Report | Kulturation 1/2010 | Gerd Dietrich | Sieben Arten „Ostalgie“ zu beschreiben
| Festvortrag
von Prof. Dr. G. Dietrich zur Absolventenverabschiedung des Instituts
für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin im Juli
2010
Die Gedenkjahre 2009 und 2010 und all die Zwanzig-Jahr-Feiern
überwältigen uns geradezu. Neben den öffentlichen und politischen
Inszenierungen stehen die individuellen Erinnerungen der „Zeitzeugen“.
Da hat es der Historiker schwer, sich zu positionieren.
Und bekanntlich ist der Zeitzeuge der „größte Feind“ des
Historikers. Noch problematischer allerdings ist, wenn Zeitzeuge und
Historiker in einer Person auftreten. Diese eigenartige Mischung steht
hier vor Ihnen. Einer mit „Primärerfahrung“ DDR. Da können Sie keine
abschließenden Wahrheiten erwarten.
Unter dem ironischen Titel: Sieben Arten „Ostalgie“ zu beschreiben,
soll es um den Umgang mit der DDR-Erinnerung nach 1990 gehen, also
nicht um historische oder wissenschaftliche Aufarbeitung, sondern um
den alltäglichen und medialen Gebrauch von Geschichte, nicht um
Vergangenheit sondern um Gegenwart.
Dieses Kunstwort aus Osten und Nostalgie hat ganz unterschiedliche
Facetten. Es wird als stigmatisierender Begriff, als wertneutrales
Etikett oder als positives Kennzeichen verwendet. Das Copyright auf
„Ostalgie“ hat sich zwar der Dresdner Kabarettist Uwe Steimle
gesichert, aber es handelt sich um ein gesamtdeutsches Phänomen.
In der wissenschaftlichen Diskussion taucht der Begriff nicht als
‚ernstzunehmender’ Gegenstand oder Terminus auf. Im aktuellen
Sprachgebrauch dagegen ist „Ostalgie“ ein häufig verwendetes
Schlagwort. Doch dahinter verbirgt sich mehr, als nur die Wiederkehr und „die Popularisierung von DDR-Produkten, -Parolen, -Zeichen und -Symbolen und der DDR-Alltagskultur“ . (Neller, 2006, S. 49)
So bin ich auf sieben Arten gekommen: Ostalgie als Westalgie,
Ostalgie als Ablenkungsmanöver, als Relativierungsversuch, als
Selbsttherapie, als Kommerzialisierung, als Laiendiskurs und als
Integrationsfaktor. Ich versuche, die sieben Arten wertfrei zu
beschreiben, um die Realitäten von den Klischees zu trennen.
1. Ostalgie als Westalgie
Da gab es in den 80er Jahren in der Bundesrepublik geradezu ein
Revival der Fünfziger. Es appellierte an Vorstellungen von der
Einfachheit und dem Heroismus der Anfänge, der Selbstverständlichkeit
von Wachstum. Es stand in Analogie zur Redeweise von den goldenen
Zwanzigern, aber ohne deren Beigeschmack von Verruchtheit und bösem
Ende. Die Fünfziger - das verströmte Biedersinn. Tüchtig hatte man die
Ärmel aufgekrempelt, stolz klopfte man sich noch in der Erinnerung an
die Brust.
Die "Enkel Adenauers" benutzten die Wiederentdeckung der 50er als
Hinweis auf eine schier endlose Erfolgsgeschichte, die durch Ordnung
und Fleiß nur weiter zu treiben sei. Die Kritiker dagegen entdeckten
eine Verlängerung der Muffigkeit und der Bespitzelung. Beide Aspekte
zählen inzwischen zu den rhetorischen Formeln über die 50er.
Die Vereinigung der Deutschen 1990 hat zwar diesen Blick auf die Fünfziger nicht schlagartig geändert. Sie hat ihm aber eine neue Nuance gegeben. Nun wurde dieser Blick auf die Ostdeutschen gerichtet: Da wurde den Ostdeutschen zum einen offen und direkt die westdeutsche Erfolgsgeschichte als Drehbuch für ein neues Wirtschaftswunder suggeriert.
Da entdeckte zum anderen der westliche Blick einen Osten,
der voll war von Signalen, die man im Westen den 50ern zuordnete. Als
ein ZEIT - Reporter 1990 die "Interwerbung", eine Staatsagentur der DDR
besuchte, fiel ihm auf: "Die kleinen Zimmer und die alten Möbel erinnern an eine Polizeidienststelle der fünfziger Jahre. "
(ZEIT-Magazin 22/1990) Auch die Zärtlichkeit, die anfangs dem
schmucklosen Trabbi entgegengebracht wurde, mochte wohl die Rührung
über die eigenen Anfänge ins Gedächtnis gebracht haben: die Erinnerung
an Lloyd und Isetta, an Messerschmidt-Kabinenroller oder VW-Käfer mit
Brezelfenster. Bei Reisen in die DDR, schrieb der SPIEGEL, werde man
durch eine "Zeitmaschine in die Nierentisch-Ära der fünfziger Jahre" katapultiert. Es sei alles "ein bisschen spießig, so daneben, dass es schon wieder lustig ist". (Spiegel, 12/1990, S.124 )
Auf diesem Umweg kam zu Recht wieder die Spießigkeit und Muffigkeit der 50er zur Sprache, nun aber allein auf die DDR bezogen.
2. Ostalgie als Ablenkungsmanöver
Als am 3. Oktober 1990 die DDR der Bundesrepublik beitrat, musste
selbstverständlich gelten, dass eine Übernahme von Funktionsträgern des
Partei-, Staats- und Unterdrückungsapparats ausgeschlossen war. Mit dem
undifferenzierten Kriterium der „Staatsnähe“ aber wurden ca. 1 Mill.
Personen aus den Apparaten, dem Medienbereich und dem
Wissenschaftssektor abgewickelt. Möglich war dieser Elitenwechsel
allein, weil genügend westdeutsches Personal bereit stand.
Ich will jetzt gar keinen Vergleich zur Situation nach 1945 im
Westen anstellen. Die Bundesrepublik rühmte sich gelegentlich, mit der
sog. kalten Amnestie für die Funktionseliten des Nationalsozialismus das größte Resozialisierungswerk in der deutschen Geschichte geleistet zu haben. Ich will nur ein Beispiel nennen:
Verteidigungsminister Volker Rühe von der CDU ließ den im Osten Gedienten mitteilen: Sie „sind keine Reservisten der Bundeswehr. Sie gelten als Gediente in fremden Streitkräften. “
Als ein ehemaliger General der NVA schriftlich nachfragte, ob er sich -
ohne Pensionsansprüche versteht sich - wenigstens General a. D. nennen
dürfe, erhielt er eine deutliche Absage. Darauf bekannte er kleinlaut,
dass er in der Wehrmacht bereits Leutnant gewesen sei.
Selbstverständlich, schrieb ihm Minister Rühe, dürfe er sich Leutnant
a. D. nennen.
Von "Anfang an hat die von den Medien beherrschte Öffentlichkeit
die ostdeutsche Region und ihre Population als eine Sonderzone mit
besonderen Bewohnern behandelt. - Egal, ob von den gefährlichen
Osteuropäern, vom 'Subventionsgrab Ost', von der 'Plattenbaumentalität'
oder von den 'Frustrierten' die Rede war. Das gilt ebenso für die
'freundlich-positive' Darstellung der Ostdeutschen. Denn gelingt es ...
(ihnen), sich öffentlich zu behaupten, wird ihnen zwangsläufig das Ost
- Etikett angeheftet ... genießen sie den 'Ostbonus' und haben die
'Ostsicht' einzubringen“ . (Mühlberg, 2005, S.13)
Der Soziologe Thomas Ahbe brachte es auf den Punkt: "Nichts hat
die Westdeutschen so geeint wie der Beitritt der Ostdeutschen.
Möglicherweise ist dieser … uniforme und auch affektiv gleich gestimmte
Diskurs über die Ostdeutschen ein noch unbekanntes Dokument
westdeutscher Wir-Identität. " (Ahbe, 2004, S. 21)
„Ostalgie“ also als Vorwurf der Westdeutschen, dass sich ihre
Erzählung vom Wirtschaftswunder nicht wiederholen ließ, s ondern
Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsrückgang
hervorbrachte. „Diese Konstellation ist bis heute nicht geeignet,
das Verhältnis zwischen der west- und der ostdeutschen
Bevölkerungsgruppe zu entspannen. Erfolg verbindet, Misserfolg trennt." (Ebenda, S. 19/20)
3. Ostalgie als Relativierungsversuch
Nach dem Mauerfall war die ganze Aufmerksamkeit der Ostdeutschen
auf die neue Situation konzentriert. Im Überschwang der neu gewonnenen
Freiheit trennten sie sich leichtsinnig von allem, was nun
'historischer Ballast' geworden war:
Ganze Bibliotheken flogen in die Container, Straßen und Plätze
wurden umbenannt, Denkmäler abgebaut und in den Straßen staute sich der
Sperrmüll. Die 'Super-Illu', die neue Illustrierte für die Ostdeutschen, setzte auf den Titel „Vor
der Wende musste Meike aus Berlin die hässliche blaue FDJ-Bluse
anziehen. Heute trägt sie am liebsten Reizwäsche. Doch der Wandel ist
nicht nur äußerlich. Die neue Freiheit ist ein Ventil für die Seele." (Mühlberg, 2002, S. 231)
In dieser Zeit wurde intensiv westdeutsches Verhalten gelernt. Es
war eine Zeit optimistischer Kopflosigkeit und Neugier. Fast 80 % der
Ostdeutschen stimmten der sozialen Marktwirtschaft und der westlichen
Parteien-Demokratie zu. "Nie dürfte die Distanz zur DDR-Vergangenheit größer … gewesen sein. " (Ebenda, S. 232)
Als aber nach dem Abebben der Vereinigungseuphorie eine spezifisch
ostdeutsche Identität wieder auflebte, war das für den Westen
„Ostalgie“. So entstand jene fragwürdige Sozialisationsthese, nach der
alle Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen auf die Sozialisation
der Ostdeutschen in einem „totalitären System“ zurückzuführen seien.
Die Mehrheit der Ostdeutschen dagegen gebraucht „Ostalgie“, um
diese einseitige Bestimmung zu relativieren. Dahinter verbirgt sich
keine Sehnsucht nach der alten DDR. Es ist vielmehr „eine Reaktion
auf die empfundene kollektive Subalternität“, ein „Schutzwall gegen
befürchtete soziale und moralische Deklassierung“ und „ein Medium der
Artikulation gemeinsamer Ost-Interessen“ . (Fritze, 1997, S. 108)
In diesem Kontext entstand dann die Erfahrungsthese: im Unterschied zur Sozialisationsthese
sieht sie erst in den Erfahrungen der Ostdeutschen nach 1990 die
Hauptursache für deren Distinktionsbedarf. - Wer also glaubte, dass der
Osten schnell im Westen aufgehen würde und sich die kulturellen
Unterschiede zwischen Ost und West abschwächen würden, der wurde bald
eines besseren belehrt. - Wir sind ein Volk, riefen hoffnungsvoll die Ostdeutschen. Wir auch, antworteten distanziert die Westdeutschen.
4. Ostalgie als Selbsttherapie
Allmählich begriffen die Ostdeutschen, so der Kulturwissenschaftler Dietrich Mühlberg, „was
da in ihrer Umgebung ablief, wer hier die neuen Eigentümer waren, wer
das Sagen hatte. Ihre tatsächlichen Möglichkeiten zeichneten sich
klarer ab und wurden ausprobiert …auch die ehedem vertrauten
Lebensregeln und Alltagspraxen auf ihre Tauglichkeit geprüft und
allmählich geahnt, zu welcher sozialen Gruppe, zu welchem Milieu der
neuen Gesellschaft man gehörte." (Mühlberg, 2002, S. 232)
In dieser Phase votierten über 80 % der Ostdeutschen dafür, dass der Sozialismus Veine "gute Idee" gewesen ist, die nur schlecht ausgeführt wurde. Darin drückte sich vor allem "die Verteidigung der in Misskredit geratenen eigenen Vergangenheit" aus. Zugleich fanden sich "erste Signale eines neuen Selbstbewusstseins ". (S. 233)
Als Gegenreaktion entstand das westdeutsche Medienkonstrukt vom Bild des "miesen, undankbaren Ostdeutschen" bzw. die Rede vom "neutrotzigen Osten". Für die Westdeutschen war nun offenbar das Ende der "Schonzeit für die abartigen Ostdeutschen erreicht. " (S. 237)
Der Mehrheit der Ostdeutschen jedoch wurde bewusst, "dass die
eigene Ostvergangenheit noch über Jahrzehnte ein persönlicher Nachteil
sein würde. Damit entstand ein stärkerer Druck, sich dieser
Vergangenheit zu stellen“ . Und zehn Jahre nach der deutschen Einheit hatte ein großer Teil der Ostdeutschen wieder „eine emotional positive Beziehung zur DDR-Vergangenheit". (S. 242)
Diesen Schluss ließen zahlreiche Umfragen zu. Hans Misselwitz von der SPD erklärte das folgendermaßen: „Es
ist die öffentliche und systematische Ignoranz bzw. Nichtanerkennung
ihrer Geschichte, die aus den unterschiedlichen Menschen und
gegensätzlichen Schicksalen in der DDR nun in der Bundesrepublik ein
paradoxes DDR - Erfahrungskollektiv schmiedet“. (Misselwitz, 1996, S. 36)
5. Ostalgie als Kommerzialisierung
Das Bedürfnis nach Erinnern arbeitete sich zuerst an der Ding- und
der Bilderwelt der DDR ab. Eine Unmenge von Bilderbüchern, CDs und
Videos, Gesellschaftsspielen, Spielzeug und Scherzartikel bedienen
dieses Bedürfnis und bringen allerhand Geld in die Kassen: „Vergnügungs- und Kulturindustrie“ eben.
„Ost-Marken kamen wieder auf den Markt. Eine jährliche
„Ostprodukte-Messe“ erinnert den „Geschmack“ des Ostens. Die Bäcker
verkaufen "echte Ostschrippen" und die nach der Wende verschmähten
Produkte kehrten in die Regale zurück. - Noch heute meide ich jede
„Kaufhalle“, in der es nicht wenigstens Pflaumenmus aus Mühlhausen,
Ziegenkäse aus Altenburg und Gurken aus dem Spreewald gibt – so viel
zum „Magen“.
Und für die „Seele“ wiederholten MDR und ORB DEFA-Filme und
DDR-Fernsehsendungen. ARD, ZDF und RTL brachten Ostfilme und
Ostalgie-Shows. Ostalgie-Partys fanden großen Zulauf: DDR-Symbole,
Namen und Rituale wurden hervorgekramt und neu montiert, in der Regel
verfremdet und ironisch gebrochen.
„Jetzt gibt der Westen den Ostdeutschen Spiele, weil er ihnen Brot nicht mehr geben kann“ , so der Satiriker Mathias Wedel. „Vorwärts
immer, rückwärts nimmer. Die neue Ostalgie ist ein typisch
westdeutscher Reflex… Jetzt wird die Wiedervereinigung vollendet. Jetzt
lieben sie den Osten, so, wie er ihnen medial entgegenkommt: als
widerständisch gemütlicher Emmerlich, als der Beutel-Sachse Stumpi und
die naiv beglückte Carmen Nebel. Alles Sachsen, weil der Osten
bekanntlich Sachsen ist.“ (Wedel, 2003)
Und mit Filmen wie "Sonnenallee" oder "Good bye, Lenin"
ist die DDR gesamt-deutsche Populärkultur geworden. Erst im Nachhinein
wurden diese Filme als Ostalgie pur, als reine Komödien und unseriös
bezeichnet. Eine kluge Marktstrategie um ihr Pendant, „Das Leben der anderen“ ,
als seriös und authentisch erscheinen zu lassen. Aber auch das ist ein
Unterhaltungsfilm mit allen Klischees, die dazu gehören. Trotzdem wurde
er „als realistische Darstellung der Repression durch den SED-Staat“ gehandelt.
Der Historiker Thomas Lindenberger hierzu: „Um es … noch
unverblümter zu formulieren: Das ‚Leben der anderen’ inszeniert eine
von der Sache her hauptsächlich … westdeutsche Projektion auf das
irgendwie sonderbare (und nicht einfach nur ‚schlechte’) Andere. “
Der Film ist damit auch ein Angebot, Verständnis für die jeweils
„Anderen“ im gegenwärtigen Deutschland herzustellen. (Lindenberger,
2009, S. 100)
6. Ostalgie als Laiendiskurs
Für die Ostdeutschen war die DDR ein beinahe hermetischer
Erinnerungsraum. Und die westdeutschen Eliten arbeiteten nun offenbar "einen Teil der eigenen Vergangenheit am Osten ab".
(Mühlberg, S. 224). So stehen sich noch oft die Erinnerungen von
Ostdeutschen und die professionellen Geschichtsdeutungen unvermittelt
gegenüber. Daraus ergab sich für viele Ostdeutsche ein verstärkter
Kommunikations- und Kompensationsbedarf und es entstand eine laienhafte
Bewältigungs- und Abschiedspraxis.
Thomas Ahbe prägte den Begriff vom Laien-Diskurs, der „weder ambitioniert noch missionarisch, sondern eher selbstbezogen, beiläufig, flüchtig, nicht dokumentiert“ ist. Bei Ostalgie geht es in diesem Kontext „nicht
um verklärende Erinnerung, sondern auch um die Reflexion der Vor- und
Nachteile der beiden unterschiedlichen Systeme, wie sie sich aus der
Alltagsperspektive offenbaren. “ (Ahbe, 2003, S. 788)
Bald meldete sich auch die junge Generation zu Wort. 1998 erschien der Artikel von Jana Simon: Die Generation Null. Darin stellte sie fest:
"Wir sind ... die jüngsten Zeitzeugen, die noch wissen, wie es
war in der DDR - also eine Generation Null. Zu alt, um unsere
Vergangenheit einfach zu vergessen, und zu jung, um in ihr zu
verharren... Ich kann mit Gewissheit sagen, dass 1989 selbst die
Überzeugtesten in meinem Umkreis die Schnauze voll hatten. Mit der DDR
hat sich niemand mehr identifiziert. ... Die eigene Ost - Identität
haben wir erst nach der Wende kennen gelernt, als wir die Möglichkeit
hatten, uns zu vergleichen - oder verglichen wurden. ...
Inzwischen hat mein Jahrgang sich ganz gut auf einer Art
Zwischenstation eingerichtet - halb Osten halb Westen. Das Gefühl
nirgendwo mehr richtig dazuzugehören, ist stark ausgeprägt. ... Wir
sind nicht mehr in der DDR, aber auch noch nicht ganz in der
Bundesrepublik angekommen. " (Simon, 1998)
7. Ostalgie als Integrationsfaktor
Mit „Ostalgie“ als Integrationsfaktor demonstriert ein großer Teil
der Ostdeutschen, dass sie bei der Ankunft im vereinigten Deutschland
nicht auf ihre eigenen Erinnerungen und Werte verzichten wollen. Sie
setzen ihre abweichenden Erfahrungen gegen das Gefühl, Bürger „zweiter
Klasse“ zu sein und für ein gleichberechtigtes Ankommen im Westen.
Der Publizist Christoph Dieckmann aus der Bürgerbewegung schrieb schon 1998: „Die
Einheit war den Ostlern als nationale Emanzipation versprochen. Schon
wieder wären sie die Sieger der Geschichte. Abgewickelt würde nur die
DDR, also die SED. Allgemeine Begeisterung. Erst post festum erkannten
sich die Ossis selbst in der DDR.
Selbstverständlich gibt es Ost - Identität. Jeder hat den Wunsch,
das eigene Leben als ungespalten zu empfinden. Da der DDRler sesshaft
leben musste, liegen die Spielplätze seiner Biographie ziemlich nahe
beieinander und verschwimmen zur Erinnerungsprovinz. Es ist menschlich
sich zu wünschen, in den heutigen Zeiten mögen die früheren kenntlich
bleiben. Das Hirn will Heimat. “ (Dieckmann, 1998, S. 61/62)
„Die Ost- Identität ist ein Nachwende - Phänomen. Man muss
hinaus, um heimzukehren. Es bedarf des Fremden zu erkennen, was ich
bin. Was nie strittig wird, ist auch nicht existent. " (Dieckmann, 1998, S. 74)
Die Deutungshoheit über das eigene Leben wiederzuerlangen, ist kein
separatistisches Sonderinteresse der Ostdeutschen, sondern eine
Bedingung ihrer Integration in die neue Gesellschaft. Hier muss jene dritte Hypothese der Entstehung ostdeutscher Identität genannt werden: die Kompensationsthese,
die der Realität wohl am nächsten kommt. Danach speist sich
ostdeutsches Selbstbewusstsein aus den Erfahrungen des Widerspruchs und
Widerstands gegen die Sozialisation in der DDR ebenso wie aus den
Erfahrungen der Benachteiligung im geeinten Deutschland.
Darum ist Daniela Dahn durchaus zuzustimmen, dass „die Ostdeutschen letztlich eine größere Tradition des Lebens im inneren Dissens haben". Die Ostdeutschen "sind
einfach besser darauf trainiert, es auszuhalten, dagegen zu sein.
Dieses In-Frage-stellen-Können führt heute folgerichtig dazu, dass die
Bundesrepublik genauso kritisch gesehen wird wie die DDR.“ (Dahn, 1998, S. 104)
Ostalgie ist deshalb auch kein Opferdiskurs, wie so häufig
bei nostalgischen Attitüden. Im Gegenteil. Die Mehrheit der
Ostdeutschen weiß um ihren Anteil an der friedlichen Überwindung der
Diktatur, um nicht von Stolz zu reden. Sie weiß damit auch um ihren
Anteil an den Zuständen und Prozessen, von denen sie nun profitiert
oder an denen sie leidet.
Lassen Sie mich zum Schluss noch folgendes sagen:
Natürlich gibt es nicht die Ostdeutschen, selbstverständlich ist alles viel
differenzierter und freilich hätte ich erst einmal das „Wunder“
würdigen sollen, das uns mit der Einheit geschah. Doch es ging mir um
den alltäglichen Gebrauch von Geschichte: nicht um das „Weichspülen“
der SED-Diktatur, sondern um den symbolhaften Umgang mit
DDR-Erfahrungen in der Gegenwart.
Die Ostdeutschen haben ihre Vergangenheit in das neue Deutschland
mitgenommen. Zu Recht beanspruchen sie, dass dieses daran teil hat und
das Nachdenken darüber nicht als Nostalgie abwertet. – Zumal
auch langfristige Studien nur einen Anteil von unter 10% totalen
DDR-Nostalgikern nachweisen. (Neller, 2006, S.145/146) )
„Es wäre schon viel gewonnen, wenn man die ambivalenten Befunde
in Ost und West als solche akzeptierte und nicht auf der Richtigkeit
der eigenen Meinung beharrte“ , betonte der Historiker Christoph Kleßmann. Um gelassener mit den Problemen umzugehen, verwies er auf die „uralte Marx’sche Einsicht, dass sich der Überbau unendlich viel langsamer umwälzt als die ökonomische Basis“. (Kleßmann, 2009, S. 14)
Auch der häufig anklagend verwendete Topos von der ausgebliebenen
„Ankunft“ verkennt, welche Adaptionsleistungen den Ostdeutschen seit
1990 zugemutet wurden. Schließlich haben sie einen doppelten
Strukturbruch zu bewältigen: einen gesellschaftlichen Systemwandel vor
dem Hintergrund eines weltweiten Strukturwandels. Doch das wäre ein
neues Thema.
Worum es also offensichtlich bei „Ostalgie“ geht, ist nicht Heimweh nach der DDR. Ostalgiker wollen die DDR nicht wieder haben, aber sie lassen sie sich auch nicht nehmen. Die modernen
Westdeutschen sollten das nicht als Undankbarkeit beklagen, sondern als
Lern- und Zivilisationsprozess begrüßen. Und natürlich haben die
Ostdeutschen den Westdeutschen die Erfahrung des Scheiterns voraus.
Der Dichter Wolfgang Hilbig, der dem untergegangenen Staat schon
das Totenlied sang, als der sich noch im Blühen wähnte; der 1985 die
DDR verließ, aber auch im Westen keinen festen Boden fand, sagte in
seiner Lessingpreis-Rede:
„Vielleicht wird uns eines Tages die Erkenntnis kommen, dass
erst jener Beitritt zur Bundesrepublik uns zu den DDR-Bürgern hat
werden lassen, die wir nie gewesen sind, jedenfalls nicht, solange wir
dazu gezwungen waren. “ (Hilbig, 1997, S. 104)
Und Martin Sonneborn vom Satiremagazin „Titanic“ verkürzte das ganze Thema auf das Bonmot: „Die DDR hat es nie gegeben, und sie war besser als der Westen.“ (Sonneborn, 2008)
Literatur
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kulturelle Aspekte des DDR-Alltags, Berlin 2003.
Ahbe, Thomas: Die Konstruktion der Ostdeutschen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 41-41/2004, 4.10. 2004.
Ahbe, Thomas: Der Osten aus der Sicht des Westens. In: Bahrmann,
H./ Links, Ch.: Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit - Eine
Zwischenbilanz, Berlin 2005.
Ahbe, Thomas: Ostalgie. Zum Ungang mit der DDR-Vergangenheit in den 1990er Jahren, Erfurt 2005.
Ahbe, Thomas: Ostdeutsche und westdeutsche Identität. Über Gründe
und Sinn einer Differenz. In: vorgänge, Heft 3, September 2009.
Bender, Peter: Erinnern und Vergessen. Deutsche Geschichte 1945 und 1989. In: Sinn und Form 5/2008.
Fritze, Lothar: Die Gegenwart des Vergangenen. Über das Weiterleben der DDR nach ihrem Ende, Weimar Köln Wien 1997.
Dahn, Daniela: Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehagen in der Einheit, Reinbek bei Hamburg 1997.
Dahn, Daniela: Vertreibung ins Paradies. Unzeitgemäße Texte zur Zeit, ebenda, Hamburg 1998.
Dieckmann Christoph: Das wahre Leben im falschen. Geschichten von ostdeutscher Identität, Berlin 1998.
Dieckmann, Christoph: Die Geschichte der Geschichten. Acht
Kapitelchen über ostdeutsche Identität. In: Czechowski, Ingrid: Drei
Meilen vor dem Anfang. Reden über die Zukunft, Leipzig 1998.
Hilbig, Wolfgang: Wie wir zu DDR-Bürgern wurden. Kritische
Anmerkungen zur deutschen Vereinigung. In: Freitag, 31. Januar. 1997.
Kleßmann, Christoph: „Deutschland einig Vaterland“? Politische und
gesellschaftliche Verwerfungen im Prozess der deutschen Vereinigung.
In: Zeithistorische Forschungen 1/2009.
Koch, Thomas: Ost-Identität. Anker - Anspruch - Anschlußmöglichkeiten. In: Utopie kreativ, H. 97/98 (November/Dezember) 1998.
Lindenberger, Thomas: Stasiploitation – why not? … In: ZeitRäume. Potsdamer Almanach des ZZF 2008. Potsdam 2009.
Meier, Christian: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit
des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit,
München 2010.
Misselwitz, Hans: Nicht länger mit dem Gesicht nach Westen. Das neue Selbstbewusstsein der Ostdeutschen, Bonn 1996.
Mühlberg, Dietrich: Kulturelle Differenz als Voraussetzung innerer
Stabilität der deutschen Gesellschaft? In: Misselwitz, Hans/ Wehrlich,
Katrin (Hg.): 1989: Später Aufbruch - frühes Ende? Eine Bilanz, Berlin
2000.
Mühlberg, Dietrich: Vom langsamen Wandel der Erinnerung an die DDR.
In: Jarausch, Konrad H./ Sabrow, Martin (Hg.): Verletztes Gedächtnis.
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Mühlberg, Dietrich: Deutschland nach 1989: politisch geeint -
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www.kulturation.de Nr.6, 2/2005.
Neller, Katja: DDR-Nostalgie. Dimensionen der Orientierungen der
Ostdeutschen gegenüber der ehemaligen DDR, ihre Ursachen und
politischen Konnotationen, Wiesbaden 2006.
Simon, Jana: Die Generation Null. In: Tagesspiegel, 22.10.1998.
Sonneborn, Martin: Über seinen Film Heimatkunde. In: tipp, Berlin, 1. Oktober 2008.
Wedel, Mathias: Jetzt seit ihr alle Spreewaldgurken: In: Freitag, 29 .August 2003.
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