Report | Kulturation 1/2003 | Dietrich Mühlberg | Anpassung oder neue Eigenständigkeit? Eine Debatte über die kulturelle Assimilation der Ostdeutschen
| Die Beilage 17/2002 Aus Politik und Zeitgeschichte der Wochenzeitung Das Parlament
war dem Alltagsleben in der DDR gewidmet. Unter den Beiträgen ist auch
ein Aufsatz von Dietrich Mühlberg, der den Assimilations- und
Anpassungsprozeß nach dem Ende des DDR-Alltags betrachtet
(Schwierigkeiten kultureller Assimilation - Freuden und Mühen der
Ostdeutschen beim Eingewöhnen in neue Standards des Alltagslebens).
Unter den Zuschriften an den Autor war auch eine, in der deutliche
Zweifel an seiner These der weitgehenden Assimilation der Ostdeutschen
geäußert wurden. Nachstehend geben wir die Leserzuschrift, Mühlbergs
Antwort und einen Text von Schindhelm, auf den Mühlbergs Antwort sich
bezieht.
Die Redaktion
E-Mail an Dietrich Mühlberg
Sehr geehrter Herr Prof. Mühlberg,
mit großem Interesse habe ich Ihren Aufsatz in der Beilage "Aus Politik
und Zeitgeschichte" vom 26.4.2002 gelesen.
Im Rahmen meines Geschichtsstudiums beschäftige ich mich auch mit
DDR-Geschichte, zuletzt mit Alltagserfahrungen in der DDR am Beispiel
eines autobiografischen Lebensberichts.
Die Konfrontation mit diesem heiklen Thema empfinde ich durchaus
ambivalent. Und damit möchte ich Bezug nehmen auf einen Absatz ziemlich
zu Beginn Ihres Aufsatzes: "Die heute lebenden 'Eingeborenen' der neuen
Länder werden sich nur unvollkommen und mit inneren Brüchen an die
neuen Lebensregeln anzupassen vermögen. (...) Aber gerade weil ihnen
die Selbstsicherheit fehlt, mit der Westdeutsche in allen
Handlungsfeldern ihres vertrauten Gesellschaftssystems zu agieren
vermögen, können sie sozial lernbegierig und kritisch sein." (S. 3)
Ein ostdeutscher Kommilitone, mit dem ich darüber gesprochen habe,
hat gerade diesen Absatz als groben Affront und beinahe Abwertung gegen
die Biografie, Lebenserfahrungen, Sozialisation und gegenwärtige
Verhaltensweisen der Ostdeutschen empfunden. Die Zwei-Klassen-Teilung
der deutschen Bevölkerung in West- und Ostdeutsche werde durch solche
Äußerungen zementiert.
Ich selbst bin nach langer Überlegung nach wie vor unentschieden.
Einerseits glaube ich, dass eine große Zahl der Ostdeutschen sich nicht
unbedingt assimiliert, sondern vielmehr akkulturiert haben - und das
würde ich als positive Leistung bezeichnen, da es ohne weiteres eine
sehr schwierige Aufgabe darstellt, sich in einer völlig neuen
Gesellschaft zurechtzufinden. Andererseits sehe ich aber auch Tendenzen
- übrigens auch unter Studenten -, die genau dem entsprechen, was Sie
ausgeführt haben, obwohl diese Einschätzung auch stark pessimistische
Züge hat. Mir ist es bislang noch nicht gelungen, eine Balance zwischen
beiden auseinanderliegenden Positionen herbeiführen zu können.
Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie die konkrete Intention Ihrer
Ausführungen in dem zitierten Absatz kurz skizzieren könnten. Aus
meiner Sicht hängt von dem aufgeworfenen Problem auch ab, wie der bei
weitem noch nicht abgeschlossene Annäherungsprozess zwischen Ost- und
Westdeutschen gestaltet werden kann.
Mit freundlichen Grüßen
M. F.
Antwort von Dietrich Mühlberg auf die Zuschrift von Herrn F.
Sehr geehrter Herr F.,
zunächst möchte ich Ihnen dafür danken, daß Sie überhaupt
geschrieben haben. Und dies nicht nur, weil sich selbstverständlich
jeder Autor über (zustimmende wie kritische) Reaktionen freut, sondern
auch wegen des Engagements in der Sache, um die es hier geht.
Sie beziehen sich in Ihrer Mail auf die Passage
"Eine vollständige kulturelle Assimilation dürfte nur
nachwachsenden Generationen wirklich gelingen. Die heute lebenden
Eingeborenen der neuen Länder werden sich nur unvollkommen und mit
inneren Brüchen an die neuen Lebensregeln anzupassen vermögen."
Bevor ich auf Ihre damit verbundenen Anmerkungen eingehe, möchte
ich zunächst - als Angehöriger dieser deutschen Gesellschaft wie als
Kulturhistoriker - sagen, daß ich West-Ost-Unterschiede überhaupt nicht
negativ sehe und keinesfalls an ihrer Überwindung arbeiten wollte,
sondern sie nur besser verstehen möchte. Denn Verschiedenheiten aller
Art sind für große Gesellschaftskörper nicht nur normal, sondern
gehören zu den Bedingungen ihrer inneren Dynamik. So auch die zwischen
Ost- und Westdeutschen, die ja nur eine neben vielen weiteren
Differenzierungen sind (nach Generationen, Geschlecht, Landschafts- und
Regionenbindung, nach sozialem Status, nach Weltanschauung,
Freizeitpräferenzen usw.).
Voranschicken möchte ich auch, dass ich (schon berufsbedingt) die
Kenntnis der inneren kulturellen Differenzierung unserer wie anderer
Gesellschaften zwar für sehr wichtig halte, den Einfluß solchen Wissens
auf Abbau oder Vertiefung von Ost-West-Unterschieden aber
außerordentlich gering veranschlage. Selbst die großmächtigen
Massenmedien haben nur Einfluß auf die Interpretation dieser
Unterschiede, können sie aber weder wegreden noch zementieren.
Gewöhnlich befestigen sie nur die bereits vorhandenen Vorurteile von
Mehrheiten. Und sie tun dies oft wissentlich und wider besseres Wissen,
einfach der Quote wegen. Wenn Sie sich die Mühe machen und die letzten
zwölf Jahrgänge des SPIEGEL darauf prüfen, welches Bild vom
Ostdeutschen er vermittelt, werden Sie schnell sehen, dass die
Redaktion nur die Voreingenommenheit der westdeutschen gehobenen
Schichten auf den Punkt bringt und mit Anschauungsmaterial versorgt.
Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn die Interessenlagen
sind in Ost und West verschieden, selbst wenn viele einzelne das für
sich selbst anders sehen. Die sozialen Unterschiede hinter den
kulturellen Nuancierungen sind nicht herbeigeredet, sondern real. Im
Vergleich mit "den Westdeutschen" (oder bezogen auf den deutschen
Durchschnitt) zeichnen sich die Ostdeutschen aus durch ein ganz
erheblich geringeres Vermögen, durch deutlich minderes Einkommen, durch
schlechtere Arbeitsmarktchancen, durch regionale Nachteile und - alles
in allem - durch die weitgehende Ausschließung von den
(wirtschaftlichen, politischen, militärischen, wissenschaftlichen,
kulturellen usw.) Einflußpositionen dieser Gesellschaft. Denn wie wir
wissen, rekrutieren sich seit dem Ende der Nachkriegs-Aufsteiger-Phase,
die Eliten weitgehend aus sich selbst. Kulturwissenschaftlich ist daran
besonders interessant, wie die nachwachsenden ostdeutschen Generationen
mit ihrem wenig chancenreichen Status in den nächsten Jahrzehnten
umgehen werden - allerdings vorausgesetzt, es kommt zu keinen großen
Brüchen, die alles durcheinander wirbeln. Im Augenblick zeichnet sich
nur eine Strategie ab: die jungen Leute verlassen Ostdeutschland in
Scharen und versuchen, mit dem Ortswechsel auch die mindere soziale
Position zu überwinden.
Doch nun zu Ihrem Anliegen: handelt es sich bei dem kulturellen
Wandel in den neuen Bundesländern vor allem um einen
Assimilationsprozeß oder ist es treffender, von Akkulturation zu
sprechen.
Zunächst wäre der Ausnahmecharakter dieses Ereignisses zu betonen,
denn für den abrupten Übergang einer geordneten Population von gut
sechzehn Millionen Menschen in ein anderes Gesellschaftssystem gibt es
in der Kulturgeschichte nichts Vergleichbares. Entsprechend exorbitant
waren auch die Reaktionen. Sie reichten - je nach der Position in der
Herkunftsgesellschaft - von Integrationsverweigerung bis hin zu
völliger Assimilationsbereitschaft. Entsprechend differenziert ist das
Ergebnis.
"Kulturanthropologisch" gesprochen, war ein intensiver
Akkulturationsprozeß zu erwarten, also ein „kultureller Austausch- und
Übernahmeprozeß zwischen Mitgliedern verschiedener ‚Kulturgruppen‘
aufgrund eines längerfristigen Kulturkontakts“ (Ina-Maria Greverus,
Kultur). Doch wäre die Bezeichnung Akkulturation wohl eine recht
euphemistische Beschreibung des tatsächlichen Vorgangs. Da von
Austausch kaum die Rede sein kann, scheint eher ein Tatbestand
vorzuliegen, der in der Fachsprache als „kulturelle Überlagerung“
bezeichnet wird. Sie führt bei binnenkolonisatorischen
Kulturzusammenstößen zur einseitigen Übernahme fremdkultureller Muster
und Identitätsverlust. „Überlagerung“ trifft den Vorgang also eher,
denn massenhaft werden westdeutsche Verkehrsformen übernommen oder
nachgeahmt, findet eine Annäherung an westdeutsche Kulturmuster und
Lebensstile statt. In den massenkulturell geprägten Lebensbereichen war
das wegen der transnationalen Geltung moderner Lebensformen häufig gar
kein Problem für die betroffene Population. Aufschlussreich könnte in
der heutigen Situation sein, was Ina-Maria Greverus anfangs der 80er
Jahre über nationale Kulturpolitik gegenüber den kulturell
„Überlagerten“ im eigenen Lande schrieb: „ihr Anspruch auf kulturelle
Mitverantwortung kann weder durch die Popularisierung ‚hoher Kunst’
noch durch eine alltagsenthobene Kulturindustrie, einschließlich der
‚traditionellen’ Folklore, befriedet werden, wenn Kultur als kreatives
Potential des Menschen als verhaltensbestimmendes und Identität
gebendes Orientierungsmuster erkannt wird“.
Es wäre ein Thema für sich, alle Aspekte kultureller Überlagerung
und Assimilation abzuwägen. Sie wurden bislang kaum an Gesellschaften
unseres Typs diskutiert, sondern sind an die weltweiten
„Amerikanisierungsdebatten“ gebunden und uns durch die ethnologische
Kritik an fundamentalistischen Widerstandsformen gegen die
amerikanische Lebensweise bekannt geworden. Und so liegt der weltweit
beobachtete Normalfall von Akkulturation anders. Es ist das Eindringen
westlicher Zivilisation in kulturell anders verfasste Gesellschaften.
Hier wird beobachtet, dass äußere Einflüsse keineswegs brachial die
kulturellen Praxen verdrängen. Genauere Betrachtung zeigt, dass die
äußeren Einflüsse erst über interne Institutionen und besondere
Vermittlergruppen wirksam werden. Sie werden auf diese Weise dem
vorhandenen kulturellen Gefüge angepasst.
Alle einschlägigen Untersuchungen haben nämlich gezeigt, dass das
Medium jeder Aneignung „fremder“ Kulturformen die eigene Kultur ist.
Immer wird das Neue, das Begehrte, Unverständliche, Bedrohliche und
Fremde in die Sprachen der eigenen Kultur übersetzt. Immer erweisen
sich einige Medien (etwa Konsumgüter, die Popularkultur der Medien, die
Religionen) und einige Protagonisten (Jugendliche, Städter, Künstler)
für solche Übersetzungsleistungen als besonders geeignet. Sie verändern
die eigene Kultur dynamisch und beispielhaft in der Richtung des
Akkulturationsprozesses. Selbstverständlich tun sie dies auf recht
verschiedene Weise, auch durch Widerstand und durch deutliche
Abgrenzung von der übermächtigen Kultur.
Auch im Falle der Ostdeutschen ist das überindividuelle Instrument
und Medium der kulturellen Annäherung ihre eigene Kultur - als System
von Repräsentationen und Praktiken, mit dem Bedeutung produziert,
Identität konstituiert und Sinn verliehen wird. Diese Kultur (als
deutsche Teil- oder Großgruppenkultur) ist freilich nur (oder erst)
rudimentär ausgebildet. Doch allein das Funktionieren ihrer eigenen
Kultur würde die Ostdeutschen wirklich gleichstellen und sie zu Agenten
eines Akkulturationszusammenhangs machen, in dem sie kulturell
„verhandlungsfähig“ sind. Eigene kulturelle Instrumentarien der
Anpassung müssen darum als eine der Voraussetzungen für erfolgreiches
Handeln ostdeutscher Individuen und Gruppen gelten. Gleiches gilt
selbstverständlich für alle anderen „Mitgliedsgruppen“ der deutschen
Großgesellschaft.
Auf einer anderen Ebene ließen sich nach den Regeln kultureller
Interaktion formal vier (immer miteinander vermischte) Grundformen oder
Modi des Umgangs der Ostdeutschen mit der "fremden" Kultur
unterscheiden. Sie fallen je nach der Kontaktsituation verschieden aus.
Überwiegend ist es die kulturelle Assimilation als Übernahme der
zunächst fremden Formen (mit vielen kuriosen Brüchen) und als Loslösung
von allem, was auf die Herkunftskultur verweist (typisch für
Zwangssituationen und bei möglichem Statusgewinn durch Anpassung).
Dagegen steht immer zugleich das absichtliche und betonte Festhalten an
der eigenen Kultur, die radikale Ablehnung aller Zumutungen der fremden
Kultur. Doch solch eindeutiges Verhalten ist selten, für große Gruppen
ist das unsichere Schwanken zwischen den Kulturen charakteristisch, das
zur Synthese wie zur Entscheidung vorläufig unfähig macht. Dafür
braucht es dann zugespitzter Situationen, die auch subjektiv als Bruch
wahrgenommen werden. Die sind aber selten und müssen deutlich von der
alltagspraktischen Fähigkeit zum Verknüpfen der unterschiedlichen
kulturellen Elemente in bestimmten Lebenssituationen unterschieden
werden. In diesen massenhaften Alltagssituationen ist die Verschmelzung
zu neuen Kulturformen tendenziell enthalten.
Darum kann ich Ihnen nur zustimmen: auch die Anpassung an neue
Bedingungen ist eine schöpferische Leistung. Sie ist nur durch den
Einsatz des subjektiven Vermögens möglich, erfolgt in den erlernten
Techniken und modifiziert nicht nur das eigene Repertoire, sondern auf
Dauer zu einer gewissen kulturellen Überlegenheit. Denn die aktiven
"Anpasser" haben gegenüber den Eingesessenen ein dreifaches Wissen.
Neben der Kenntnis des Früheren und der Erfahrung der Anpassung
verfügen sie auch über die aktuellste Variante der Hegemonialkultur.
Laurence McFalls (ApuZ 11/2001) beobachtete das und meinte, inzwischen
wären viele Ostdeutsche viel westdeutscher als die Mehrheit der
Westdeutschen selbst.
Nicht nur in dieser Perspektive dürfte der Beitritt der DDR "das
Westdeutsche" mächtig verstärkt haben, wie schon Heiner Müller
sarkastisch anmerkte: "Zehn Deutsche sind dümmer als fünf Deutsche".
Vor allem mussten "die Westdeutschen" im Zusammenbruch des
Realsozialismus eine Bestätigung ihres Systems, ihrer Lebensweise,
ihrer Überlegenheit sehen. Doch jenseits des Mainstreams, bei den
reflektierenden Geistern, sah das etwas anders aus. Für mich hat der
Schriftsteller Michael Schindhelm (er ist Theaterintendant in Basel)
erst kürzlich (in einem Beitrag für das Schriftstellertreffen in Elmau)
exemplarisch erläutert, warum dem reflektierenden Ostdeutschen die
Assimilation an den Westen völlig unmöglich ist. Weil sich viele
ostdeutsche Intellektuelle, die im Westen leben oder gelebt haben,
ähnlich (Sie würden es vielleicht "pessimistisch" nennen) geäußert
haben, gebe ich den kurzen Text von Schindhelm in den Anhang.
Die von McFalls beobachtete relative Überlegenheit den
Westdeutschen gegenüber dürfte auf einer anderen Ebene, in anderen
sozialkulturellen Milieus zu finden sein, und ihr wäre erst noch
empirisch nachzugehen. Tatsächlich sind ja die Ostdeutschen
mehrheitlich nicht nur die seltsamen Hinterwäldler jenseits der Elbe,
sie sind auch die Fremden in der neuen großen Bundesrepublik, sind im
Bricolageprozeß mit den hier herrschenden Mustern. Für alles, was hier
als normal gilt und nicht weiter hinterfragt wird, für alles, was den
Westlern quasi angeboren und selbstverständlich ist, müssen sie einen
„rationalen Zugang“ finden. Sie sind durch ihre Lage gezwungen, besser
zu sein. Sie allein verfügen über die Assimilations- und
Durchsetzungskraft des „Fremden“ (Georg Simmel). Diese (oft auch
hinterlistige) Überlegenheit des Unterlegenen findet sich in manchem
der kursierenden Sprüche auf „den Westdeutschen“: „Der Fuchs ist schlau
und stellt sich dumm, beim Wessi ist das andersrum“.
Allerdings überdecken solche Sprüche ein fatales Defizit, das aus
der besonderen Lage nach dem Beitritt zur Bundesrepublik folgte. Die
Ostdeutschen verfügen über fast keine eigenen Institutionen als Medien
kultureller Anpassung. Jenseits der Alltagsebene ist das kein
innengesteuerter Prozeß, auch die "Spezialisten für Anpassung" kamen
mehrheitlich aus dem Westen, es fehlte weitgehend an der eigenen
kulturellen Avantgarde, die diesen Anpassungsprozeß spektakulär
reflektiert. Ich gebe Ihnen im Anhang die Datei eines Aufsatzes (er
wird im Herbst in dem Sammelband "Verletztes Gedächtnis" bei Campus
erscheinen), in dem ich versuche, die langsame Ausbildung eines eigenen
"Anpassungsbewusstseins" der Ostdeutschen zu skizzieren.
Was ich hier - wie in dem ganzen Artikel - deutlich machen wollte:
im Unterschied zu ihren östlichen Nachbarn, deren Gesellschaften einen
längeren Transformationsprozeß durchmachen, der von den inneren, von
eigenen sozialen Kräften bewirkt wird, sind die Ostdeutschen einer
typologisch andersartigen Gesellschaft beigetreten. Auf deren innere
Dynamik haben sie nur indirekt, nicht als absichtsvolle Akteure einen
Einfluß. Was sie zu leisten hatten und haben ist tatsächlich weitgehend
eine Anpassung an vorgegebene Strukturen. Ihre Handlungsspielräume
liegen im Lernprozeß, nicht im Einfluß auf das Rechtssystem, auf die
politischen Strukturen, auf die Mediensituation oder gar auf die
Wirtschaftsverfassung.
Um ein Beispiel aus der Wirtschaft, aus Untersuchungen zum
ostdeutschen Management zu nehmen: wenn ostdeutsche Unternehmer
aufgrund ihrer Sozialisation meinen, eher gebrauchswertorientiert
produzieren zu müssen (ein gutes Produkt wird sich schon durchsetzen)
und sie in der Betriebsführung soziale Aspekte stärker berücksichtigen
(nur als Gemeinschaft, in der jeder zurücksteckt, können wir
überleben), so mögen das nur Nuancierungen sein, führen in einer
gewinnorientierten Wirtschaftsweise aber zwangsläufig zum Konkurs. Wer
jahrzehntelang daran gewöhnt war, ein dringend benötigtes Produkt in
akzeptabler Qualität zu liefern, der versteht nur sehr schwer, daß es
nun entscheidend ist, daß sich sein Produkt auf dem Markt zu einem
akzeptablen Preis realisiert. Da gibt es keine Akkulturation, bei
Strafe des Bankrotts ist hier die Assimilation an eine andere
Wirtschaftsphilosophie verlangt.
Ähnlich ist das für alles andere Verhalten jenseits der privaten
Sphäre im engsten Sinne. Und das war für mich das Motiv, für das große
und Ganze den Begriff der Assimilation zu verwenden.
Sicher habe ich damit Ihre Bedenken nicht ausräumen können. Dazu
ist die Materie zu kompliziert und heikel, führt uns die
Ost-West-Poblematik doch direkt zu den aktuellen Debatten über das
Verbindende der Deutschen, über "deutsche Normalität" und über den
Umgang mit Minderheiten. Dies nicht nur, weil das Ende der ostdeutschen
Sezession die neue deutsche Situation (die Normalität einer Weltmacht)
herbeigeführt hat, sondern auch, weil die Ostdeutschen die größte
Minderheit im Lande darstellen.
Mit freundlichen Grüßen
Dietrich Mühlberg
Dokumentarischer Anhang: Michael Schindhelm in Elmau
Michael Schindhelm
Vor dem Gesetz
Ein Beitrag für Elmau
Als Paul Auster am 11. September in Brooklyn die Feststellung traf,
das 21 Jahrhundert habe soeben begonnen, war das sehr verständlich.
Dass sich dieses Diktum inzwischen überall in der Welt gerade auch in
Mitteleuropa, durchgesetzt hat, weniger. - Mit einem Schlag schien die
Erfahrung ausgelöscht, mit dem Untergang des Sozialismus habe sich die
Welt grundlegend und nachhaltig verändert. Das Jahrzwölft seit Herbst
1989 schrumpfte nun auf ein interimistisches Maß, der Kalte Krieg
selbst, dessen Ende man eben noch mit Erleichterung gefeiert hatte, war
in historische Ferne gerückt und besaß vor allem in der Wiedererzählung
durch James-Bond-Formate Erinnerungswert. Die Epoche des
Totalitarismus, die bis eben noch - direkt oder indirekt - den
Denkhorizont jeder lebenden Generation ausgemacht hatte, schien
endgültig aus dem aktuellen Blickfeld geraten zu sein. Die
Neunzigerjahre nichts als eine transitorische Bagatelle?
Einen Vergangenheitsentzug diesen Ausmaßes kannten bereits
diejenigen, die seit einem Jahrzehnt versuchten, im Westen, dem anderen
System, anzukommen. Für die aus dem Sozialismus Entlassenen bargen die
Neunzigerjahre die seltsame Erfahrung, dass sich die Stunde Null, als
die man den Herbst 1989 begriffen hatte, inzwischen über Jahre
ausdehnte. Der Schwebezustand einer nicht enden wollenden Assimilation
und Einkehr ließ bald Zweifel daran entstehen, ob Ankommen überhaupt
möglich war. Der Westen war jetzt überall, und nichts galt mehr für
immer. Das System selbst geriet in Auflösung. Die entzauberte
Massendemokratie wurde permanenter Ausnahmezustand: keine Perspektiven,
keine Gewissheiten, keine Stabilitäten.
Wie in Kafkas Vor dem Gesetz hatte der Westen seine Pforten
zwar geöffnet, man war aber doch nicht reingekommen. Man hatte sich auf
den großen biografischen Schnitt gefasst gemacht, seine unnütz
gewordenen Lebenserfahrungen weggeworfen und - wenn man noch jung und
beweglich genug war - die Beschämung akzeptiert und die Scham
überwunden, die soziales Analphabetentum im Übergang von einem System
in das andere bedeutete, hatte sich zum Beispiel daran gewöhnt, als
Deutscher zu gelten, obwohl man eine ganz andere politische und soziale
Vergangenheit besaß als 80 Prozent der Landsleute (die für diese
Differenz schnell jedes Interesse verloren), hatte sich als selbst
auflösende Minderheit sehen gelernt Man hatte sich daran gewöhnt,
präsentiert zu werden (als Bundesdeutscher, als Europäer), ohne
repräsentiert zu sein.
Als am 11. September der deutsche Bundeskanzler jedoch erklärte,
wir alle seien Amerikaner, spürte man schlagartig die Rhetorik eines
den Einzelnen entmündigenden Kollektivbegriffs, die darum bemüht war,
eine Zwangsidentität herzustellen. Der Spaß war vorbei, und die
totalitäre Ordnungsmacht des Staates streckte den Kopf aus dem Schaum
der Popgesellschaft.
In der DDR setzte man sein schwiemeliges Parzellendasein daran, den
Weg vom Ich zum Wir nicht mitgehen zu müssen. Am Ende war man sogar
aufgestanden und durch die Mauer gegangen.
Zwölf Jahre später wächst die Erkenntnis, der Traum von
Individualismus und Freiheit bleibe auch hier ein Traum. Der Souverän
ist immer noch der Staat, der über mich entscheidet, meine
Vergangenheit, meine Zukunft. Die technologische Überlegenheit des
Westens, mit der er vor zwölf Jahren die andere Seite endgültig in die
Knie gezwungen hatte, erweist sich als Voraussetzung dafür, die in
seinem Bannkreis Lebenden - also alle - noch gründlicher zu
beherrschen, als dies die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts
getan haben. Niemand entgeht den Augen des Staates, niemand der
öffentlichen Hand. Da ist es nur folgerichtig, dass der deutsche
Innenminister über die Erfassung biometrischer Kenndaten nachdenkt. Giorgio Agamben hat, in Weiterentwicklung von Foucaults
Biopolitiktheorie, das Lager als entscheidendes Paradigma der sozialen
Moderne gekennzeichnet. Damit sorgt man für gute Laune unter den
Debattanten. Das ändert aber nichts daran, dass Agamben die wichtigste
Beobachtung bestätigt, die gemacht hat, wer in den Neunzigerjahren
vergeblich danach trachtete, aus dem Käfig der kommunistischen Welt in
eine ganz anders funktionierende, nämlich offene Gesellschaft
einzutreten.
(Abgedruckt in FREITAG Nr. 21 vom 17. 05. 2002, S. 14)
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