezielles
Sozialkapital gefragt waren. Jeder Zehnte war Mitarbeiter ohne
Leitungsfunktion, sieben Prozent waren freiberuflich tätig, ein Viertel
hatte inzwischen das Rentenalter erreicht, war aber meist noch in
berufliche Zusammenhänge eingebunden. Lediglich zwei Prozent gaben an,
auf Arbeitsuche zu sein. Bei dieser Konstellation ist klar, dass die
industrielle Elite der DDR – anders als die politische und militärische
– vielfach wirklich keine Zeit hatte, sich ans Aufschreiben des eigenen
Lebens zu setzen.
Von einem Schweigen zu sprechen, ist vielleicht auch nicht ganz
gerechtfertigt. In anderer Form haben sie sich durchaus geäußert, etwa
in Interviews, die Sozialwissenschaftler und Zeithistoriker mit ihnen
führten. In gesonderten Spezialuntersuchungen – nicht etwa im Rahmen
der allgemeinen deutschen und europäischen Wirtschaftsgeschichte - sind
die Industriekader der DDR vor allem als Gruppe erforscht worden.
Angaben zu Alter, Geschlecht, sozialem Herkunftsmilieu, Bildung,
fachlicher Qualifikation, Weiterbildungen, Fremdsprachenkenntnissen,
Familienstand, Heiratsbeziehungen, Kindern, politischer Orientierung
von Eltern und Ehepartnern, Parteimitgliedschaft, Engagement in
gesellschaftlichen Organisationen, Wahlfunktionen, Parteischulbesuch,
Wehrdienst, Nomenklatur- und Reisekaderstatus, Westverwandtschaft,
Titel und Auszeichnungen usw. ließen sich mühelos dem Zentralen
Kaderdatenspeicher des DDR-Ministerrats entnehmen. (Diese Datei, die
Auskunft gibt über 330.000 Beschäftigte, ist in anonymisierter Form im
Bundesarchiv Koblenz einzusehen – ebenso wie andere personenbezogene
Arbeitskräfte-Datenspeicher der DDR, darunter der Datenspeicher
Gesellschaftliches Arbeitsvermögen des Staatssekretariats für Arbeit
und Löhne von 1989 mit Angaben zu sieben Millionen Personen.) Die
einschlägige Literatur der zurückliegenden zehn Jahre weist aus, dass
nicht nur große Datenmengen ausgewertet worden sind, sondern dass auch
mit qualitativen Methoden gearbeitet wurde. Zahlreiche Industriekader
sind persönlich befragt worden, um Aussagen etwa zu Habitus und
Selbstverständnis dieser Gruppe zu gewinnen. Auf diese Weise sind
einzigartige Studien entstanden (denn Vergleichbares ließe sich für
West-Manager nicht erstellen), die in die Richtung von
Kollektivbiografien bestimmter Berufsgruppen in der Abfolge
verschiedener Generationen weisen.
Nicht nur in solchen biografischen Interviews haben Generaldirektoren
und andere Leitungskader Auskunft gegeben. Sie haben sich auch im
Rundfunk, in Dokumentarfilmen und in Videos geäußert, haben an
Industrie-, Kombinats-, Werks- und Produktgeschichten mitgeschrieben,
sich in Museen und Traditionsvereinen engagiert, um das Erbe der
DDR-Industriekultur zu sichern. Nur Autobiografien haben sie eben nicht
verfasst. Dabei wäre das beim gegenwärtigen Stand der Dinge die einzige
Möglichkeit, dass die Akteure der Wirtschaft die Kontrolle über ihre
eigenen Daten zurückgewönnen, Herren ihrer Biografie blieben, der
Interpretation durch andere etwas entgegenzusetzen hätten. Das Ziel
müsste sein, sich selber zu Wort zu melden, statt über sich befinden zu
lassen.
Autobiografien würden nicht nur die Außensicht relativieren und
korrigieren, zu einem ausgewogeneren Urteil beitragen. Sie wären die
einzige Quelle, um etwas über die innere Welt der Wirtschaftsführer zu
erfahren, ihre Wert- und Zielvorstellungen, ihre Grundüberzeugungen,
ihre ethischen Maßstäbe, ihre Denk- und Entscheidungsmuster, ihre
Motive und Antriebe, immer von neuem überaus komplexe, scheinbar
aussichtslose Vorhaben anzupacken und zu Wege zu bringen usw. Diese
subjektive Seite, mag man sie Gesinnung, Haltung, Denkweise oder wie
auch immer nennen, ist nach wie vor eine große Unbekannte. Sie dürfte
aber den Boden bilden für das Selbstbewusstsein der Industriekader, für
ihre Gewissheit, unter den gegebenen Bedingungen der Verantwortung
gerecht geworden zu sein, etwas in die Zukunft Weisendes geleistet zu
haben.
Wer waren überhaupt die ostdeutschen Wirtschaftsbosse (bis auf zwei
Generaldirektorinnen handelte es sich ausschließlich um Männer)? Wie
gesagt, sie sind der breiten Öffentlichkeit nicht einmal dem Namen nach
bekannt. In den internationalen und deutschen biografischen Lexika
sucht man sie vergebens, ebenfalls in den spezielleren
Manager-Nachschlagewerken, Handbüchern und Darstellungen zur deutschen
Wirtschaftselite des 20. Jahrhunderts. Lediglich das Internationale Biographische Archiv (Munzinger-Archiv)
verzeichnet unter der Klassifikation Wirtschaftsmanager,
Industriemanager, Wirtschaftspolitiker einige wenige
Kombinatsdirektoren wie Friedrich Wokurka, Herbert Kroker oder Wolfgang
Biermann. Sie werden dort hinsichtlich Herkunft, Ausbildung und Wirken
vorgestellt. Die Portraits des Ravensburger Unternehmens zeichnen
sachlich den Werdegang nach, ordnen Leistungen ein und würdigen die
jeweilige Führungspersönlichkeit.
Selbst in rein DDR-bezogenen biografischen Nachschlagewerken wie Wer war wer in der DDR?
sind Wirtschaftsleute deutlich unterrepräsentiert. Das Autorenteam vom
Christoph Links Verlag hat in dieser Hinsicht zwar Anstrengungen
unternommen, aber noch keinen befriedigenden Stand erreicht. Während
die 1. Auflage von 1996 nur 15 Generaldirektoren von Kombinaten
verzeichnete, enthält die 5. Auflage von 2010 immerhin schon 56
derartige Kurzbiografien. Das sind 1.4 Prozent der namentlich
Erwähnten. Man erfährt dort alles über Chris Doerk oder Herbert Köfer,
über Fußballer und Schachspieler, Kirchenjuristen und Sprachforscher,
Bürgermeister, Abgeordnete und Funktionäre, aber nichts über einen
Generaldirektor wie etwa Rudi Rosenkranz, der mit Textima
Karl-Marx-Stadt einen der großen Tanker (30.000 Beschäftigte) durchs
Fahrwasser der DDR-Wirtschaft geleitete. Die Führungsposten in den 257
zentral- und bezirksgeleiteten Kombinaten sind im Laufe der Zeit von
unterschiedlichen Personen besetzt gewesen. Nur selten hat ein
„General“ das Unternehmen von der Gründung bis zum Ende geführt. Es
müssten in einem zuverlässigen Nachschlagewerk also allein auf dieser
Leitungsebene Hunderte von biografischen Portraits enthalten sein.
Ein spezielles Lexikon der DDR-Wirtschafts- oder Industriemanager gibt
es nicht. Es existieren Lexika der (politischen) Funktionäre, der
DDR-Opposition, der DDR-Künstler, -Sportler, -Historiker, -Stars usw.,
der DDR-Literatur und des DDR-Rocks. In Kürschners Gelehrtenkalender
wurden nach der Wende in aller Eile die Lebensdaten und Arbeitsfelder
der an DDR-Universitäten und Hochschulen tätigen Wissenschaftler
aufgenommen, so dass es vor den großen Entlassungswellen zumindest eine
unvollständige Momentaufnahme von diesem Zeitpunkt gibt. Vergleichbares
ist für die Chefetagen der Wirtschaft nicht geleistet worden. Das
Rowohlt-Lexikon So funktionierte die DDR
von 1994 listete zwar 169 Kombinate auf, die Ministerien direkt
unterstellt waren, konnte in 85 Prozent der Fälle auch die 1989 dort
amtierenden Generaldirektoren ausmachen. Biografische Angaben wurden
jedoch nur zu sechs Personen aus diesem Kreis angeführt, ansonsten
blieb es bei der bloßen Namensnennung. Das Handbuch von 1997 aus dem
Dietz Verlag Berlin Die SED. Geschichte-Organisation-Politik stellt im Abschnitt Kurzbiographien der Führungskader
ganze fünf Kombinatsdirektoren von 1989 vor. Es handelt sich um
diejenigen, die neben ihrer beruflichen Tätigkeit in der Industrie
Mitglied des ZK oder der Zentralen Revisionskommission der SED waren.
Nach dieser Klassifikation wurden Wirtschaftskader nicht als
Führungskader der SED eingestuft.
Das weitgehende Ausblenden der DDR-Wirtschaftselite aus dem
öffentlichen Bewusstsein zeigt einen politischen Wandel an. Bis 1989
war die DDR auch im Westen von vielen als europäischer Industriestaat
eigener Art gesehen worden, dessen politisches System eine alternative
Ordnung darstellte. Erst die Nachwende-Legenden von der durchgängig
maroden Wirtschaft und dem Unrechtsstaat haben die Perspektive verengt.
Von daher ist es erklärlich, dass nun auch die gesamte historische
Forschung und die Erinnerungsindustrie, alle Aufarbeitungs- und
Bewältigungskampagnen in diese Richtung rollen. Dennoch dürfte dies
sehr kurz gedacht sein. Eine vorurteilsfreie Betrachtung und Erörterung
der jüngeren deutschen Geschichte (einschließlich der ostdeutschen)
wäre nicht nur eine lohnende wissenschaftliche Aufgabe. Sie ist auch
aus ganz praktischen Gründen ein Gebot der Stunde.
Denn es zeichnet sich ab, dass ganz andere Wenden vor der Tür stehen,
gegen die das Ende der DDR wohl wirklich nur eine historische Miniatur
war. Hier soll nicht zum wiederholten Mal der drohende Untergang des
Abendlandes beschworen werden. Aber allein schon die demografische
Entwicklung wird dafür sorgen, dass Europa in absehbarer Zeit ein
weltpolitischer Zwerg ist, eine Region, die von Wirtschafts-,
Währungs-, Energie-, Rohstoff-, Umwelt- und vielen anderen Krisen
gebeutelt wird. Unter solchen Bedingungen einen halbwegs akzeptablen
mitteleuropäischen Lebensstandard zu sichern, wird eine große Kunst
sein. Sicher wird das künftige Europa nicht mit der alten DDR
vergleichbar sein. Aber wenn die Musik anderswo spielt, der Zugriff auf
die Reichtümer der Welt begrenzt wird, weil Milliarden anderer Menschen
ihre Ansprüche geltend machen, müssen die inneren Ressourcen
umfassender genutzt werden.
Es wäre übertrieben zu sagen: dann schlägt die Stunde der
Generaldirektoren – schon, weil keiner von ihnen dann mehr wird
Auskunft geben können und weil sich geschichtliche Vorgänge nicht
wiederholen. Aber unter schwierigsten Bedingungen eine Wirtschaft am
Laufen halten, mit dem allgemeinen Mangel an Energie, an Rohstoffen,
Arbeitskräften und vielem anderen fertig werden (ganz im Sinne heutiger
Vorstellungen von Nachhaltigkeit), mit knappen Finanzen auskommen, den
Menschen Arbeit, Brot und ein anständiges Leben sichern – das ließe
sich möglicherweise bei ostdeutschen Industriekadern lernen. Ihr das
eigene Unternehmen und das rein kaufmännische und technokratische
Denken überschreitender Horizont, ihre technologischen,
ingenieurtechnischen, produktionsorganisatorischen und sozialen
Erfahrungen wären zu sichern, die vielen aus der Not geborenen
Lösungen, ihr Teamgeist, aber auch ihr Verständnis für die Situation
der Beschäftigten, ihre Pflicht und Bereitschaft, nicht nur für die
Produktion, sondern auch für die Reproduktion der Arbeitskräfte zu
sorgen. Nur ein Beispiel: Die Einrichtung von Krippenplätzen, woran
heute viele Unternehmen scheitern, gehörte für einen Kombinatsdirektor
noch zu den kleineren Übungen. Es könnte sein, dass in Regionen mit
armen oder ausgedünnten Kommunen den Betrieben wieder solche Funktionen
zuwachsen, wie sie in der Frühzeit der deutschen Industrialisierung und
in der DDR ganz selbstverständlich waren – die notwendige Infrastruktur
zu sichern, das soziale und kulturelle Leben zu organisieren.
Andere Szenarien, etwa dass Europa am Tropf der aufstrebenden neuen
politischen und wirtschaftlichen Machtzentren hängen wird, sollen hier
nicht diskutiert werden.
In jedem Fall wäre es wichtig, die Erfahrungen gestandener
DDR-Industriekader zu sichern. Schließlich war die ostdeutsche
Re-Industrialisierung nach dem Krieg in mehrfacher Hinsicht eine
Erfolgsgeschichte. Abgeschnitten von den bisherigen Rohstoff- und
Energiequellen gelang es, eine Industrie ohne Privateigentum und ohne
Konkurrenzwirtschaft aufzubauen. Das verlangte einen besonderen Typ von
Wirtschaftsführern, die die DDR binnen weniger Jahrzehnte in ein
international geachtetes Industrieland verwandelt haben. Die
Erfolgsgeschichte des deutschen Kapitalismus ist sehr gut erforscht und
im Gedächtnis der Deutschen fest verankert. Die Lebensgeschichten
deutscher Industriepioniere gehören nach wie vor zu den Bestsellern des
Büchermarktes, sind auch in der jungen Generation präsent.
Die industrielle Erfolgsgeschichte der DDR ist dagegen wenig erforscht
und noch weniger in den Köpfen der Menschen verankert. Seit dem
staatlichen Ende und der weitgehenden Deindustrialisierung des Landes
scheint die Erinnerung an die Blütezeit der ostdeutschen Industrie
verschüttet zu sein. Die Generaldirektoren der Kombinate und ihr
Führungsstab werden ganz selbstverständlich als nicht zur deutschen
Wirtschaftselite des 20. Jahrhunderts zugehörig angesehen. Sie gelten
als Repräsentanten einer kommunistischen Misswirtschaft, werden
bestenfalls in wissenschaftlichen Spezialabhandlungen untersucht, die
in der breiten Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden.
Die ostdeutsche Wirtschaftselite wurde verdrängt. Als Repräsentanten
der SED-Wirtschaftspolitik galten ihre Vertreter als politisch
belastet. Von Hause aus ganz überwiegend Ingenieure und
Naturwissenschaftler fehlten ihnen viele der für eine Marktwirtschaft
unumgänglichen betriebs-, finanz- und weltwirtschaftlichen Kompetenzen.
Und es mangelte ihnen an Elitebewusstsein als Folge ihres
Herkunftsmilieus und ihrer jahrzehntelangen DDR-Sozialisation. Schon
allein vom Habitus her konnten sie unter West-Managern nicht bestehen.
All das ist Geschichte. Nun wäre es an der Zeit, nicht weiter die
vermeintlichen Defizite aufzulisten, sondern ganz andere Fragen zu
stellen: Was machte diese Industriekader in der DDR so erfolgreich?
Worin bestand ihr soziales und kulturelles Kapital? Eine Antwort
müssten die Akteure selbst geben und dabei in Deutungskonkurrenz zu
Zeithistorikern und Soziologen treten. Letztere können
Rekrutierungsmuster und Karrierewege der Kombinatseliten nachzeichnen,
nicht aber die subjektive Seite dieser Vorgänge. Mit Max Weber wäre zu
fragen: Was waren das für Typen, wovon haben sie sich leiten lassen,
von welchen Gesellschafts- und Kulturauffassungen, von welchem
Wirtschafts- und Berufsethos? Gab es so etwas wie den „Geist des
Sozialismus“, eine Übereinstimmung von weltanschaulichen
Grundüberzeugungen und Wirtschaftsgesinnung, die sich nicht mehr auf
die Bourgeoise gründeten, sondern einen anderen sozialen Träger hatten?
Oder war die sozialistische Arbeits- und Berufsauffassung nur eine
Spielart der protestantischen bzw. pietistischen?
Inwiefern waren Industriekader Motor des Wirtschaftslebens? Worauf
gründete sich ihre Innovations- und Risikobereitschaft? Was hat sie
ausgebremst? Welche Spielräume, welche reale Macht hatten
Führungskräfte in den Kombinaten? Was konnten sie nicht? Wie kamen sie
mit der Verantwortung für alles und jedes und mit der Überfülle an
Aufgaben zu recht? Wie leitet man ein Unternehmen, in dem große Gruppen
der Beschäftigten gar nicht oder nur eingeschränkt an der
Erwirtschaftung des Betriebsergebnisses beteiligt sind? Kein Konzern
hatte sich herumzuschlagen mit Auflagen zur Konsumgüterproduktion, zur
Frauen- und Jugendförderung, zur Erwachsenenqualifizierung, zum warmen
Essen in der Nachtschicht, zur medizinischen Versorgung, zu Kitas und
Betriebsferienlagern, zur polytechnischen Erziehung der Schüler, zur
Betreuung der Rentner, zur Wiedereingliederung straffällig Gewordener,
zu einer derart überbordenden Kulturarbeit, dass Enthusiasten aller Art
ihrem Hobby auf Betriebs- bzw. Staatskosten nachgehen konnten. Waren
dies „Errungenschaften“ oder schlicht Belastungen des Arbeitszeitfonds,
die auf die Produktivität drückten? Wirtschaftsführer wussten genau,
dass solche Aktivitäten „schlecht fürs Geschäft“, im
gesamtgesellschaftlichen Interesse aber unumgänglich waren.
Was waren die Antriebe, sich solch einem Gewirr einander auch
widersprechender Anforderungen zu stellen? Das Geld kann es bekanntlich
nicht gewesen sein und auch nicht die lächerlich geringfügigen
sonstigen „Privilegien“. In der Literatur ist mitunter beiläufig von
verschiedenen Typen von Industriekapitänen die Rede, ohne dass dafür
Belege herangezogen werden. Da wird berichtet von Ingenieuren, die sich
mit aller Leidenschaft der Technik verschrieben hatten, von
Großorganisatoren, bei denen zuverlässig Eines ins Andere greifen
musste, vom sozial-fürsorglichen Hausvatertyp, vom machtbesessenen
Schinder usw. Wenn es sie denn gegeben hat, wie konnten
Führungspersönlichkeiten von so unterschiedlichem Zuschnitt in einer
zentralverwalteten Planwirtschaft bestehen?
Diese und andere Fragen werden zu beantworten sein, sobald deutlich
mehr Autobiografien von Generaldirektoren und ihren Stellvertretern,
von den Fachdirektoren für Kader und Bildung, für Technologie, für
Ökonomie, für Kultur und Sozialwesen, von Hauptbuchhaltern und
Justitiaren, von den einzelnen Betriebsdirektoren, von
Abteilungsleitern usw. vorliegen.
Es wäre also endlich damit zu beginnen, diesen Personenkreis zu
autobiografischen Äußerungen zu ermutigen, dies auch professionell zu
begleiten und finanziell zu fördern. Die vorgelegten Lebensberichte von
Heinz Schwarz, Herbert Richter und Werner Bahmann bieten
unterschiedliche Varianten an, wie man sich solch einem Unterfangen
nähern kann. Mit dem Abstand der Jahre und den neuen Erfahrungen in der
Marktwirtschaft blicken sie auf ihr Tun in der Planwirtschaft zurück.
Und sie schauen in die Zukunft. All dies werden in Gedanken auch viele
andere Fachleute aus der DDR-Wirtschaft schon getan haben. Jetzt heißt
es nur noch: Aufschreiben oder einem anderen erzählen, der das dann zu
Papier bringt! |
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