Report | Kulturation 2016 | Frank Thomas Koch | Bilanzschrift, Manifest, Zwischenrede, Abgesang oder Vermächtnis der DDR-Forschung?
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Auf der letzten Redaktionsberatung von Kulturation kam es zu einem
recht intensiven Gedankenaustausch über die jüngste Bestandsaufnahme
der DDR-Forscher. Verursacht auch durch deren mehrdeutigen Titel: die
DDR als Chance. Wer rechnete da wem welche Chance aus? Die Meinungen
waren geteilt. Meinten Skeptiker, es gäbe da vom "Westen nichts Neues"
zu hören, sahen vorsichtige Optimisten, dass sich in dieser Umfrage
unter Spezialisten eine Art "Wende" im wissenschaftlichen Umgang mit
der DDR andeute. Schließlich konnte Thomas Koch - zuständig für das
redaktionelle Ressort Sozialwissenschaft - dazu überredet werden, das
Für und Wider gründlich zu prüfen und für das Redaktionsteam eine
sachliche Bestandsaufnahme zu erarbeiten. Allen schien er dafür
besonders geeignet zu sein, weil er zu den Fraktionen der etablierten
DDR-Forschung nur losen Kontakt hat. Kein Fach-Historiker und der
Herkunft nach Kulturwissenschaftler, war er über Jahrzehnte in
sozialwissenschaftliche Projekte eingebunden, in den letzten 26 Jahren
als Mitarbeiter am Brandenburg-Berliner Institut für
Sozialwissenschaftliche Studien (BISS) und mit eigenen Untersuchungen
in der Ostdeutschland-, Transformations- und empirischen
Bildungsforschung tätig.Herausgekommen ist bei diesem erbetenen
Verständigungspapier zugleich eine umfangreiche und recht detaillierte
Rezension des hiermit angezeigten Büchleins: Ulrich Mählert (Hrsg.), "Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema". Metropol Verlag, Berlin 2016, 220 S.
Soll und Haben der bundesdeutschen DDR-Forschung sind schon
mehrfach bilanziert worden, zuletzt 2003 (vgl. Bilanz und Perspektiven
der DDR-Forschung. Hrsg. v. Rainer Eppelmann; Bernd Faulenbach; Ulrich
Mählert, Paderborn 2003.) Der Rezensent, kein "DDR-Forscher", ist seit
den 1980er Jahren mit der westdeutschen DDR-Forschung über eher lose
Fäden verbunden. Zunächst nur als Rezipient einiger ihrer Produktionen,
später dann auch als Autor eigener Texte im Zentralorgan der
DDR-Forschung – dem Deutschland Archiv. Von Ferne konnte ich so manche
jähe Wendung verfolgen. Wie ordnet sich der nun vorgelegte Band in
diesen Reigen ein und womit hebt er sich von früheren Bilanzschriften
ab?
Schon der Titel des von Ulrich Mählert herausgegebenen
Sammelbandes lässt aufhorchen und inne halten: >>Die DDR als
Chance<<.
Aus der Sicht eines Lesers, der die DDR trotz allem als sein
Land wahrgenommen hat, der in der sozialistischen Idee eine der
Grundströmungen der Moderne sieht, der sich als historisch
interessierter Sozialwissenschaftler versteht, der der Geschichte des
Gegenwärtigen auf der Spur ist, ist die im Titel des Bandes
aufscheinende Wendung längst überfällig, ja befreiend und überaus
anregend. Zwar waren manche der im Sammelband vertretenen Positionen
schon im wissenschaftlichen Diskurs vernehmbar, also nicht völlig neu.
Neu, wenn man von vereinzelten ähnlichen Intentionen in den frühen
1990er Jahren einmal absieht, ist der Fokus – mit dem Thema DDR
irgendwelche Chancen zu verbinden. Es äußern sich zudem vorwiegend
Vertreter einer Disziplin, die im zeitgeschichtlichen Bereich der
deutschen Historie arbeiten. Dies ist ein Vorzug, der freilich auch
seinen Preis hat.
Dennoch: Der Band hält auch in beachtlichem Maße, was er
verspricht. Er lotet nicht nur in kompakter und pluralistischer Weise
Nutzen und Nachteil bundesdeutscher [historischer]
>>DDR-Forschung<< aus, sondern in den Beiträgen wird auch
danach gefragt, ob und wie der Fall DDR „… produktiv in Forschungen
einbezogen werden kann, die aktuell und in Zukunft an die Geschichte
Deutschland und Europas im 20. Jahrhundert gestellt werden.“ (S.21).
Dabei rücken auch globalgeschichtliche Perspektiven in den Blick, die
vor allem jene Leser irritieren werden, die mit der DDR Kleinheit, Enge
und Langeweile verbinden.
Bei dem Band handelt es sich um einen beachtlichen Aufschlag,
ein Stück weit um ein verdecktes Manifest, das einen Wechsel der
Wegzeichen verheißt und vielleicht auch befördern hilft. Fast möchte
man ausrufen, von diesem Bande gehe eine neue Epoche der Betrachtung
und wissenschaftlichen Beschäftigung mit der DDR aus und wir können
sagen, wir seien dabei gewesen! Doch ist dem auch so?
Der instruktiven Einführung von Mählert ist zu entnehmen, dass
die Autorinnen und Autoren weitgehend darin übereinstimmten, die „alte
DDR-Forschung“ habe sich „überlebt“ und sei „de facto nicht mehr
existent“ (vgl. S.9). Handelt es sich bei den Texten eher um einen
Abgesang oder um ein neues Beginnen? Wie ein Blick auf die
Geburtsjahrgänge der Autorinnen und Autoren des Textes zeigt, ist hier
keine neue Generation von DDR-Forschern am Werke. Es handelt sich
freilich auch nicht um einen furiosen Abgang. 6 von 22 Autorinnen und
Autoren sind in den 1940er Jahren, 5 in den 1950ern, 9 in den 1960ern,
je einer in den 1970ern und 1980er Jahren geboren worden. Die
Beschäftigung mit der DDR, so scheint es, ist für den
wissenschaftlichen Nachwuchs von heute wenig „sexy“ (Port, S. 165).
Vom Hüten des Feuers
Wenn aber der anregende Band im Hinblick auf die wissenschaftliche
Erkundung der DDR weder Epochenscheide noch Abgesang ist, welche
Funktion ist ihm dann beschieden? Dorothea Wierling hat heute lebende
Forschende im Blick: „Anstatt immer mehr für die DDR-Geschichte zu
beanspruchen – an Lehrstühlen, Unterrichtsstunden oder
Forschungsgeldern – sollten wir sie freigeben für die fremden und
neugieren Blicke anderer Historiker und die Interessen historisch
arbeitender Sozial- und Kulturwissenschaftler…“ (S.213). Man mag indes
nicht recht daran glauben, dass Wierlings freigebende Intention in der
Gegenwartsgesellschaft hinreichende Resonanz finden wird. Die Gründe
lassen sich den Texten entnehmen. Sicher werden und sollen die
Botschaften hier und da auf fruchtbaren Boden fallen. Doch mehr als
Business as usual erwarte ich nicht. Die Funktion des Bandes scheint
mir eher darin zu bestehen, das Feuer für kommende Zeiten und
Generationen zu hüten, werden doch in ihm durchaus brillant Einsichten,
Kompetenzen, Webfehler und Diskurse eines Forschungsfeldes summiert.
Und das ist nicht wenig.
Der Rezensent geht davon nämlich aus, dass mit der
„Wiederkehr“ der sozialen Frage auch eine Wieder- und Neugeburt einer
der Grundströmungen und Ideen der Moderne – der sozialistischen Idee –
weltweit einsetzen wird. Was aber hat das mit der DDR zu tun? Sofern
die künftigen sozialen Träger sozialistischer Bestrebungen Historie
betreiben und sich „monumental“ oder „kritisch“ oder „antiquarisch“
(Nietzsche) auf die Vergangenheit beziehen, wird die DDR eine Rolle
spielen. Stand doch die DDR von allen Ländern des Ostblocks dem
Idealtypus des Realsozialismus noch am nächsten, wenngleich auch die
DDR nicht ohne systemfremde Krücken auskam. Sie hatte immerhin unter
den Ländern des Staatssozialismus die am meisten entwickelte
Volkswirtschaft, den ausgeprägtesten Sozialstaat, das höchste
Lebensniveau. Zwischen Oder und Werra gab es vergleichsweise weniger
Terror und weniger Korruption. Die DDR war wie ihre „Bruderländer“ und
ihre „Gegenspieler“ in ihrer Politik auf wirtschaftliches Wachstum
fixiert, trotz und ungeachtet der Grenzen und Kosten des Wachstums.
Wenn aber, wie hier behauptet, die DDR am Idealtypus des verblichenen
Realsozialismus näher dran war als die anderen Länder des Ostblocks,
dann sind die Leistungen und Grenzen, die Problemlösungskapazität, die
Spielräume, die Schranken, Webfehler und Irrwege des untergegangenen
Staatssozialismus für die sozialen Träger der kommenden sozialistischen Bewegungen
ein lohnendes Studienobjekt. Aber auch zeitgenössische Vertreter
anderer Grundströmungen der Moderne (Nationalisten, Konservative,
Liberale) können sich selektiv durchaus auf Problemlösungsmuster
beziehen, die in der DDR praktiziert wurden und sich dessen bewusst
sein.
Doch zurück zum vorliegenden Text. Wenn es sich so verhält,
wie der Rezensent meint, dass das Neue an diesem Sammelband darin
besteht, dass vornehmlich historisch arbeitende Forscherinnen und
Forscher in überaus anregender Weise darlegen, welche Chancen das
Bearbeiten von DDR-Themen bietet, dann hat das auch Konsequenzen für
die Anlage und den Umfang dieses Reports: es gilt mit dem Mut zur Lücke
Positionen der Autoren in angemessener Weise zu präsentieren und zu
diskutieren.
Entstehung und Gliederung des Bandes
Der vorliegende Sammelband verdankt seine Entstehen offenbar einer
Krisenerfahrung im inner circle und Umfeld der >>Bundesstiftung
zur Aufarbeitung der SED-Diktatur<<, zumindest einer erheblichen
Diskrepanz: Einerseits ist die DDR nach wie vor Gegenstand anhaltenden
öffentlichen Interesses. Zugleich wird andererseits in der und mit
Blick auf die mit wissenschaftlichen Ansprüchen betriebene so genannte
DDR-Forschung seit Längerem darüber diskutiert, ob sich das Thema DDR
für die Forschung nicht erledigt habe, ja die DDR
>>ausgeforscht<< sei. Zudem ist eine Beschäftigung mit dem
Thema DDR für den wissenschaftlichen Nachwuchs nicht sonderlich
karrierefördernd, sie bietet überdies kaum Etablierungschancen, wie der
Aufschrei des Ilko-Sascha Kowalczuk über fehlende Lehrstühle, Felder
besetzende und monopolisierende „Platzhirsche“ und „Brotgelehrte“
exemplarisch zeigt (vgl. Freitag, 14.04.2016). Dass die Beschäftigung
mit der DDR-Geschichte als wissenschaftlich nicht eben attraktiv gilt,
liegt wohl nicht nur, aber eben auch am Walten der
DDR-Aufarbeitungsindustrie. Und hat sich die DDR-Forschung nicht selbst
als eine der Fabriken jener Industrie erwiesen? „Mittlerweile hat sich
– nicht nur im wissenschaftlichen Bereich – ein insgesamt sehr
weitreichender, in sich pluraler und veränderungsfähiger Konsens
herausgebildet“, stellt Jürgen Kocka treffend fest. Und weiter: „In
dessen Zentrum hat sich ein sehr kritisches Bild von der DDR etabliert,
wenn auch in vielen Nuancen“ (Jürgen Kocka, S.131/32).
Gemeinhin wird die DDR als Diktatur gehandelt. „Nur: War sie
eine totalitäre Diktatur, eine spättotalitäre, eine autoritäre, eine
>Fürsorgediktatur< (Martin Sabrow), eine >moderne Diktatur<
(Jürgen Kocka), eine >Weltanschauungsdiktatur< (Lothar Fritze)
oder eine >partizipatorische Diktatur< (Mary Fulbrook). Sind
solche Charakterisierungen komplementärer oder konkurrierender Natur?“
Diese Frage treibt Eckhard Jesse um (S. 125). Offenbar sind das
einander an- wie ausschließende Bestimmungen.
Jene oben skizzierte Diskrepanz zwischen dem anhaltenden
Interesse an der DDR in der Öffentlichkeit und dem Abschwung der
>>DDR-Forschung<< tangiert keineswegs nur, aber eben auch
massiv Auftrag, Selbstverständnis und Arbeitsweise solcher
Institutionen wie der >>Bundesstiftung zur Aufarbeitung der
SED-Diktatur<<. Daher hat die Bundesstiftung 2014/2015 drei
Historiker des >>Instituts für Zeitgeschichte München –
Berlin<< (Dierk Hoffmann; Michael Schwartz und Hermann Wentker)
motiviert, eine >>fachlich-subjektive Bilanz der
DDR-Forschung<< zu ziehen, Desiderate und Perspektiven künftiger
Forschung aufzuzeigen. Unübersehbar spielte dabei auch eine erneute
Evaluierung von DDR-Forschung betreibenden Institutionen eine Rolle.
(Indes wird ein Hinweis darauf, im Band nicht gefunden.) Der
Herausgeber Ulrich Mählert, seit 1998 Leiter der Abteilung Wissenschaft
der genannten Bundesstiftung, hat im Nachgang 18 Historiker und
Politologen des In- und Auslands gewonnen, sich zur Expertise in
Beziehung zu setzen und die Chancen zu diskutieren, die die DDR für
künftige Forschungen bietet.
Der Sammelband gliedert sich in drei Teile: Der Herausgeber
rückt einführend und für den Rezensenten kenntnisreich und erhellend
Konjunkturen der bundesdeutschen DDR-Forschung vor und nach 1989 in den
Blick, beleuchtet Akteure und Institutionen sowie ihre
unterschiedlichen Interessen an und in dem wissenschaftlichen Feld.
Abschließend skizziert er den Entstehungskontext des Bandes (S. 9-21).
Daran schließt als zweiter Teil die Expertise von Hoffmann, Schwartz
und Schwenker an (Die DDR als Chance. Desiderate und Perspektiven
künftiger Forschung, S. (S. 23-70). Es folgen Beiträge von 18
Wissenschaftlern in alphabetischer Folge der Nachnamen (S. 71-213). Ehe
ich auf Positionen von Autorinnen und Autoren eingehe, will ich drei
meiner Irritationen zumindest benennen.
Was ist aus der Perspektive des Herausgebers und der Diskutanten >>DDR-Forschung<< und was nicht?
Im Lichte des Sammelbandes erscheint dem Leser
>>DDR-Forschung<< zunächst als ein weites Feld mit
veränderlichen wie zugleich partiell recht eng gezogenen disziplinären
Grenzen. Ein beträchtlicher Teil der Autoren des Bandes (keineswegs
alle) meint, wenn er von DDR-Forschung spricht, primär und
ausschließlich historische bzw. zeitgeschichtliche DDR-Forschung. Das
ist insbesondere bei der von einem Trio verfassten Expertise (Die DDR
als Chance. Desiderate und Perspektiven künftiger Forschung) der Fall,
die zu Recht im Zentrum steht. Bei der Zusammenschau handelt es sich
zweifellos um eine beachtliche Leistung, doch außen vor bleibt beim
Abstecken des Forschungsstandes wie der Lücken, was
Sozialwissenschaftler, Politologen, Soziologen, Kulturwissenschaftler
bereits dazu vorgelegt und beigetragen haben. Es ist aus der
Perspektive des Trios gleichsam nicht vorhanden. Andere Autoren des
Sammelbandes, ausländische wie deutsche, haben indes diesen Tunnelblick
nicht.Die zweite Irritation stellt sich ein, wenn man sich fragt:
Wer äußert sich hier und wer nicht?
Dem Rezensenten sind die vielfältigen Tücken und Fallstricke beim
Erstellen von Sammelbänden durchaus geläufig. Ich bin mir auch bewusst,
dass Netzwerke alles entscheiden. Bei allem erfreulichen und anregenden
Pluralismus der Positionen der Autorinnen und Autoren fällt dennoch
auf, dass manche Stimme fehlt. Nicht vertreten sind z.B. Autoren vom
Forschungsverbund SED-Staat. Dafür lassen sich gute Gründe denken.
Schwerer wiegt wohl, dass grundsätzlich auf Beiträge von Personen
verzichtet wird, die bereits in der DDR historisch gearbeitet haben und
immer noch aktiv sind. Sie werden auch nicht zitiert. Die einzige
Ausnahme von dieser Regel findet sich in dem Beitrag von Bernd
Faulenbach, der auf eine neuere Arbeit von Günter Benser verweist
(S.82). Ausgeblendet wird zudem all das, was im Umfeld der
Rosa-Luxemburg-Stiftung zur DDR vorgelegt worden ist. Ich vermisse
überdies im Band Beiträge von Thomas Ahbe, Wolfgang Engler oder
Dietrich Mühlberg, um wenigstens diese Autoren aus dem Osten zu nennen.
(Ahbe wird immerhin zitiert). Im Sammelband waltet mithin ein eher
zünftiger, eingeschränkter, nicht ohne Ausschlüsse auskommender
Pluralismus.
Die DDR-Forschung präsentiert sich im vorliegenden Band als Baum mit wenig Wurzeln in Ostdeutschland
Es fällt auf, dass >>DDR-Forschung<< im Sinne des
Sammelbandes, soweit sie in der Bundesrepublik Deutschland betrieben
wird, eine Domäne von Personen ist, die in der Alt-Bundesrepublik
sozialisiert wurden. Bei den Autorinnen und Autoren wird der Geburtsort
nicht angegeben. Dies kann ich verschmerzen. Für wichtiger halte ich
die Angaben über Studienorte und –fächer. Und diese Angaben fehlen
keineswegs. Zwar leben etliche der Autoren in Ostdeutschland und haben
dort Lehrstühle inne. Doch von den insgesamt 22 Autoren des
Sammelbandes kommen nur drei aus dem Ausland (Polen, England, USA) und
19 aus Deutschland. Von den deutschen Autoren ist nur ein einziger in
der DDR aufgewachsen und sozialisiert worden − Matthias Middel. Was
aber bedeutet das? Ist der konstatierte Sachverhalt sozial folgenlos?
Ist jene Dominanz eher ein Bonus oder eher ein Malus?
Jeder weiß es, dennoch muss es immer wieder gesagt werden.
Die westdeutsche Dominanz ist zunächst Ausdruck einer folgenreichen
Überwältigung und erfolgreichen, enteignenden Landnahme im
Forschungsfeld. Da nun einmal Stellen nicht beliebig vermehrbar sind
und auch nicht mehrfach besetzt werden können, zudem nicht alle Tage
Stellen frei werden, haben potentielle Anwärter aus den Osten schlechte
Karten. Die Betreffenden wissen das und sind in der Regel frustriert.
Weiterhin lässt sich festhalten, dass die Netzwerke der Stiftung nicht
sehr weit reichen und ihre Wurzeln nicht allzu tief gründen.
Hat aber die westdeutsche Dominanz in der wie auch immer
gefassten DDR-Forschung auch inhaltliche Folgen? Wer dieser Frage
nachgeht, findet indirekte Antworten im Sammelband selbst. Im Beitrag
von Marie Müller-Zetsche und Ulrich Pfeil (157-164) wird nach dem
DDR-Bild im westlichen Ausland gefragt und das Wechselspiel von
Selbstbild und Fremdwahrnehmung in den Blick gerückt. Wenn man dieses
Wechselspiel von Selbstbild und Fremdwahrnehmung auf das Personal der
DDR-Forschung im vereinten Deutschland anwendet, wird deutlich, dass
die westdeutsche Dominanz in der DDR-Forschung zumindest ambivalent
ist. Der Rezensent verdankt westdeutschen DDR-Forschern, Historikern
drüber hinaus Sozialwissenschaftlern, Soziologen, Politologen überaus
viel! Doch muss man auch auf die Kehrseite verweisen: natürlich
brachten die westdeutschen Forscher ihre subjektiven Gewissheiten, die
Lebenslügen ihrer Gesellschaft, ihre Präferenzen, Wahrnehmungen, ihre
Hellsichtigkeit wie ihre Verblendungen, zuweilen ihren Chauvinismus,
Antisozialismus, partiell Fossile wie Totalitarismus-Theoreme und die
auf dem rechten Auge blinde Forschung zum politischen Extremismus mit
in den jeweiligen Gegenstand ein.
Nicht alle der aufgeführten Mitgiften finden in dem
Sammelband selbst ihren Niederschlag. Aber einige schon. So ist es
nicht nur für Bernd Faulenbach eine ausgemachte Sache: „Beide Staaten
haben sich – jeder auf seine Weise – mit der NS-Zeit und ihren
Verbrechen auseinander-gesetzt; die DDR zunächst scheinbar
konsequenter; die Bundesrepublik jedoch letztlich gründlicher“ (S.87).
Da dürfte die Frage von Mary Fulbrook (Die fehlende Mitte. Die DDR als
postnazistischer Staat, S. 89-98) nach der Bedeutung der
NS-Vergangenheit für die DDR, ja für beide deutsche Staaten entschieden
produktiver sein als die von Faulenbach zelebrierte teilstaatsbezogene
Selbstgefälligkeit. Jesse zeigt sich verschnupft, weil die
Unterstützung der Zunft für Totalitarismus-Theoreme erodiert. Sodann
konnten ich und meinesgleichen aus den Texten westdeutscher Forscher
und Publizisten in den zurückliegenden 25 Jahren erfahren, dass ich im
„deutscheren der beiden Staaten“ (S. 87) gelebt habe, aber aus jener
polnischen Perspektive, die im Sammelband zu Worte kommt (Krzysztof
Ruchniewicz: Wen interessiert noch die Geschichte der SBZ/DDR?) „war
die DDR kein `echter` deutscher Staat“ (S.173). Was aber war sie dann?
Nun sie war eine „sowjetische Satrapie“, wie der Großhistoriker
Hans-Ulrich Wehler befand, wahlweise bevölkert von „Deutsch sprechenden
Polen“ (Baring und Gesprächspartner) oder „deutschen `Sowjetmenschen´“
wie Dorothea Wierling als Analyseraster vorschlägt (S. 211), die sich
zudem als Pegida-affin (Eckhard Jesse, S.128) erweisen. Hier wird
vielleicht exemplarisch, holzschnittartig und in zugespitzter Weise
deutlich, wie und welche Mitgiften zuweilen den Blick auf den zu
erforschenden Gegenstand DDR verstellen können und verstellt haben.
Allerdings wird die Weise, in der Wehler die DDR in seiner
Gesellschaftsgeschichte verhandelt hat in mehreren Beiträgen des Bandes
teils explizit sehr kritisch reflektiert (S. 42,43, 90, 149, 193),
teils implizit korrigiert. Wird doch in etlichen Beiträgen auf die
Notwendigkeit verwiesen, den Grad des sowjetischen Einflusses auf die
DDR und die Stellung und Rolle der DDR im Ostblock weiter auszuloten.
Nur in dem Beitrag von Katrin Hammerstein und Edgar Wolfrum (S.119)
findet Wehler Verständnis für seine Art der Thematisierung der DDR und
Fürsprecher.
Erfreulich ist, dass im Sammelband immerhin drei ausländische
Autoren zu Wort kommen. Sie sind in der Regel offener, unbefangener,
müssen weniger Geßler-Hüte grüßen als ihre deutschen Kollegen und
bringen interessante Perspektiven ein. Da hätte man sich noch mehr
ausländische Beiträge, etwa aus Frankreich, Italien oder Russland
gewünscht. Doch soweit reichen wohl die Netzwerke des Herausgebers und
der Stiftung nicht. Die begrenzte ausländische Beteiligung wird indes
ein Stück weit dadurch kompensiert, dass DDR-Forscher den Blick nach
außen, etwa auf die Beziehungen der DDR zu anderen Staaten richten.
Revue von ausgewählten Positionen im Band
Die Autoren und Autorinnen des Bandes distanzieren sich einhellig
von der Vorstellung, die DDR sei ausgeforscht und bekennen sich fast
alle zur Überschrift des Bandes, in der Forschungen mit DDR-Bezug als
Chance begriffen werden. Aber sie begründen ihre Position in
unterschiedlicher Weise. Aus der Sicht des Rezensenten lassen sich für
die Zwecke der Rezension zwei Modi relativ und durchaus nicht
trennscharf unterscheiden, in denen die DDR als Chance erscheint. Das
sind zum einen Bestimmungen, die mehr oder weniger im Banne der
Expertise verbleiben (was keineswegs abwertend gemeint ist) und zum
anderen Perspektiven, die über die Expertise hinausweisen und die
DDR-Forschung als Chance und Impuls zur Beantwortung großer Fragen
wahrnehmen. Teils mit diesen Modi, teils quer zu ihnen sind damit auch
unterscheidbare Vorstellungen von der DDR-Forschung als Wissenschaft
verbunden.
>>Die DDR als Chance<< im Lichte der Expertise
Eine für den Band zentrale (wenn auch keineswegs einzige)
Verteidigungs- und Angriffsposition gegenüber der Vorstellung vom
Ausgeforscht-Sein besteht im Herausstellen der Dreieinheit von
DDR-Geschichte, Zeitgeschichte und Geschichtswissenschaft. Die DDR ist
Gegenstand der Zeitgeschichtsforschung und als solche Bestandteil der
Geschichtswissenschaft. Man könne nicht sagen, dass ein Thema,
Gegenstand jemals vollständig erforscht oder ausgeforscht sei. Aus der
zeitgeschichtlichen Grundierung und Fixierung der DDR-Geschichte leiten
sich zwei in Nuancen unterschiedene Zurückweisungen der Vorstellung vom
Ausgeforscht-Sein ab, für die exemplarisch einerseits Thomas
Großpölting und andererseits die Autoren der Expertise stehen.
Großpölting wendet sich gegen die Herauslösung der
DDR-Geschichte aus der Dreieinheit. Es sei falsch, die DDR-Forschung in
irgendeiner Weise als Subdisziplin, Teilfach oder von der allgemeinen
Zeitgeschichtsforschung Separiertes anzusehen. Sie ist vielmehr Teil
der Zeitgeschichtsforschung und als solche Teil der
Geschichtswissenschaft. „Welche Vorstellung von Geschichtswissenschaft
verbindet sich eigentlich mit der Aussage vom
>>Ausgeforscht<<-Sein? Vielleicht die vom leergefischten
Karpfenteich…?“ ( Großpölting, S. 99/100). Die DDR, so argumentiert er
weiter, „ist Gegenstand der allgemeinen Zeitgeschichtsforschung und als
solcher mit all den Chancen, Problemen und Diskussionen behaftet wie
jedes anderer Thema auch. Anregende geschichtswissenschaftliche
Forschung entsteht nicht aus der Koloration >>weißer
Flecken<<“, sondern aus „intelligenten Fragen an die Geschichte…,
die methodisch kontrolliert in der Auseinandersetzung mit den Quellen…
beantwortet werden“ (S.100).
Eine etwas andere Argumentation als Großpölting verfolgen die
Autoren der Expertise (Die DDR als Chance. Desiderate und Perspektiven
künftiger Forschung, S. 23-70), die ebenfalls die DDR-Geschichte in der
Zeitgeschichte verorten. Sie stellen nämlich eine Fülle von
Forschungslücken in sechs Dimensionen recht detailliert heraus, um den
Nachweis zu erbringen, vom Ausgeforscht-Sein könne keine Rede sein.
Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft, so Dierk Hoffmann,
Michael Schwarz und Hermann Wentker, erfolge dadurch, dass immer wieder
neue, aber auch alte Fragen erneut an einen historischen Gegenstand
gestellt werden. Speziell im Fall der DDR-Geschichte sind es auch neue
Quellen, die zeithistorische Forschungen nicht nur möglich, sondern
auch nötig machen. Zudem endet 2020 die 30-Jahresfrist für das
Archivgut der Alt-Bundesrepublik, wodurch auch für die DDR-bezogenen
Forschungen sich neue Perspektiven eröffnen.
Forschungslücken skizzieren sie mit Blick a) auf die „DDR als
eigenes Forschungsfeld“; b) die „Deutsch-deutsche Wahrnehmungs- und
Verflechtungsgeschichte“; c) „Die DDR und das sowjetisch beherrschte
Osteuropa“; d) „Die DDR im historischen Längsschnitt“; e)
„Transformationsforschung: vom Niedergang der DDR zum vereinigten
Deutschland“; f) „DDR-Geschichte ernst nehmen: Intensivierung von
Forschung und Vermittlung“.
Eine Reihe von Beiträgen des Bandes greift Bestimmungen und
Orientierungen der Expertise produktiv-kritisch auf, gestaltet sie aus
und entwickelt sie eigenständig weiter. Davon handelt der nächste
Abschnitt. Mehrere Autorinnen und Autoren, so auch Mary Fulbrook,
Andrew I. Port, Dorothee Wierling, reiben sich indes an der additiven,
„buchhalterisch“ anmutenden Auflistung von Desiderata. Sie vermissen
eher, dass das Autorentrio keine fesselnden Fragen zu formulieren
vermochte. Diese Autorinnen und Autoren sowie Jürgen Kocka, Matthias
Middel und Martin Sabrow setzen sich nach Auffassung des Rezensenten
von den in der Expertise aufgezeichneten Bahnen ab und stellen Chancen
für die DDR-Forschung heraus, die sich aus der Diskussion und
Erforschung >>großer Themen<< oder/ und der Konstituierung
der >>DDR-Historie als Wissenschaft<< ergeben.
>>Die DDR als Chance<< im Horizont der von der Expertise abgesteckten Bahnen
Aus der Sicht des Rezensenten gehören hierzu der Text von Bernd
Faulenbach (Tendenzen, Verflechtungen und Kontexte der SED-Diktatur.
Wieso die DDR-Geschichte ein bedeutsames Thema bleibt) (S. 79-88), der
sich auf mehrere Schwerpunkte der Expertise bezieht.
Mit Blick auf den in der Expertise enthaltenen Schwerpunkt
„Deutsch-deutsche Wahrnehmungs- und Verflechtungsgeschichte“ schlägt
Arndt Bauernkämpfer vor, die beiderseitige „Verflechtung in der
Abgrenzung“ der deutschen Staaten zu untersuchen (S.71-78). Diese
Orientierung erscheint mir ebenso sinnvoll wie die von Hammerstein und
Wolfrum. Letztere plädieren dafür, nicht nur die Beziehungen der beiden
deutschen Staaten oder die zu sozialistischen Ländern in den Blick zu
nehmen, sondern auch zu Ländern und Institutionen des Westens, darunter
Österreich (S. 111). Manchen Forschern und Lesern mag es vielleicht den
Atem verschlagen, wenn Hammerstein und Wolfrum zugestehen: „Auch dem
Westen zuzurechnende Länder hatten ein – nicht zwingend negatives –
Bild von der DDR“ (S. 111).
Müller-Zetzsche und Pfeil lösen die Intention von Hammerstein
und Wolfrum partiell ein, indem sie vom DDR-Bild im westlichen Ausland
handeln (S. 157-164). Sie gehen zwar von einer ziemlich orthodoxen und
mainstream-förmigen Frage aus (Wie konnte es der DDR gelingen, dass
sich im westlichen Ausland das Bild einer florierenden Wirtschaftsmacht
unter kommunistischer Ägide festsetzte?), skizzieren die Auslandsarbeit
der DDR und die Empfangsbedingungen im Westen. Sie kommen zu dem
Schluss, dass die näheren und ferneren Nachbarn die DDR im Lichte ihrer
jeweiligen Deutschlandbilder wahrnahmen und schon im 19. Jahrhundert
auf der Suche nach einem „anderen Deutschland“ waren. Nach 1945 verband
sich diese Suche zumindest phasenweise und partiell mit der DDR. Hier
konnte die Auslandsarbeit der DDR erfolgreich andocken.
Dem Schwerpunkt „Die DDR und das sowjetisch beherrschte
Osteuropa“ der Expertise lässt sich der eher schwache, weil an der DDR
desinteressierte Beitrag aus Polen (S. 173-180) zuordnen. Das
thematisierte doppelte Desinteresse – des Autors wie polnischer
Historiker Volkspolens und im zeitgenössischen Polen an der
DDR-Geschichte − ist die eigentliche und dann doch wieder interessante
Botschaft. Dagegen ist der von Stefan Troebst vorgelegte Text recht
informativ und anregend (Die DDR im balkanischen Spiegel, S. 199-204).
Aus dem hintersinnigen Beitrag von Troebst erfährt der interessierte
Leser beispielsweise nebenbei, dass das Interesse an der Geschichte der
SBZ und der DDR in Polen wohl doch nicht so gering ist, wie der im
Sammelband vertretene polnische Autor Ruchniewicz (Wen interessiert
noch die Geschichte der SBZ/DDR?) meint. Trobest verweist auf das 2014
in Oppeln erschienene und von Piotr Pa³ys vorgelegte „voluminöse
Standardwerk zur Politik Moskaus, Belgrads, Warschaus und Prags in der
Sorbischen Frage während der zweiten Hälfte der 1940er Jahre“ (S.204).
Da die Sorben, so füge ich hinzu, auf dem Territorium der SBZ und
späteren DDR lebten und es deutschen wie sorbischen Akteuren
schließlich durch weitreichendes Entgegenkommen gelang, die
separatistischen Bestrebungen unter den Sorben wie die
Anschlussbegehrlichkeiten der Nachbarländer zu neutralisieren, ist
sorbische Geschichte jener Zeit immer auch SBZ-und DDR-Geschichte.
Auf die „Die DDR im historischen Längsschnitt“ und die
„Nachgeschichte“ der DDR beziehen sich im Rahmen der
zeitgeschichtlichen Fixierung u.a. Hammerstein und Wolfrum. Sie sind,
wie bereits erwähnt, die einzigen Autoren des Bandes, die sich explizit
zu Wehlers Nicht-Blick auf die DDR bekennen (S. 119). Daher ist es nur
konsequent, wenn sie zu bedenken geben: “Noch muss sich erweisen, ob es
der DDR-Geschichte gelingt, langfristig als integraler Teil der
gesamtdeutschen Nationalgeschichte wahrgenommen zu werden. Vielleicht
wird sie in Zukunft aber auch vorrangig als eine Art >ostdeutsche
Regionalgeschichte< gelten… In jedem Fall sollte sie als einer der
fünf zeitgeschichtlichen Bereiche der deutschen Historie (Weimar,
NS-Zeit, Bundesrepublik, DDR, Berliner Republik) der
geschichtswissenschaftlichen Forschung erhalten bleiben“ (S.118 f).
Für überaus produktiv halte ich indes ihren Vorschlag, die
„Nachgeschichte“ der DDR (bei den Autoren ist natürlich von der
„Nachgeschichte der SED-Diktatur“ die Rede) in den Blick zu nehmen.
Denn mit dem Untergang der DDR als Staat, Gesellschaft und System hat
sich das Thema DDR für kollektive individuelle Akteure in Politik,
Wissenschaften, Medien, in der Gesellschaft nicht erledigt. Wenn ich
diesen Gedanken der Autoren hervorhebe, sehe ich auch Aspekte, die in
dem Aufsatz selbst nicht vorkommen.
Wie leistungsfähig ist ein Fach, wenn es so viele
Forschungslücken gibt, wie in der Expertise dargelegt, fragt Eckhard
Jesse und problematisiert die Fixierung der DDR-Forschung auf die
Zeitgeschichte. Er fordert eine Stärkung der politikwissenschaftlichen
DDR-Forschung und ihre politologische Grundierung ein (vgl. S. 123).
Für sich genommen, ist dagegen nichts einzuwenden, wenn er insistiert:
„Die Politikwissenschaft muss auf den Ergebnissen der
zeitgeschichtlichen Forschung fußen – und diese die Herausforderungen
der politikwissenschaftlichen Interpretationen annehmen“ (128). Für
Jesse aber stellt sich die zeitgeschichtliche Fixierung offenbar als
eine Art Betriebsunfall dar, weil zeitgeschichtlichen Studien für
seinen Geschmack nicht selten zur Relativierung und Verwässerung der
rechten Maßstäbe beitragen. Denn es liegt auf der Hand, dass etwa
zwischen der Charakteristik der DDR als „totalitärer“ und
„partizipatorischer Diktatur“ Welten liegen. Deshalb ist er auch
unglücklich über die in der Expertise des Trios (Die DDR als Chance.
Desiderate und Perspektiven künftiger Forschung) erfolgte Absage an
Totalitarismus-Theoreme (S. 56), für die wie kein anderer im heutigen
Deutschland Jesse einsteht (vgl. S.124). Der Rezensent hätte
insbesondere von Jesse gerne erfahren, ob und wie die generelle
Veränderung demokratischer Systeme, die der Politikwissenschaftler
Colin Crouch mit dem Terminus >>Postdemokratie<< auf den
Begriff gebracht hat, Jesses mit wissenschaftlichem Anspruch verfolgtes
Programm und seine außerwissenschaftliche Normative tangiert.
Die >>DDR als Chance<< zur Bearbeitung großer Themen und
Fragen, die den in der Expertise abgesteckten Horizont überschreiten
Mary Fulbrook: Annäherung an die DDR-Geschichte mittels
des analytischen Konstrukts der „Normalisierung“ und Plädoyer für
Erkundungen der Art und Weise, wie die NS-Vergangenheit im
Nachkriegsdeutschland fortbestand
In ihrem Beitrag (Die fehlende Mitte. Die DDR als postnazistischer
Staat, S. 89-97) wendet sie sich zunächst gegen eine Fehlinterpretation
der Autoren der Expertise, die sich auf das von Fulbrook eingebrachte
analytische Konstrukt der >>Normalisierung<< bezieht und
darauf gründende Deutungen der DDR. Was es mit dem Konzept
Normalisierung wirklich auf sich hat, erfährt der Leser auf den S.
90-92. Die Pauschalität, mit der Fulbrook in der Expertise kritisiert
werde, lasse Fulbrook vermuten, dass die Autoren der Expertise wohl nur
die Überschrift eines ihrer Bücher gelesen hätten. In einer Fußnote
verweist sie überdies auf den immerhin Aufmerksamkeit verdienenden
Sachverhalt, dass Übersetzer und Verlag der deutschen Ausgabe nicht
bereit waren, den Haupttitel der deutschen Ausgabe (Ein ganz normales
Leben: Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darmstadt 2008) wie von ihr
vorgeschlagen mit Anführungs- oder Fragezeichen zu versehen. Die
Anmerkung zeigt eines: aus welchen Gründen auch immer (und seien es nur
Marketing-Erwägungen) führen einmal in die Welt gesetzte Positionen ein
Eigenleben. Sie werden in der je eigenen Vorstellungswelt von
Rezipienten (hier Übersetzer und Verlag) eingeschmolzen und
umgeschmolzen.
Fulbrook hebt weiterhin eine eklatante Lücke in der
präsentierten Liste der Forschungsdesiderate hervor, eine Lücke, auf
die m.E. ausländische Forscher und Forscher aus Minderheiten der
deutschen Gesellschaft selbst eher stoßen als DDR-Forscher
westdeutscher Herkunft. Gemeint ist die Art und Weise, wie die
NS-Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland in beiden Deutschländern
fortbestand. Von „Tätergesellschaften“ (S. 94, Plural) ist die Rede. Da
aber im Fokus des Sammelbandes nun mal die DDR steht, legt die Autorin
den Akzent auf das Gewinnen eines adäquaten Verständnisses von der
>>DDR als postnazistische[r] Gesellschaft<<. Fulbrook
bringt eine Reihe von Gesichtspunkten ein, um sich diesem Thema
wissenschaftlich anzunähern. Aus der Sicht des Rezensenten ist dieser
Vorschlag plausibel und tragfähig.
Andrew Ian Port: Für eine Einbettung der
Geschichte und Historiographie der DDR in zentrale historische und
geschichtswissenschaftliche Themenstellungen des 20. Jahrhunderts
Port beginnt seinen Beitrag (S. 165-171) mit dem bemerkenswerten
Satz: „Man kann es ihr eher zugutehalten, als es ihr übel nehmen – die
Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik ist einfach nicht so
sexy wie die des Dritten Reiches“ (S.165). Er relativiert diese Aussage
mit den nächsten Satz, wenn er meint, sie habe aufgehört für die
Öffentlichkeit und die Zunft der Historiker, sexy zu sein, als der Hype
der Enthüllungen vorüber war. Ich frage mich, ob Port damit eher
allgemeine, universelle oder eher recht spezielle Präferenzen und
Rezeptionshaltungen im angloamerikanischen Raum beschreibt.
Ungeachtet der Unsicherheit des Rezensenten in dieser Hinsicht,
wirft Port einige Fragen auf, die Impulse der Expertise aufgreifen,
aber entschieden weiter treiben und zuspitzen.
Er plädiert dafür, den Blick auf Kontinuitäten, die über das Jahr
1945 hinaus reichen zu richten sowie auf Vergleiche zwischen
Entwicklungen in der DDR und der Alt-Bundesrepublik sowie in anderen
Staaten innerhalb wie außerhalb Europas. Zu den von Port aufgeworfenen
Fragen gehören: „Wie erklärt man die bemerkenswerte Stabilität der beiden
deutschen Staaten, die auf die blutige Katastrophe des Dritten Reiches
folgten?“ (S.168). „Zweifellos sind die beiden Nachkriegsstaaten ein
wissenschaftlich bemerkenswertes >Versuchslabor<, um komplementär
zu untersuchen, wie der kapitalistische Westen und der kommunistische
Osten auf die Herausforderungen reagierten, mit denen alle modernen,
industrialisierten Gesellschaften des 20. Jahrhunderts konfrontiert
waren“ (S.168).
Port hält es für an der Zeit „angesichts unserer Erkenntnisse über
die vielfältigen Einwirkungsmöglichkeiten der ostdeutschen Basis auf
die internen Entwicklungen ihres Landes“ die Bilder von der
DDR-Diktatur anzureichern (vgl. S.169).
Und schließlich: „Woraus speiste sich die Strahlkraft des
>>Westens<<, der meistens sogar von jenen als
>>überlegen<< angesehen wurde, die zwar unter dem
Kapitalismus lebten, aber am wenigsten davon profitierten und am
meisten unter der dort vorherrschenden sozioökonomischen Ungleichheit
oder gar unter dem – in manchen Ländern – institutionalisierten
Rassismus und Sexismus litten?“ (S171). Port sucht die Antwort in zwei
Richtungen. Dem Westen gelang es besser als dem Osten begehrte und
notwendige Güter bereit zu stellen. „Aber es könnte auch sein, dass
sich der Westen einfach besser verkaufen konnte. Falls ja, warum?“
(171).
An Fragen wie diesen wird deutlich, dass ausländische Forscher
weniger geneigt sind, den eingefahrenen Geleisen der wissenschaftlichen
wie außerwissenschaftlichen Normative der bundesdeutschen DDR-Forschung
zu folgen.
Jürgen Kocka: Für eine transregionale und -nationale Ausweitung des Bezugsrahmens, in dem DDR-Geschichte betrieben wird
Kocka (S. 131-137) sieht die Zukunft der DDR-Forschung in
Grenzüberschreitungen. Er fragt in seinem Text, ob sich der Rückgang
des Interesses (der Forscherinnen und Forscher) an der DDR-Geschichte
auch durch die Verknappung bewegender Fragestellungen erklären ließe.
Dabei hat er wissenschaftliche Fragestellungen im Blick, nicht aber
solche, „…der politischen Pädagogik oder Polemik, … wie in der
unproduktiven Auseinandersetzung um den >Unrechtsstaat<…“ (S.
132). Dazu habe Böckenförde in der FAZ vom 12.05.2015, S.9 das Nötige
gesagt. An tragfähigen wissenschaftlichen Fragestellungen fehle es
nicht. Gemeint sind vor allem grenzüberschreitende Fragen und Themen,
in die der Fall DDR, eingebettet wird. In dieser Hinsicht beispielhaft
sei etwa das Querschnittsprojekt >Verflochtene Umbrüche. Ost-und
Westeuropa seit den 1970 Jahren<< des Potsdamer Zentrums für
zeithistorische Forschung.
Es gehe es um große Herausforderungen der Zeit, die nicht nur
die beiden deutschen Gesellschaften, sondern mehr oder weniger alle
ökonomisch entwickelten Länder des globalen Nordens betrafen (und
betreffen) und teils ähnlich, teils unterschiedlich angegangen wurden.
Eine übergreifende Gemeinsamkeit lag in der Fixierung der Politik auf
wirtschaftliches Wachstum im Westen wie im Realsozialismus, an der die
Länder des Westens ja nach dem Untergang ihres Gegenspielers wie auch
die postsozialistischen Gesellschaften weiterhin trotz der Kosten und
bewusst gewordenen Grenzen des Wachstums festhalten. Kocka nennt eine
Reihe weiterer übergreifender großer Themen der Gegenwart und Zukunft,
– die beschleunigte Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen und
Arbeitsverhältnisse, den demografischen Wandel, die Digitalisierung,
die Medialisierung und Medienwandel, die wachsende ökonomische und
soziale Ungleichheit seit den 1970er Jahren und das Scheitern nahezu
aller Versuche, tragfähige politische Antworten auf diese mehr als
problematische Entwicklung zu finden.
Das alles trifft zu. Nur: Kocka lässt offen, welche Fragen sich
daraus für historische Forschungen unter Einbeziehung des Falles DDR
seiner Meinung nach ableiten.
Für den Rezensenten vorstellbar ist Verschiedenes. Nehmen wir
die wachsende ökonomische und soziale Ungleichheit in Deutschland, in
Europa und in der Welt und die zunehmende Kritik an ihr. Führt die
Wiederkehr der sozialen Frage (sie war ja nie von der Agenda
verschwunden) zu einer Verschiebung im Ensemble der ideologischen
Grundströmungen der Moderne (Nationalismus, Konservatismus,
Liberalismus, Sozialismus) und wenn ja, in welchen Regionen zugunsten
welcher der Strömungen? Führt die wachsende soziale Ungleichheit zu
einer Renaissance sozialistischer Bewegungen, zu einer sozialistischen
Neo-Ideologie und/oder zu einer Neubewertung der Versuche im Ostblock,
darunter in der DDR, die soziale Frage zu lösen? Welcher Art waren die
bisherigen Versuche in westlichen Gesellschaften seit den 1970er
Jahren, Antworten auf die wachsende soziale Ungleichheit zu finden bzw.
mit ihr umzugehen und warum sind sie nahezu überall gescheitert? Dies
sind Fragen, die sich etwa der Rezensent stellt. Aber was schwebt dem
Autor Kocka selbst vor?
Kocka erinnert zu Recht daran, dass die DDR wie die anderen
staatssozialistischen Länder für das Projekt einer
nichtkapitalistischen und antikapitalistischen, am Ende im globalen
Wettbewerb scheiternde >anderen Moderne< standen (vgl. S. 136).
Die DDR war zudem der „Versuch, dieses alternative Modell in einem zwar
durch vorangehende Katastrophen und fortdauernde Fremdherrschaft
beeinträchtigten, aber ökonomisch, sozial, kulturell wie
wissenschaftlich höchst modernen Land zu verwirklichen. Dadurch
unterschied sich die DDR von den meisten anderen
staatssozialistisch-kommunistischen Ländern jener Jahrzehnte“ (S. 137).
Deshalb seien Befunde aus der DDR-Geschichte von „allergrößter
Bedeutung“. Was folgt daraus aber für die Forschung? Ist damit gemeint,
was zu Beginn dieser Buchbesprechung dargelegt wurde, dass die DDR dem
Idealtypus Realsozialismus am nächsten stand, ihn „reiner“, besser als
andere verkörpert hat und daher am Fall DDR die Leistungen und Grenzen
des realen Sozialismus exemplarisch hervortreten? Oder/und geht es
Kocka darum, aus dem Entwicklungsgefälle im Ostblock resultierende
zusätzliche Spanungslinien, Konflikte und die Arten ihrer Austragung
auszuloten? Oder/und legt er nahe, in transnationaler Perspektive zu
erkunden, ob, wie und in welcher Weise das Scheitern des Projekts einer
nichtkapitalistischen, antikapitalistischen, anderen Moderne die Suche
nach Alternativen zum gewöhnlichen Kapitalismus still stellt bzw.
einfärbt?
Kockas Orientierung, die Zukunft der DDR-Forschung in
Grenzüberschreitungen zu suchen, halte ich für richtig, anregend. Aber
für meine Begriffe lässt der Autor zu viel offen, wohin denn die Reise
gehen soll.
Dorothee Wierling: Die DDR − als Fall-Geschichte
betrieben −verspricht ein besseres Verständnis der Mechanismen zwischen
Individuum, Gesellschaft und Staat in der Moderne
Dorothee Wierling (Die DDR als Fallgeschichte, S. 205-213) verfolgt
eine ähnliche Intention wie Jürgen Kocka in seinem Beitrag. Auch ihr
geht es darum, die DDR in größere historische Zusammenhänge zu stellen
und so dazu beizutragen, diese neu auszuleuchten. Im Unterschied zu
Kocka und auch zu den Autoren der Expertise betont Wierling stärker die
Potenziale auf dem Gebiet der Sozial-, Kultur- und
Erfahrungsgeschichte.
„Mein Ausgangspunkt ist, dass die DDR-Geschichte langfristig
nur dann eine >>Chance<< bekommt, wenn sie Neugier auch bei
denen weckt, die sich eigentlich nicht (mehr) für sie interessieren.
Diese Forscherinnen und Forscher müssen in ihr das Potenzial einer
Fallgeschichte entdecken, die über sich selbst hinausweist“ (S.206).
Diese Erwägung teilt der Rezensent natürlich. Was aber, wenn
Forscherinnen und Forscher die DDR gar nicht mehr auf ihrem Schirm
haben, wenn sie die Chance, in der DDR das Potenzial für das Bearbeiten
übergreifender wissenschaftlicher Fragestellungen zu entdecken, gar
nicht ergreifen können, weil die DDR völlig jenseits ihres Horizonts
liegt? Blockierungen dieser Art können wohl nur fallen bei einem
Rahmenwechsel, einer Veränderung des gesellschaftlichen und politischen
Klimas – etwa durch das Entstehen neuer sozialer Bewegungen, für die
Bezüge auf die DDR-Geschichte, in welcher Weise auch immer, eine Rolle
spielen.
Welche Felder und Fragen, für die die DDR als Fall stehen
könnte, rückt nun Dorothee Wierling in den Blick? Es sind drei Themen,
die durchaus mit denen der Expertise kompatibel sind, aber deren
Horizont überschreiten.
Wierling fragt erstens nach dem Stellenwert der DDR in der
deutschen Geschichte des gesamten 20. Jahrhunderts, zudem danach, wie
sich DDR-Geschichte aus der deutschen Vorgeschichte herleite und
welchen Beitrag die DDR zur Geschichte des „deutschen“ 20. Jahrhundert
liefere (vgl. S.207).
Die DDR werde häufig als Diktatur thematisiert, wenn es um
ihre Einordung in die Geschichte des 20. Jahrhunderts gehe. Daher werde
dann auf Vergleiche mit der NS-Herrschaft Wert gelegt. „Ich selbst“, so
Wierling, „halte den Vergleich für sehr viel weniger produktiv als die
Frage nach erfahrenen Kontinuitäten oder Brüchen. Zum Vergleich bieten
sich eher die beiden Nachkriegsstaaten als postfaschistische
Gesellschaften an“ (S.208). Unter Bezug auf eigene Arbeiten bzw.
Arbeiten, an denen sie mitgewirkt hat, führt Wierling in der Sache aus,
dass die DDR Grunderfahrungen, existenzielle Nöte (soziale
Unsicherheit) und Hoffnungen(auf sozialen Aufstieg) proletarischer wie
halbproletarischer Schichten aus der Zeit der „Vorgeschichte“ der
späteren beiden Deutschländer aufgegriffen und zeitbedingte Lösungen
praktiziert habe. Die DDR war auf die Gewährleistung sozialer
Sicherheit programmiert und deren Ausbau. Zeitweilig war sie zudem eine
der dynamischsten Gesellschaften Europas als Gesellschaft mit der
größten Aufwärtsmobilität, ehe dann Mechanismen der sozialen Schließung
griffen. Wierling sagt das nicht so, führt aber an diese historischen
Sachverhalte heran. (Nur am Rande sei vermerkt: wenn wir uns einer
Geschichte des Gegenwärtigen zuwenden, dass der globalisierte
Kapitalismus weltweit, so auch in Deutschland, für viele Millionen (das
so genannte Prekariat) keine soziale Sicherheit bieten kann und das aus
der Perspektive der sozialen Träger des globalisierten Kapitalismus
auch gar nicht vorgesehen ist.)
Zweitens fragt Wierling danach, inwieweit das staatssozialistische System als solches und mit Blick auf die DDR eine spezifische gesellschaftliche mentale Verfassung ausbildete und
in welcher Weise dabei mentale Prägungen aus den jeweiligen
Vorgeschichten dieser Länder jeweils aufgegriffen, umgeformt, verstärkt
oder aber ausgeschlagen wurden. Auch das ist eine durchaus spannende
Frage.
Sie meint: „Die DDR mit ihrer einzigartigen Überlagerung von
langer nationaler Vorgeschichte, nationalsozialistischer Diktatur und
staatssozialistischer politischer Kultur gäbe eine wunderbare
Fallgeschichte für die Frage ab, in welchem Ausmaß und in welcher Weise
der Staatsozialismus Lebensstile, mentale Dispositionen,
Alltagskultur…“ (S.209) beeinflusst habe. Wierling ist weiterhin der
Auffassung, dass der Staatsozialismus im Allgemeinen und so auch in der
DDR im Besonderen einen bestimmten sozialen Typus ausgebildet habe. (Im
Unterbewusstsein der Forscherin mag das Konstrukt vom >>Homo
sovieticus<< eine Rolle gespielt haben.) „Bis heute fehlt ein
systematischer Vergleich, welche Auswirkungen die spezifischen
Vorgeschichten der staatssozialistischen Länder auf die konkrete
Auswirkung dieses Typs hatten“ (S.210). Die Annahme von der Existenz
eines solchen sozialen Typs verleitet Wierling zu dem Vorschlag, die
„ehemaligen DDR-Bürger als deutsche >>Sowjetmenschen<< zu
untersuchen“ (S.211).
Diesen Einfall halte ich für keine tragfähige Idee. Ich will
gar nicht erst mit dem läppischen und wissenschaftlich nicht relevanten
Einwand kommen, dass ich und meinesgleichen mich zu DDR-Zeiten niemals
so wahrgenommen haben, sondern eher darauf verweisen, dass die DDR von
ihren Anfängen bis zu ihrem Untergang stets eine politisch, sozial,
weltanschaulich und kulturell differenzierte Gesellschaft war. Ferner
ist zu bedenken, dass ein beträchtlicher Teil der tatsächlich wie auch
nur vermeintlich empirisch nachweisbaren sozialen Prägungen, die mit
dem Staatssozialismus in den Farben der DDR verbunden werden, den
>>Rahmen DDR<< zur Voraussetzung hatten und mit dem
>>Rahmenwechsel<< seit 1989/1990 in Gegensatz zu den
äußeren Verhältnissen gerieten, von ihnen nicht mehr bestätigt und
getragen wurden, mithin gleichsam verdampften. Daher halte ich es für
eine viel spannendere Frage, was denn in sozio-kultureller Hinsicht von
der DDR geblieben ist, voraussichtlich auf Dauer? (Diese Frage stellt
sich natürlich auch mit Blick auf die anderen Ländern des einstigen
Ostblocks.)
Offenbar zielt das dritte von Wierling vorgeschlagene Thema zumindest partiell in diese Richtung:
„Inwieweit stellte die DDR eine >>moderne
Gesellschaft<< dar und welchen Platz nahm sie im Gesamtprojekt
der Moderne ein? Welche Auswirkungen hatte dies auf das vereinte
Deutschland in Europa? Mit diesen Fragen setze ich voraus, dass die DDR
tatsächlich eine der vielen Antworten auf die Herausforderungen des
Projekts der Moderne darstellt“ (S.211). Dies trifft zweifellos zu. Nur
ist die Forscherin bei der Entwicklung ihrer Position, so scheint es
mir, eher vorsichtig und geht für meine Begriffe etwas taktierend vor.
Zwar deutet sie in der Sache und am Beispiel der Kita-Politik in
Gesamtdeutschland an, dass die DDR nicht nur Modernisierungsdefizite
hatte, sondern auf einigen Feldern >>moderner<< als die
Alt-Bundesrepublik war. Aber die im Diskurs befindlichen Termini wie
>>Modernisierungsvorsprung<< oder
>>Gleichstellungsvorsprung<< bei den Frauen (Rainer
Geißler) selbst fallen nicht. Kennt Wierling sie nicht oder hält sie
ihren Einsatz nur nicht für opportun oder teilt sie die Position nicht?
Alles in allem gehört der Beitrag von Wierling zu den interessantesten und anregendsten des ganzen Bandes.
Matthias Middel über die DDR in globalgeschichtlicher Perspektive und Facetten ihrer weltgeschichtlichen Relevanz im 20. Jahrhundert
Middel geht in seinem Beitrag (S. 149-156) von „Wehlers übler
Nachrede“ (Die DDR als Fußnote) aus und hebt darauf ab, dass „die
Forschung den Platz der DDR in der Weltgeschichte noch nicht vermessen
hat. Diese Feststellung zieht unweigerlich die Frage nach sich, was die
DDR denn überhaupt mit dieser zu tun hat“ (S.149). Middel erhebt nicht
den Anspruch, den Platz der DDR in der Weltgeschichte schlechthin
auszuloten, wohl aber bislang einige unterbelichtete Aspekte. Der
Rezensent verhehlt nicht, dass er diesen Beitrag mit besonderem Gewinn
gelesen hat und höchst anregend findet.
Im Unterschied zu anderen Beiträgen des Bandes, in denen die
DDR als Spielfeld globaler Entwicklungen erscheint, die sich weder von
Staats- noch Systemgrenzen aufhalten ließen bzw. in denen nach der Art
oder dem Grad der Teilhabe der DDR an solchen Prozessen gefragt wird,
rückt Middel in den Blick, dass nämlich die DDR eingetaktet war in
alternative Formen globaler Integration, in die so genannte rote
Globalisierung. Damit sind etwa gemeint: Integrationsanstrengungen des
RGW, das Bemühen eine gemeinsame transnationale Infrastruktur im
Energiebereich aufzubauen, sodann die Präsenz ausländischer Studenten
an den Hochschulen des Ostblocks, die Weltfestspiele. Diese Beispiele
zeigten, dass transnationale Verbindungen für eine Geschichte des
Staatssozialismus kaum weniger bedeutend sind als für die des Westens.
Viele dieser transnationalen Verflechtungen aus der roten
Globalisierung, daraus erwachsene Kompetenzen und Verbindungen, wirken
bis in die Gegenwart fort. Auch das heutige Deutschland zehre u.a. von
den transnationalen Verbindungen, die die DDR mit in die Einheit
einbrachte.
Die Erforschung der DDR in ihren transnationalen und globalen
Bezügen sei überdies schon aus forschungspragmatischen Gründen
angezeigt. Denn die Archive der DDR stehen viel weiter offen als die
der meisten anderen Gesellschaften dieser Erde. Insofern bietet die
DDR-Überlieferung zumindest zeitweilig günstige Zugänge und Öffner für
die Untersuchung von Globalisierungsprozessen schlechthin. Denn:
„Anhand der DDR-Überlieferung lassen sich nicht nur über die östliche
Globalisierung, sondern auch über ihre westlichen und südlichen
Pendants Dinge in Erfahrung bringen, auf die Forscher andernorts noch
länger warten müssen“ (S.151).
Die Erforschung der „roten Globalisierung“ ist zudem von
einiger Bedeutung für die theoretische Diskussion innerhalb der
Globalgeschichte. Globalisierung sei nicht mehr im Singular, sondern im
Plural zu denken. „Eine Globalgeschichte hätte mithin nicht die
Geschichte einer Globalisierung zum Gegenstand, sondern den Wettbewerb
konkurrierender Globalisierungsprojekte.“ (S.152).
Ein stärkerer Fokus auf die verschiedenen Globalisierungen
würde zudem deutlich machen, dass die aktuellen globalen Prozesse
„keineswegs zwingend mit einer stetigen und unaufhaltsamen Zunahme
transnationaler Flüsse von Menschen, Gütern, Waren, Kapital
einhergehen“ (S.153). Diese Vorstellung sei ein teleologisches Konzept
und könne unter Umständen nur mit „dem Kunstgriff sogenannter
Deglobalisierungsphasen vor dem Kollaps gerettet werden“ (S.153).
Zugleich verweise die Untersuchung der roten Globalisierung auf ein
Allgemeines: bei Globalisierungsprojekten jeglicher Art gehe es nicht
um eine ungehemmte Freigabe transnationaler Flüsse,
Grenzüberschreitungen, sondern immer auch um Bemühungen, diese zu
kontrollieren, zu kanalisieren.
Die DDR zwar war nur ein relativ kleiner Faktor im Rahmen
sozialistischer Globalisierungen, aber keine zu vernachlässigende
Größe. Zumal die einzelnen realsozialistischen Länder durchaus
arbeitsteilig in der so genannten Dritten Welt operierten. Überdies
„stand die ostdeutsche Globalisierung in einer Kontinuität deutschen
geopolitischen Denkens und verband diese mit den internationalistischen
kulturellen Traditionen innerhalb der Arbeiterbewegung. Die Geschichte
des ostdeutschen Beitrages zur >roten Globalisierung< wäre somit
auch in den Rahmen einer längeren Geschichte deutscher
Auseinandersetzung mit der Welt sowie insbesondere in die Tradition der
internationalen Arbeiterbewegung seit dem späten 19. Jahrhundert zu
stellen“ (S. 155).
Martin Sabrow: Die DDR 25 Jahre danach: Hoffnung auf Historisierung (S. 181-188)
Sabrow stößt sich weniger an der zeitgeschichtlichen Verankerung
der DDR-Geschichte (wie etwa Jesse) als an ihrer in der DDR wie im
vereinten Deutschland bislang gegebenen übermäßigen „Bindung an
geschichtspolitische Gegenwartsinteressen“ und an der „Verwischung der
substanziellen Unterschiede zwischen engagierter Aufarbeitung und
fachlicher Distanz“.
Nunmehr sei die Zeit gekommen oder günstiger als ehedem, die
Forderung einzulösen, dass (DDR-)Historie Wissenschaft sei und auf
historischen Erkenntnisgewinn programmiert werde. Auch DDR- bezogene
Zeitgeschichtsforschung könne und müsse sich in ihrer „Dignität als
unabhängige und metareflexive Klärungsinstanz“ erweisen.
Sabrow geht von Nietzsches berühmten wie hellsichtigen
Aufsatz >>Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das
Leben<< aus und erkennt mit Blick auf die DDR drei Arten
interessengeleiteter Geschichtsschreibung, deren Erkenntniswert er
allesamt gering veranschlagt. Die monumentalische Historiographie der
DDR sei mit dieser untergegangen. Ihre auf „eifernde Delegitimierung
zielende Gegenversion einer kritischen Geschichtsschreibung“ hatte ihre
Hochzeit ab 1990, erwies sich aber im Zeitverlauf als „wissenschaftlich
weitgehend steril“ (S.181). „Eine antiquarische Geschichtsschreibung
zur DDR hingegen… wird im Stile einer ostdeutschen Landesgeschichte
gewiss auch weiterhin ihr Interesse finden…“ und gegenüber
fortgesetzten Vorwürfen einer Verinselung und Selbstbezogenheit
„unempfindlich bleiben“. (S.181).
Sabrow fragt dann: „Was aber kann über dieses drei
interessegeleiteten Formen historiografischen Arbeitens hinaus…“, im
Hinblick auf die DDR-Vergangenheit noch geleistet werden? In seiner
Antwort bricht Sabrow nun mit Nietzsche, dem er doch (wie auch der
Rezensent) bei der Bestimmung und Beschreibung der drei hauptsächlichen
Arten der Geschichtsschreibung bis hierhin gefolgt ist. Sabrow hält an
der Forderung fest, dass die Historie Wissenschaft sein soll und sich
um Objektivität zu bemühen habe. (Diese Forderung hatte Nietzsche
abgelehnt und problematisiert). Denn nur diese vierte Betrachtungsweise
verheiße historische Erkenntnisgewinne. Aus dieser Perspektive – von
ihm als Historisierung der DDR bezeichnet – scheinen dem Zeithistoriker
mehrere Aufgaben dringlich.
Zunächst und vor allem habe sich die DDR-bezogene Forschung
der „fürsorglichen Belagerung durch staatliche und gesellschaftliche
Akteure unterschiedlichster Interesselagen“ zu entziehen. Sabrow hält
das nicht nur für geboten, sondern auch für möglich. Der Rezensent ist
sich da nicht so sicher. Offenbar nimmt Sabrow an, dass Zeitgeschichte
zwar in einem permanenten Spannungsverhältnis zur Zeitgenossenschaft
stehe und daher eine stete Auseinandersetzung um die Wahrung fachlicher
Standards und die Platzierung ihrer Erkenntnisinteressen zu führen
habe. Doch hält er zumindest Teilsiege für möglich. (Immerhin hat der
Rezensent Texte von Sabrow und einigen anderen Zeithistorikern stets
mit einigem Gewinn gelesen. Das spricht dafür, dass es der Zeithistorie
als Fachdisziplin auch in den zurückliegenden Jahren unter der Ägide
der interessegeleiteten kritischen, mit der DDR-Vergangenheit
abrechnenden Historiographie zumindest ein Stück weit dennoch hier und
da möglich war, „ihre professionellen Untersuchungsstandards und
Erkenntnisinteressen“ einzuspeisen.)
Mit der skizzierten Forderung setzt sich Sabrow in mehrfacher
Weise von Positionen der Expertise von Hoffmann, Schwartz und Wentker
ab. Gegenüber der dort artikulierten Vermittlungsintention und Bindung
an die Opfer der SED-Diktatur (S.64-70) wendet Sabrow ein:
„Zeitgeschichte als wissenschaftliche Disziplin ist keine moralische
Anstalt. Sie dient weder der volkspädagogischen Belehrung noch der
geschichtspolitischen Genugtuung, sondern der historischen
Erkenntnisgewinnung“ (S.183). Sodann unterstützt er nicht das Plädoyer
des Autorentrios an außerwissenschaftliche Akteure nach mehr Förderung
der DDR-Forschung, nach der Einrichtung von Lehrstühlen und Foren, in
denen sich Forscher und Fördereinrichtungen abstimmen und über
Prioritäten einig werden. Denn dies würde ja die Abhängigkeit der
Forschung von wissenschaftsfremden Mächten verlängern.
Sabrow selbst hält dagegen nur eines für nötig: „Wir brauchen
eine verlässliche und vom Respekt für die fachliche Selbststeuerung
getragene Förderung der zeitgeschichtlichen Lehre und Forschung, die
der gestiegenen Bedeutung der Verständigung über die Vergangenheit in
der Gegenwart… auch materiell Rechnung trägt“(S.183). Schließlich
wendet er sich gegen die Flut von weißen Flecken und offerierten
Perspektiven, die die Expertise durchzieht: „Einer wissenschaftlichen
Beschäftigung mit der DDR-Geschichte, die sich betreuender Begleitung
frei weiß, lassen sich keine von vornherein festgelegten Perspektiven
zuordnen; das wäre ein Widerspruch in sich“ (S.184). Er könne daher nur
für sich selbst sprechen, wenn er einige noch nicht beantworteter und
neu aufkommender Fragen an die DDR-Geschichte skizziert. Dabei geht er
ähnlich wie etwa Kocka und Wierling davon aus, das „gleichermaßen in
die ost- und westeuropäische Geschichte des 20. Jahrhunderts
eigebettete Untersuchungen zur DDR weiterführende Antworten geben
könnten“ (S.184).
Eine seiner „Leitfragen“ lautet: „Wie konnte sich der
kommunistische Versuch zur Ordnung der Moderne im 20. Jahrhundert neben
dem liberalen westlichen Gegenmodell so lange und zeitweilig scheinbar
so erfolgreich behaupten?“
Ferner fragt Sabrow nach der möglichen Sonderrolle der DDR an
der Nahtstelle der beiden Systeme. [War doch die DDR am stärksten den
Herausforderungen des westlichen Gegenspielers ausgesetzt und galt
dennoch als >>nüchternste Baracke im sozialistischen
Lager<< (185)]. Der Sinn der Frage ist völlig klar, doch was
meint der Groß-Historiker, wenn er von der DDR als der „nüchternsten
Baracke“ spricht? Hebt diese Formulierung darauf ab, was zu Beginn
dieser Besprechung des Bandes darlegt wurde - die DDR habe von allen
Ländern des Ostblocks dem Idealtypus des Realsozialismus
vergleichsweise am nächsten gestanden - , oder zielt sie ins
Lebensweltliche?
„Und wie schließlich hilft das Bespiel DDR zu verstehen, dass
der kommunistische Ordnungsentwurf… in Mittel- und Osteuropa seine
Gestaltungskraft so vollkommen einbüßte, dass uns seine historische
Abdankung rückblickend unvermeidlich erscheint? Und war dieser Zerfall
tatsächlich so unvermeidlich, wenn man die Entwicklung Nordkoreas oder
Kubas, noch mehr jedoch Chinas in Rechnung stellt…?“ (S.185)
Das sind spannende Fragen, auch wenn sie einer der so
genannten Platzhirsche der Zunft stellt. Möglicherweise können sie nur
von etablierten Wissenschaftlern aufgeworfen werden. Mir ist bislang
nicht aufgefallen, vielleicht auch nur entgangen, dass mit der Hufe
scharrende Anwärter auf begehrte Positionen wie Kowalczuk in solchen
Kategorien denken. Sabrow ist der Auffassung, dass die Beschäftigung
mit der untergegangenen DDR „Einblicke in die Bauformen einer anderen
Sinnwelt“ geben könne.
Zudem biete das Thema DDR einzigartige Erkenntnischancen über die Rolle und Verfasstheit der Zeitgeschichte als Disziplin.
Verabschiedet der Groß-Historiker damit die DDR-Geschichte und wendet sich der Zeitgeschichte der Berliner Republik zu?
Ich sehe es nicht so. Ist doch die Historie der Berliner Republik -
verstanden als zeitgeschichtlicher Bereich der deutschen Geschichte -
in vielfacher Weise mit dem >>Nachleben der DDR<< verwoben.
Davon zeugt auch der Text von Sabrow selbst. Ich will an dieser Stelle
nur zwei erläuternde Aspekte und Fragestellungen von Martin Sabrow
herausgreifen.
Aspekt 1: Wie reagierte die (westdeutsch dominierte)
Zeitgeschichte auf den Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung, wo doch
nun vielfach „alle Denkmuster eines >>Dritten Weges<< oder
überhaupt einer alternativen Ordnung der Gesellschaft plötzlich von
ältlicher Überholtheit wirkten?“ (S.187). Wer wie der Rezensent sich im
zurückliegenden Vierteljahrhundert als Kärrner und deutend auf dem
Felde der Ostdeutschland- und Transformationsforschung getummelt hat
und nie der Idee vom >>Ende der Geschichte<< zu folgen
vermochte, kann von Antworten auf diese Frage seinerseits
aufschlussreiche Einblicke in fremde Sinnwelten erwarten.
Aspekt 2: Wie trägt die Zeitgeschichte „…dem Umstand
Rechnung, dass 1989/90 nicht nur das glückliche Ende einer langen
Geschichte von Unfreiheit und Unterdrückung markiert, sondern sich mit
der Zeit immer deutlicher auch als Geburt neuer Problemlagen zu
erkennen gibt?“ (S.187)
In der Sache greift Sabrow damit zumindest partiell eine m.E.
auch für die Zeitgeschichte höchst fruchtbare Orientierung von Heinz
Bude auf, der zufolge Deutschland in den zurückliegenden 25 Jahren ein
„ganz anderes Land“ geworden sei. Im Westen wie im Osten. Und dies
nicht nur infolge der Vereinigung. Bude hebt u.a. auf soziale
Verwerfungen, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die
Abstiegsängste in den Mittelschichten, das Leerlaufen von
Aufstiegsversprechen ab.
Text als PDF: ---> (vollständiger Text hier) |
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