KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
 Start  Reports  Themen  Texte  Zeitdokumente  Kritik  Veranstaltungen 

 Editorial  Impressum     
ReportKulturation 2/2003
Witold Pronobis
Polnische Gegenwart - deutsche Vergangenheit
Fährt ein Deutscher nach Polen, und zwar in die Gebiete, die an die Oder grenzen, die also Jahrhunderte zu Deutschland gehörten, dann erfassen ihn notwendig widersprechende, sogar verwirrende Gefühle. Einerseits kommt er in ein fremdes Land: In den Orten sind die Ortsschilder und die Reklame an den Geschäften polnisch. Auch sieht er blumenübersäte Kreuze und Friedhöfe, wie er dies in Deutschland nicht kennt. Andererseits fühlt er sich auch seltsam heimisch, denn die Dörfer und Städte sehen irgendwie deutsch aus, und auch die Landschaft ist nicht anders als dort, von wo er kommt.

Dies haben mir viele Deutsche so berichtet: Daß sie sich fremd fühlen und heimisch zugleich. Ich glaube, es ist bei den Polen in den einst deutschen Gebieten nicht viel anders. Sie wissen, daß ihre Heimat eine noch immer vielfach deutsch geprägte Landschaft ist. Und das bringt Probleme mit sich.

Die Polen waren immer besorgt um ihre polnische Identität, und sie hatten immer guten Grund dazu. Diese Sorge ist nicht nur geblieben, sie ist neu entflammt. Die Polen ahnen, daß auch sie, wenn das Land Mitglied der EU wird, mit dem Phänomen des Multikulturalismus konfrontiert werden. So wie manche Deutschen Schwierigkeiten haben, andere Kulturen auf ihrem Staatsgebiet zu akzeptieren - ich denke insbesondere an die Türken - , so werden auch und besonders die um ihre Identität besorgten Polen Probleme haben, sozusagen fremde Kulturen bei sich zu akzeptieren.

Mit dieser sozusagen "fremden" Kultur (die aber in Wahrheit gar nicht so fremd ist!) meine ich natürlich die deutsche. Denn mit ihr werden es die Polen vor allem zu tun bekommen, mehr als bisher schon. Und das macht ihnen Angst.

An dieser Stelle sollten wir uns die "kulturelle Eigenständigkeit" der Polen genauer anschauen, und besonders die der Bewohner der ehemaligen Neumark, die bis zum Ende des 2. Weltkrieges zu Ostbrandenburg gehörte. Sollten die Polen wirklich überzeugt sein, "ihre" Eigenständigkeit zu pflegen, die in den letzten Jahrzehnten von sowjetischen Mustern, dem Kampf mit der Religion, Zensur, Propaganda und gefälschter Geschichte geprägt war?

Wie Ergebnisse von soziologischen Untersuchungen zeigen, ist das polnische Volk (ähnlich wie andere Völker des ehemaligen Ostblocks) aus der kommunistischen Epoche nicht mit gestärkter, sondern vielmehr mit geschwächter Eigenständigkeit herausgegangen. Wenn man sich aber geschwächt fühlt, fällt es den Menschen doppelt schwer, die (nunmehr friedliche) "Kulturexpansion" vom Westen zu verkraften. Und es fällt auch schwer, die Bedürfnisse der Minderheiten, die bei uns in Polen leben, zu befriedigen.

Im Falle der Gebiete im Westen und Norden Polens wirken zusätzlich starke kulturelle Unterschiede in der Bevölkerung selbst. In den ersten Nachkriegsjahren kamen hier über 5 Millionen Übersiedler an, davon ca. 2 Millionen vom Bug (Ostpolen), ca. 2,7 Millionen aus Zentralpolen und ca. 0,5 Millionen aus den anderen Gebieten (z.B. aus der Ukraine). Aus westlichen Ländern kehrten emigrierte Polen zurück.

Für die kulturelle Eigenständigkeit der sich hier bildenden Gesellschaft mußte dieser gewaltige Zustrom eine sehr negative Wirkung haben. Eigene Traditionen, sofern überhaupt vorhanden, konnten sich entweder nicht bilden oder gingen verloren. Andererseits gibt es hier, im Unterschied zu den übrigen Gebieten Polens, bereits eine Art "Multikulti"-Gesellschaft, die freilich das Westliche bisher kaum einschließt.

Wie Sie wissen, sollten die dem polnischen Staat von den vier Siegermächten anerkannten Gebiete ein "Ausgleich" für die im Osten verlorenen Gebiete sein. Von der kommunistischen Propaganda wurden sie allerdings als angeblich "wiedergewonnene" bzw. "urpolnische" Gebiete bezeichnet. In Bezug auf den größten Teil dieser Gebiete (z.B. Masuren, Westpommern und Neumark) war das eine glatte Lüge und Fälschung der Geschichte. Das gilt auch für weitere Teile der West- und Nordgebiete des Nachkriegspolens.

Die lokale Gesellschaft nun hat diese von den kommunistischen Behörden verbreiteten Propagandaschlagworte relativ gern aufgenommen. Daß es sich um eine Geschichtsfälschung handelte, wurde nur wenigen bewußt. Fast alle, besonders die Umsiedler aus dem Osten des früheren Polens, haben sich mit der Bezeichnung "wiedergewonnene Gebiete" schnell und ohne Widerspruch angefreundet.

Man sollte jedoch in diesem Zusammenhang auch an die "Lenkung der Geschichte" auf der anderen, der deutschen Seite der Oder hinweisen. So haben die Verbände der Heimatvertriebenen in früheren Jahren vielfach Fakten verschwiegen, die der Vertreibung vorausgingen, mitunter sogar die Tatsache des deutschen Überfalls auf Polen 1939. Oder sie haben die Verbrechen der Nazis im besetzten Polen (KZ, Massenexekutionen, Aussiedlungen usw.) nicht im Zusammenhang mit ihrem eigenen Schicksal sehen wollen.

Die Geschichte an sich ist, auch ohne politische Manipulationen, nicht die größte Stärke der beiden Nationen (genauso in Polen wie in Deutschland). Das bessere Wissen über die Vergangenheit dieser Gebiete haben meist nur die jeweiligen intellektuellen Eliten. Aber hier wie dort ist die Sicht sozusagen "einäugig", auf dem anderen Auge ist man blind. So spricht man unter den deutschen Intellektuellen von Geburtsorten oder vom Wirken der Gründer deutscher Kultur und Wissenschaft wie etwa Johann Gottfried Herder, Immanuel Kant, Artur Schopenhauer usw. Und die Polen sprechen von Volks-Aktivisten wie der Familie Pieniêzny in Ermland oder Dzyma³a in Großpolen.

Was selten gesehen wurde, in Zukunft aber unbedingt begriffen werden muß, ist die Tatsache, daß es immer schon so etwas wie einen, nur durch die Sprache getrennten, gemeinsamen deutsch-polnischen, polnisch-deutschen Kulturraum gab. Und daß dieser gemeinsame Kulturraum begriffen, gefördert und entwickelt werden muß.

(Nach Brandenburgkurier 3/2002, S. 2-3.)