Report | Kulturation 2/2003 | Witold Pronobis | Polnische Gegenwart - deutsche Vergangenheit
| Fährt
ein Deutscher nach Polen, und zwar in die Gebiete, die an die Oder
grenzen, die also Jahrhunderte zu Deutschland gehörten, dann erfassen
ihn notwendig widersprechende, sogar verwirrende Gefühle. Einerseits
kommt er in ein fremdes Land: In den Orten sind die Ortsschilder und
die Reklame an den Geschäften polnisch. Auch sieht er blumenübersäte
Kreuze und Friedhöfe, wie er dies in Deutschland nicht kennt.
Andererseits fühlt er sich auch seltsam heimisch, denn die Dörfer und
Städte sehen irgendwie deutsch aus, und auch die Landschaft ist nicht
anders als dort, von wo er kommt.
Dies haben mir viele Deutsche so berichtet: Daß sie sich fremd fühlen
und heimisch zugleich. Ich glaube, es ist bei den Polen in den einst
deutschen Gebieten nicht viel anders. Sie wissen, daß ihre Heimat eine
noch immer vielfach deutsch geprägte Landschaft ist. Und das bringt
Probleme mit sich.
Die Polen waren immer besorgt um ihre polnische Identität, und sie
hatten immer guten Grund dazu. Diese Sorge ist nicht nur geblieben, sie
ist neu entflammt. Die Polen ahnen, daß auch sie, wenn das Land
Mitglied der EU wird, mit dem Phänomen des Multikulturalismus
konfrontiert werden. So wie manche Deutschen Schwierigkeiten haben,
andere Kulturen auf ihrem Staatsgebiet zu akzeptieren - ich denke
insbesondere an die Türken - , so werden auch und besonders die um ihre
Identität besorgten Polen Probleme haben, sozusagen fremde Kulturen bei
sich zu akzeptieren.
Mit dieser sozusagen "fremden" Kultur (die aber in Wahrheit gar nicht
so fremd ist!) meine ich natürlich die deutsche. Denn mit ihr werden es
die Polen vor allem zu tun bekommen, mehr als bisher schon. Und das
macht ihnen Angst.
An dieser Stelle sollten wir uns die "kulturelle Eigenständigkeit" der
Polen genauer anschauen, und besonders die der Bewohner der ehemaligen
Neumark, die bis zum Ende des 2. Weltkrieges zu Ostbrandenburg gehörte.
Sollten die Polen wirklich überzeugt sein, "ihre" Eigenständigkeit zu
pflegen, die in den letzten Jahrzehnten von sowjetischen Mustern, dem
Kampf mit der Religion, Zensur, Propaganda und gefälschter Geschichte
geprägt war?
Wie Ergebnisse von soziologischen Untersuchungen zeigen, ist das
polnische Volk (ähnlich wie andere Völker des ehemaligen Ostblocks) aus
der kommunistischen Epoche nicht mit gestärkter, sondern vielmehr mit
geschwächter Eigenständigkeit herausgegangen. Wenn man sich aber
geschwächt fühlt, fällt es den Menschen doppelt schwer, die (nunmehr
friedliche) "Kulturexpansion" vom Westen zu verkraften. Und es fällt
auch schwer, die Bedürfnisse der Minderheiten, die bei uns in Polen
leben, zu befriedigen.
Im Falle der Gebiete im Westen und Norden Polens wirken zusätzlich
starke kulturelle Unterschiede in der Bevölkerung selbst. In den ersten
Nachkriegsjahren kamen hier über 5 Millionen Übersiedler an, davon ca.
2 Millionen vom Bug (Ostpolen), ca. 2,7 Millionen aus Zentralpolen und
ca. 0,5 Millionen aus den anderen Gebieten (z.B. aus der Ukraine). Aus
westlichen Ländern kehrten emigrierte Polen zurück.
Für die kulturelle Eigenständigkeit der sich hier bildenden
Gesellschaft mußte dieser gewaltige Zustrom eine sehr negative Wirkung
haben. Eigene Traditionen, sofern überhaupt vorhanden, konnten sich
entweder nicht bilden oder gingen verloren. Andererseits gibt es hier,
im Unterschied zu den übrigen Gebieten Polens, bereits eine Art
"Multikulti"-Gesellschaft, die freilich das Westliche bisher kaum
einschließt.
Wie Sie wissen, sollten die dem polnischen Staat von den vier
Siegermächten anerkannten Gebiete ein "Ausgleich" für die im Osten
verlorenen Gebiete sein. Von der kommunistischen Propaganda wurden sie
allerdings als angeblich "wiedergewonnene" bzw. "urpolnische" Gebiete
bezeichnet. In Bezug auf den größten Teil dieser Gebiete (z.B. Masuren,
Westpommern und Neumark) war das eine glatte Lüge und Fälschung der
Geschichte. Das gilt auch für weitere Teile der West- und Nordgebiete
des Nachkriegspolens.
Die lokale Gesellschaft nun hat diese von den kommunistischen Behörden
verbreiteten Propagandaschlagworte relativ gern aufgenommen. Daß es
sich um eine Geschichtsfälschung handelte, wurde nur wenigen bewußt.
Fast alle, besonders die Umsiedler aus dem Osten des früheren Polens,
haben sich mit der Bezeichnung "wiedergewonnene Gebiete" schnell und
ohne Widerspruch angefreundet.
Man sollte jedoch in diesem Zusammenhang auch an die "Lenkung der
Geschichte" auf der anderen, der deutschen Seite der Oder hinweisen. So
haben die Verbände der Heimatvertriebenen in früheren Jahren vielfach
Fakten verschwiegen, die der Vertreibung vorausgingen, mitunter sogar
die Tatsache des deutschen Überfalls auf Polen 1939. Oder sie haben die
Verbrechen der Nazis im besetzten Polen (KZ, Massenexekutionen,
Aussiedlungen usw.) nicht im Zusammenhang mit ihrem eigenen Schicksal
sehen wollen.
Die Geschichte an sich ist, auch ohne politische Manipulationen, nicht
die größte Stärke der beiden Nationen (genauso in Polen wie in
Deutschland). Das bessere Wissen über die Vergangenheit dieser Gebiete
haben meist nur die jeweiligen intellektuellen Eliten. Aber hier wie
dort ist die Sicht sozusagen "einäugig", auf dem anderen Auge ist man
blind. So spricht man unter den deutschen Intellektuellen von
Geburtsorten oder vom Wirken der Gründer deutscher Kultur und
Wissenschaft wie etwa Johann Gottfried Herder, Immanuel Kant, Artur
Schopenhauer usw. Und die Polen sprechen von Volks-Aktivisten wie der
Familie Pieniêzny in Ermland oder Dzyma³a in Großpolen.
Was selten gesehen wurde, in Zukunft aber unbedingt begriffen werden
muß, ist die Tatsache, daß es immer schon so etwas wie einen, nur durch
die Sprache getrennten, gemeinsamen deutsch-polnischen,
polnisch-deutschen Kulturraum gab. Und daß dieser gemeinsame Kulturraum
begriffen, gefördert und entwickelt werden muß.
(Nach Brandenburgkurier 3/2002, S. 2-3.)
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