KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ReportKulturation 2015
Volker Gransow
Vom Ost-West-Konflikt zur Hybridisierung?
Zur Kultursoziologie einer Berliner Abfertigungshalle
Der frühere Ost-West-Konflikt wird zunehmend durch Hybridisierung ersetzt. Dies wird an einer Fallstudie zum Berliner "Tränenpalast" demonstriert.
Nicht nur bei Hybridautos, auch anderswo in Industrie und Landwirtschaft wird der Begriff der Hybridität selbstverständlich benutzt. Ganz so ist es in Kultur und Kultursoziologie noch nicht, obwohl er eine vernünftige Alternative etwa zum „Multikulturalismus“ darstellt. Insbesondere Elka Tschernokoschewa hat durch eigene Beiträge wie auch durch die von ihr herausgegebene Schriftenreihe „Hybride Welten“ die Diskussion dazu wesentlich befördert [1]. Durch ihre Tätigkeit am Sorbischen Institut in Bautzen sowie Lehre und Forschung in Sofia und Leipzig, in Basel und Tübingen hat sie in Theorie und Praxis an der Überwindung des Ost-West – Konflikts mitgewirkt und neue Perspektiven eröffnet [2]. Diesen soll hier in einer Fallstudie zur DDR-Abfertigungshalle am Berliner Bahnhof Friedrichstrasse – dem „Tränenpalast“ - nachgegangen werden. Der Tränenpalast wurde kurz nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 an der Nordseite des Bahnhofs Friedrichstraße errichtet und zwar als Bestandteil der dortigen Grenzübergangsstelle mit direkter Verbindung zur Bahn. Offiziell hieß er „Ausreisepavillon“, zum Tränenpalast wurde er vor allem ab den frühen achtziger Jahren vom Volksmund und den Medien ernannt. Im folgenden soll nach einer detallierteren kultursoziologischen Beschreibung und Analyse dieses offensichtlich mit Tränen verbundenen Gebäudes und seiner Nutzung gefragt werden. Es geht um folgende Fragen: wie war erstens der politisch - sozialhistorische Kontext bis zur Schaffung des Tränenpalasts 1961-62? Wie veränderten sich zweitens Struktur, Funktion und Rezeption des Pavillons in der 28jährigen Geschichte der Teilung Berlins durch den Ost-West-Konflikt? Was wurde drittens daraus nach dem Mauerfall 1989, der Vereinigung Deutschlands und der Wiederherstellung von Gesamtberlin [3]? Kann man eine zunehmende Hybridisierung vermuten? Dabei geht es nicht um biologisch – physiologische Tränen (für deren Analyse ist der psychische oder physische ophtalmologische Anlass gleichgültig) , sondern um Emotionen im politisch-soziologischen und kulturellen Kontext [4], also gleichsam die Unterscheidung von „lautem“ und „stillem“ Weinen oder „feuchten“ und „trockenen“ Tränen [5].

Der Bahnhof Friedrichstraße und mit ihm die gesamte Berliner Stadtbahn wurde am 6. Februar 1882 von Kaiser Wilhelm I. eingeweiht. Damit wurde dessen Bedeutung als Berliner „Central-Bahnhof“ unterstrichen – Reaktion auf das rapide Wachstum Berlins nicht nur als Hauptstadt von Preußen und Deutschland, sondern auch als sich beständig ändernde Industriemetropole. Gab es ursprünglich noch Dampflokomotiven, so folgten neben Umbauten des Bahnhofs die Elektrifizierung der Stadtbahn in den zwanziger Jahren, der Bau der unterirdischen Anlagen für die Nord - Süd – S – Bahn und Bau bzw. Ausbau der U-Bahnverbindung zwischen Kreuzberg im Süden und Wedding im Norden. Damit wurde der Bahnhof zu einem markanten Verkehrsknotenpunkt – mit dem entsprechenden Umfeld: Hotels, Theater, Tingeltangel, Varietés, Ministerien, Lobby-Vertretungen, Prostitution sowie Klein- und Großkriminalität. Er bekam zwei Dächer jeweils für Fernbahn ( z.B. Paris-Moskau) und die Ost – West – Stadtbahn (z.B. Erkner - Wannsee). Wohl niemand ahnte, dass dies bei der späteren Teilung Berlins von Wichtigkeit werden könnte [6].

Tränen gibt es wohl auf jedem Bahnhof, traurige Tränen des Abschieds, glückliche Tränen beim Wiedersehen. Aber hier wurde nicht nur in zwei Weltkriegen geweint, sondern auch beim Exodus von Tausenden jüdischer Kinder, die 1938/39 dem NS-Terror vom Bahnhof Friedrichstraße aus durch die Übersiedlung nach Großbritannien entkommen konnten – allerdings unter Zurücklassung ihrer wenig später deportierten und oft ermordeten Familien. Heute erinnert ein Denkmal in der Georgenstraße an sie. Viel Leid verursachte auch die Sprengung und Flutung der Nord – Süd – S – Bahn durch die SS im Frühjahr 1945 – Rücksicht auf Schutzsuchende wurde nicht genommen.

Nach Kriegsende 1945 waren Deutschland und Berlin befreit und besetzt. Beide fanden sich bald unter einer Viermächte – Verwaltung durch die Westmächte USA, England und Frankreich einerseits, die Sowjetunion andererseits wieder. Das betraf auch Bahnverkehr und Bahnhöfe. Die Bahn in der sowjetischen Besatzungszone und in ganz Berlin wurde von der (Ost-) Deutschen Reichsbahn übernommen, desgleichen die Berliner S-Bahn. Für den Bahnhof Friedrichstraße war die Lage nach den notwendigen Reparaturen insofern unverändert, als er immer noch Verkehrskreuz mitten im Theaterdistrikt war. Zusätzlich wurde er aber immer mehr zum Grenzbahnhof, denn die Sektorengrenze zu West-Berlin war nur ca. 1, 6 km entfernt. Deutschland und Berlin wurden in zwei Wirtschafts- und Währungsgebiete geteilt, Ost-Berlin zur Hauptstadt der 1949 gegründeten DDR, West-Berlin zur de-facto-Enklave der Bundesrepublik mit westalliierter Oberhoheit.

Das bedeutete für den Bahnhof nach Unterbrechung des Berliner Straßenbahn- und Telefonnetzes schon in den fünfziger Jahren angesichts des ungeteilten S-Bahn-Netzes verstärkte Kontrollen. Gesucht wurden potenzielle Flüchtlinge (Republikflucht galt inzwischen als Verbrechen) sowie illegaler Transfer von Materialien und Produkten. Gleichzeitig waren Zehntausende Berlinerinnen und Berliner im jeweils anderen Teil der Stadt beruflich beschäftigt, viele hatten Verwandte auf der anderen Seite. Nicht wenige von ihnen benutzten die S- und U-Bahn, darunter vor allem den Bahnhof Friedrichstraße. Dessen Struktur war in den fünfziger Jahren so: unterirdisch verkehrten die U-Bahn und die Nord-Süd-S-Bahn, oberirdisch gab es drei Bahnsteige in zwei Hallen. Auf dem Fernbahnsteig A fuhren Ost-West - Fernzüge (darunter etwa der Paris - Moskau - Express ), auf den Bahnsteigen B und C hielten die Züge der S-Bahn in Ost-West- Richtung. Damals wie heute konnte man direkt vom Bahnsteig C über die „Theaterbrücke“ zum Deutschen Theater, dem Berliner Ensemble und dem Friedrichstadt-Palast gelangen. Das galt für westliche Bildungsbürger ebenso wie für ostdeutsche Arbeiterbrigaden auf dem „Bitterfelder Weg“. Aus dieser Komplexität des Bahnhofs sollte nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 eine Zweiteilung werden. Die Ursachen der Grenzschließung in und um Berlin waren vielfältig.

Nicht vergessen werden sollte das westdeutsche Staatsbürgerschaftsrecht, das allen DDR - Bürgerinnen und -Bürgern einen Rechtsanspruch auf sofortigen Wohnsitz und Arbeitsmöglichkeit (also nicht Asyl!) in der BRD gab. Insofern war die Rede vom antifaschistischen Schutzwall eher irreführend. Eine Massenflucht veranlasste mehrere Berlin-Krisen und -Ultimaten. USA-Präsident Kennedy gab im Sommer 1961 gleichsam „grünes Licht“, indem er die Respektierung des sowjetischen Machtbereichs in Deutschland einschließlich Ost-Berlin versprach. Damit waren andere östliche Optionen (etwa der Einmarsch nach West-Berlin) vom Tisch. Die DDR konnte die Grenze in bzw. um Berlin schließen. „Und womöglich traf man sich an diesem Tag in Wandlitz im kleinen Kreis und gratulierte einander: zum heimlichen Gründungstag der DDR“ [7]. Ab den frühen Morgenstunden des 13. August 1961 wurde der Berliner S-Bahn-Verkehr effektiv unterbrochen – für 28 Jahre. Der Bahnhof besaß nun einen „Westteil“ und einen „Ostteil“, abgetrennt zunächst durch eine Trennscheibe, dann durch eine massive Stahlwand. Die Züge aus Ost-Berlin stoppten auf dem Bahnsteig C und fuhren auch dort zurück, analog die aus West-Berlin auf dem Bahnsteig B. Zum Fernbahnsteig A kam man nur nach strengen Kontrollen oder direkt von West-Berlin aus. Die unterirdischen Bahnsteige waren so umfunktioniert worden, dass sämtliche Ost-Bahnhöfe der Nord – Süd – S-Bahn und der U-Bahn zwischen Kreuzberg (West) und Wedding (West) geschlossen wurden – landläufig nannte man sie „Geisterbahnhöfe“ [8]. Mit einer Ausnahme: dem Bahnhof Friedrichstraße. Parallel zur Abriegelung der Sektorengrenze entstand folgende Bahnhofsstruktur: Im „Westteil“ befanden sich nur von West-Berlin bzw. nach Paß- und Zollkontrolle der DDR zugängliche Bahnsteige: Fernbahnsteig A, S-Bahnsteig B Richtung Westen und zurück , der Nord-Süd- Bahnsteig und der U- Bahnsteig. Im „Ostteil“ endeten und starteten die Züge auf dem Bahnsteig C. Dort blieben das Restaurant, eine Buchhandlung und zunächst auch der Friseursalon. Damit hatte sich die DDR ein Problem geschaffen: wie soll ein innerstädtischer Verkehrsknotenpunkt und Umsteigebahnhof in eine Grenzübergangsstelle transformiert werden?

Die Frage beantwortete der Tränenpalast. Mit dieser Materialisierung des Ost – West – Konflikts wurde schon im September 1961 begonnen. Die kurze Vorbereitungszeit lässt vermuten, dass schon früher ein solches Gebäude in Ost – Berlin überlegt worden war. Der Entwurf für den Ausreisepavillon stammte von Horst Lüderitz, Architekt im Entwurfs- und Vermessungsbüro der Deutschen Reichsbahn. Bauvorgaben waren u.a. kürzeste Bauzeit, geringer Kostenaufwand und eine moderne architektonische Gestaltung. Das Gebäude ist 8 Meter hoch, 22 Meter breit und 31 Meter lang. Es öffnet sich auf drei Seiten mit riesigen Fensterfronten zur Stadt [9] . Die ursprünglich geplante Verglasung bis zum Boden konnte durch Einspruch der Grenzorgane nicht realisiert werden. Der Neubau wurde ohne Festakt am 9. Juli 1962 in Betrieb genommen. Dieter Hildebrandt schrieb in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ , hier sei „die Ungeheuerlichkeit elegant geworden...“. Der Tränenpalast „beseitigt die Abschiedsszenen, die sich bislang in aller Öffentlichkeit, in der alten Bahnhofshalle abgespielt hatten. Da hatten sie oft gestanden, zehn oder zwanzig Menschen, und hatten gewinkt, mit dem Taschentuch, mit der Hand, mit den Augen“ (10).

Faktisch dominiert wurde die Organisation des Tränenpalasts spätestens ab 1964 nicht wie – formell vorgesehen – von d en Grenztruppen der DDR, sondern vom Ministerium für Staatssicherheit . Die Passkontrollenheiten der Stasi empfingen die Reisenden Richtung Westen am Eingang zum Tränenpalast, dem inzwischen ein überdachter Warteteil angeschlossen war, zur ersten Passkontrolle. Danach kam gelegentlich in eingebauten Räumen oder an langen Theken die Zollkontrolle, u.U. mit genauer Gepäck- und Leibesvisitation in speziellen Kabinen. Anschließend ging es zur Ausreise Richtung Westen – nach Deponierung nicht ausgegebener Ostmark und einer letzten Passkontrolle . Hier wurden die Reisenden in Kategorien eingeteilt: Diplomaten, Dienstreisende, Bürger der DDR, von Berlin-West und der Bundesrepublik, oder aus „anderen Staaten“. Die Kontrolleure waren freilich nur der sichtbare Teil. Es gab auch Sekretärinnen, Buchhalter, Experten für Technik, Versorgung, für Terrorabwehr und für Fahndung. Die Mitarbeiter waren meist männlich, Durchschnittsalter Mitte dreißig.

Noch andere Institutionen spielten eine Rolle, aber mehr im Bahnhofsgebäude selber, das direkt an den Tränenpalast angeschlossen war. Dazu zählten die Beschäftigten der Bahn, der Grenztruppen, des Zolls, der Transportpolizei und des Deutschen Roten Kreuzes. Hatte man den Tränenpalast passiert oder kam direkt aus West – Berlin gab es keine Kontrollen. Man konnte also mühelos von der S-Bahn in die U-Bahn umsteigen und umgekehrt. Auf dem „Westteil“ fanden sich Intershops zum günstigen Erwerb eines immer größeren Angebots (gegen Westmark). Ebenfalls gegen Devisen konnte man dort begehrte Theaterkarten oder seltene Presseprodukte bekommen. So etwa das „Magazin“ - eine Monatszeitschrift mit mindestens einem Aktfoto. Die DDR-Auflage betrug 400 000 . Es wurde oft unter dem Ladentisch gehandelt. Trotz fehlender Kontrollen war der „Westteil“ keineswegs extra-territorial. Grundsätzlich galt DDR-Recht. Es waren regelmäßig Dreier-Patrouillen der Grenztruppen unterwegs. „Einer kann schreiben, einer kann lesen – und der dritte muss die beiden Intellektuellen im Auge behalten“ - so lautete der spöttische Kommentar. Die Funktion des Bahnhofs als Grenzübergang beschränkte sich auch nicht auf den Tränenpalast. Es gab Diensteingänge für Intershop-Beschäftigte und zur Agenten - Schleusung (auch für einige RAF-Terroristen und nicht nur nahöstliche Geheimdienste genutzt) und einen speziellen Übergang für Flugreisende zum DDR-Flughafen Berlin – Schönefeld. Manche Fluggäste betrieben einen mehr oder minder blühenden Drogenhandel, war der Zugang nach West-Berlin doch vom Westen unkontrolliert.

Zahl und Struktur der Reisenden erfuhren während der Existenz des Tränenpalastes erhebliche Veränderungen, nicht zuletzt durch die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen. Tagesaufenthalte in Ost-Berlin waren für Bundesbürger schon immer erlaubt. Nach Abschluss des Grundlagenvertrags zwischen Ost- und Westdeutschland und dem Viermächte-Abkommen über Berlin Anfang der siebziger Jahre konnten West-Berliner in die gesamte DDR fahren. Viele dieser Reisen fanden via Tränenpalast statt, der seinen „Namen“ (auch „Tränenbunker“ oder „Tränenpavillon“) erst mit steigendem Reiseverkehr erhielt[11] . In den achtziger Jahren stieg nicht nur der Reiseverkehr insgesamt, sondern auch die Zahl der ständigen Ausreisen aus der DDR, d.h. der genehmigten Übersiedlungen von Ost nach West, auf die oft jahrelang gewartet werden musste. Viele dieser Ausreisen gingen über den Tränenpalast vonstatten; hin und wieder machten auch Ausreisewillige mit Transparenten auf sich aufmerksam und riskierten damit ihre Verhaftung.

1972 waren noch 4, 3 Millionen Reisende über den Tränenpalast aus- und eingereist. Nach einem Knick wegen der Erhöhung des Mindestumtauschs waren es 1987 schon 9,4 Millionen und 1988 10,3 Millionen „Reisevorgänge“ (d.h. viele reisten auch mehrfach ein oder aus). Nach Zahlen der Stasihandelte es sich um „ knapp 59 Prozent … DDR-Bürger , die von einer Dienstreise oder von einem privaten Besuch im Westen zurückkehrten. Unter den Übrigen bildeten wenig überraschend die West-Berliner mit 15,2 Prozent die größte Gruppe. Im Anschluss folgten Westdeutsche mit 12,3 Prozent, Ausländer mit 4,1 Prozent und Transitreisende, die über die DDR in andere Staaten weiterreisten, mit 6,1 Prozent“[12]. Nur Ausländer mit DDR-Freundinnen nutzten den „Rundlauf“, d.h. Ausreise gegen Mitternacht, sofortige Wiedereinreise kurz danach. Die Ostfrauen warteten manchmal direkt vorm Tränenpalast.

Mit zunehmendem Reiseverkehr kam es gleichzeitig zu noch mehr „feuchten“ Tränen des Schmerzes und der Wut als am Anfang. Ein Passkontrolleur (später beim Bundesgrenzschutz) berichtet: „Verzweiflungsszenen haben wir in der Vorkontrolle Ausreise viele erlebt, wenn dann … Verwandtschaft, wenn Oma aus dem Westen wieder rüber mußte“ [13]. Etwas anders sieht dies der Ost-Berliner Fotograf, der die Einreisen halb-legal fotografierte : „Es gab häufig diese ergreifenden Szenen, dass irgendjemand über diese ja wirklich furchtbare Trennung, die einem da noch einmal deutlicher vor Augen geführt wurde, als sie so im täglichen Leben vorkam, natürlich so erschüttert wurde, dass er weinen musste. Das war nicht selten. Aber ich hab auch das Gegenteil erlebt, dass Leute froh waren, dass sie wieder zurück sind“ [14]. Zu diesen Tränen kamen Tränen der Scham etwa bei Leibesvisitationen hinzu. Ebenso muten Tränen aus Schmerz bei plötzlichen Herzinfarkten als Folge von Kontrollangst (es gab auch Todesfälle) an. Zu Tränen bei den seltenen Geiselnahmen gibt es keine Informationen. Man kann vermuten, dass es bei Grenzbeamten von PKE und NVA keinen sonderlichen Tränenflüsse gab. Viele Menschen in Ost und West gingen davon aus, dass zu ihren Lebzeiten die Mauer nicht mehr verschwinden würde, aber durchlässiger werden könnte. Das galt vor allem für jene, die regelmäßig den Tränenpalast passierten. Der Grenzübertritt wurde zur Routine, ihre Tränen wurden trockener, weil man sich an die Teilung gewöhnte.

In Literatur und Kunst wurden der Bahnhof Friedrichstraße allgemein reflektiert, etwa in Christa. Wolfs Roman „Der geteilte Himmel“, der vor dem Mauerbau spielt. Der Theaterkritiker Friedrich Luft verglich die „Höllenpassagen“ an der Friedrichstraße mit dem Werk von Franz Kafka [15]. Jobst Jessen nannte ihn den „Bahnhof der Tränen“(16) , der Schriftsteller FC Delius schrieb : „Da könntest du das Beschreiben üben...die Schalter, die Schilder, die Parolen, die Gesichter unter den Uniformmützen, die Grenztechnologie“(17). Hans-Joachim Schädlich verfremdete in „Eastwestberlin“ das Gebäude so: „ A building, long and high, but not too high among the surrounding buildings , its corridors inhabited by people from the neighboring country , whose presence is tolerated in the city even though no one from the city is supposed to go into the building“ (18). Auch bildende Künstler wie Manfred Butzmann oder Trak Wendisch machten ihn zum Gegenstand ihrer Werke. Im letzten DEFA-Film „Die Architekten“ (Regie: Peter Kahane) geht es im Finale um eine Ausreise aus der DDR über den Bahnhof Friedrichstraße.

Eine raison d' étre der DDR war neben der sowjetischen Existenzgarantie die Mauer. Die DDR hatte nach dem Mauerende nur noch ein höchst interessantes knappes Jahr von 1989 bis zum Beitritt zur BRD 1990 [19]. Das Schicksal des Tränenpalastes war etwas anders. Er war entstanden aus der Tatsache, dass ein innerstädtischer „Central-Bahnhof“ wie der Bhf. Friedrichstraße mit seiner teilweise neuen Funktion als eine der wichtigsten Grenzkontrollstellen des erst weitgehend abgeschotteten, dann etwas offeneren ostdeutschen Staatswesens ziemlich überfordert war. Also konnte das Denkmal des Ost – West – Konflikts nach Wiederherstellung des innerstädtischen und innerdeutschen Bahnverkehrs verschwinden?

So war es nicht. Tränen flossen nun nur noch in bahnhofsüblichen Mengen. Die Geschichte des Tränenpalasts von den dominant feuchten Tränen des Kalten Kriegs als Schockreaktion bis zu den trockenen Tränen der Entspannungs - Routine blieb unreflektiert. Auch das Schicksal des Tränenpalastes war durchaus unklar. Der Fernbahnsteig wurde nach Fertigstellung des Berliner Hauptbahnhofs (dem früheren Lehrter Stadtbahnhof) weitgehend funktionslos, die Stahlplatte zwischen den S-Bahnsteigen B und C war verschwunden. Die Abfertigungstrakte im Tränenpalast und im Bahngebäude selbst beendeten ihre Existenz im Juli 1990. Die Scheiben der Halle waren im Herbst / Winter 1990 eingeschlagen, sie selbst leer bis auf Schrott, der direkte Zugang zum Bahnhof beseitigt . Da begann die (vorher informelle, jetzt explizite) Hybridisierung. Jetzt hiess der Tränenpalast auch „offiziell“ so –- als Veranstaltungsort für Jazz, Kleinkunst und Special Events. Hier traten u.a. Georg Kreisler, das Mingus Orchestra, Maceo Parker, Prince und Bruce Willis auf. Das dauerte bis 2006. Es blieb eine Konzertagentur unter dem Namen „tRÄNENpALast“.

Der Pavillon selbst wurde weitgehend im Originalstil der 60er Jahre rekonstruiert und am 14. September 2011 durch Bundeskanzlerin Merkel wiedereröffnet – als Museum. Der überdachte Vorbau war weg, desgleichen die Kontrollräume im Inneren und die Bankfiliale. Die Gestaltung des Museums oblag / obliegt dem Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik, das hier eine Dauerausstellung zur Geschichte der deutschen Teilung organisierte. Titel: „Grenzerfahrungen. Alltag der deutschen Teilung“. Mit biografischen Beispielen und fast 600 Objekten, darunter einer Original-Kontrollkabine lässt sich die Abfertigung durch die Stasi erahnen. Stempel, Pässe, Antragsformulare u.ä. sollen die Geschichte veranschaulichen [20] . Alles in allem zeigt der historische Rückblick, dass einer Phase der versuchten Homogenisierung eine implizite Hybridisierung folgte, die von einer expliziziten Hybridkultur abgelöst und durch Musealisierung politisch beendet wurde. Es bleibt abzuwarten, wie das auch vom Immobiliengeschäft bestimmte Umfeld in einer europäischen Migrationsmetropole gestaltet wird.

Anmerkungen

[1] Vgl.Elka Tschernokoschewa / Udo Mischek (Hg.) , Beziehungsgeflecht Minderheit. Zum Paradigmenwechsel in der Kulturforschung / Ethnologie Europas. Berlin / Münster / New York / München 2009.

[2] Vgl. Fabian Jacobs / Elka Tschernokoschewa (Hg.) : Über Dualismen hinaus. Regionen, Menschen und Institutionen in hybridiologischer Perspektive. Berlin / Münster / New York / München 2013.

[3] Vgl. Volker Gransow / Konrad H. Jarausch (Hg.) : Die deutsche Vereinigung. Dokumente zu Bürgerbewegung, Annäherung und Vereinigng. Köln 1991; dies . (Hg.): Uniting Germany. Documents and Debates. New York 2014; Thomas Flierl / Hermann Parzinger (Hg.): Die kulturelle Mitte der Hauptstadt. Berlin 2009.

[4]Vgl. Werner Hofmann: Stalinismus und Antikommunismus. Zur Soziologie des Ost-West-Konflikts. Frankfurt a.M. 1967; sowie Volker Gransow: Konzeptionelle Wandlungen der Kommunismusforschung. Frankfurt a.M. / New York 1980; ders.: Hybridkultur in Theorie und Feldforschung (Rezension). In kulturation, 2006.

[5] Vgl. Robert Provine: Ein seltsames Wesen. Warum wir gähnen, rülpsen, niesen und andere komische Dinge tun. Hamburg 2014, S. 83-116.

[6] Grundlegend zum Bhf. Friedrichstrasse ist das quellengesättigte Werk von Philipp Springer: Bahnhof der Tränen. Die Grenzübergangsstelle Berlin – Friedrichstraße. Berlin 2013.

[7] Dietrich Staritz: Geschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a.M. 1985, S. 19 6. Vgl. rolf Steininger: Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958 – 1963. München 2001; Michael Lemke: Die Berlinkrise 1958 bis 1963. Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt , Berlin 1995; zu kulturellen Aspekten vgl. Volker Gransow, Kulturpolitik in der DDR, Berlin 1975 sowie die Dokumentation der Intellektuellen-Debatte aus Ost und West (z.B. Bloch , Enzensberger, Grass, Hermlin, Uhse) bei Hans-Werner Richter (Hg.): Die Mauer oder der 13. August , Reinbek 1961.

[8] Vgl. Heinz Knobloch: Stadtmitte Umsteigen. Berliner Phantasien. 2. Aufl. Berlin 1983. ders.: Angehaltener Bahnhof. Fantasiestücke. 2.Aufl. Berlin 1985.; ders./ Michael Richter / Götz Thomas Wenzel: Geisterbahnhöfe. Westlinien unter Ostberlin. Berlin 2012.

[9] Hierzu umd zum folgenden vgl. die ausführlichen Informationen bei Springer, a.a.O.

[10] Dieter Hildebrandt: Die strahlende Kontrollstation. In Frank
furter Allgemeine Zeitung , 14.7.1962. Vgl. Dieter Hildebrandt: Die Mauer ist keine Grenze. Menschen in Ostberlin, Düsseldorf / Köln 1964.

[11] Vgl. Martin Ahrends: Trabbi, Telespargel und Tränenpavillon. Das Wörterbuch der DDR-Sprache, München 1984; vgl. Springer, a.a.O., S.47.

[12] In absoluten Zahlen waren es dort bis zu 30 000 Reisende, die täglich den Tränenpalast passierten. Vgl. Ilko – Sascha Kowalczuk: Der geteilte Bahnhof. Berlin 2011 (Faltblatt der Stiftung Berliner Mauer).

[13] Zitiert bei Springer, a.a.O., S.63 (vermutlich Interview-Transkript).

[14] Zitiert bei Springer, a.. 2.Aufl., a.a.O., S.103 (vermutlich Interview-Transkript).

[15] Friedrich Luft: Hier geht Kafka. In Die Welt vom 3.4.1980. Trauer und Verzweiflung eines Ost – West – Liebespaars werden geschildert bei Norbert Sievers: Tränenpalast. Eine Liebe im geteilten Deutschland, Gründau 2013.

[16] Jobst Jessen: Friedrichstraße – Bahnhof der Tränen. In Die Welt vom 29.8.1966.

[17] Friedrich Christian Delius: Mein Jahr als Mörder. Berlin 2004, S.67.

[18] Hans-Joachim Schaedlich: Eastwestberlin. Toronto 1992, S.9.

[19] Zum Mauerfall selbst und dessen innerdeutschen, medialen (eine Pressekonferenz und eine Falschmeldung im westdeutschen TV als Auslöser) und internationalen Aspekten vgl. Gransow / Jarausch, a.a.O. sowie Hans-Hermann Hertle : Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Berlin 1996. Vgl. auch Siegfried Prokop: Die kurze Zeit der Utopie – die „zweite“ DDR in den Jahren 1989/1990. Berlin 1994.

[20] Vgl. < www.hdg.de> (Letzter Zugriff: 18.01.2015). Dort auch die App zur Ausstellung.