Report | Kulturation 2015 | Volker Gransow | Vom Ost-West-Konflikt zur Hybridisierung?
Zur Kultursoziologie einer Berliner Abfertigungshalle Der
frühere Ost-West-Konflikt wird zunehmend durch Hybridisierung ersetzt.
Dies wird an einer Fallstudie zum Berliner "Tränenpalast" demonstriert.
| Nicht nur
bei Hybridautos, auch anderswo in Industrie und Landwirtschaft wird der
Begriff der Hybridität selbstverständlich benutzt. Ganz so ist es in
Kultur und Kultursoziologie noch nicht, obwohl er eine vernünftige
Alternative etwa zum „Multikulturalismus“ darstellt. Insbesondere Elka
Tschernokoschewa hat durch eigene Beiträge wie auch durch die von ihr
herausgegebene Schriftenreihe „Hybride Welten“ die Diskussion dazu
wesentlich befördert [1]. Durch ihre Tätigkeit am Sorbischen Institut
in Bautzen sowie Lehre und Forschung in Sofia und Leipzig, in Basel und
Tübingen hat sie in Theorie und Praxis an der Überwindung des Ost-West
– Konflikts mitgewirkt und neue Perspektiven eröffnet [2]. Diesen soll
hier in einer Fallstudie zur DDR-Abfertigungshalle am Berliner Bahnhof
Friedrichstrasse – dem „Tränenpalast“ - nachgegangen werden. Der
Tränenpalast wurde kurz nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 an der
Nordseite des Bahnhofs Friedrichstraße errichtet und zwar als
Bestandteil der dortigen Grenzübergangsstelle mit direkter Verbindung
zur Bahn. Offiziell hieß er „Ausreisepavillon“, zum Tränenpalast wurde
er vor allem ab den frühen achtziger Jahren vom Volksmund und den
Medien ernannt. Im folgenden soll nach einer detallierteren
kultursoziologischen Beschreibung und Analyse dieses offensichtlich mit
Tränen verbundenen Gebäudes und seiner Nutzung gefragt werden. Es geht
um folgende Fragen: wie war erstens der politisch - sozialhistorische
Kontext bis zur Schaffung des Tränenpalasts 1961-62? Wie veränderten
sich zweitens Struktur, Funktion und Rezeption des Pavillons in der
28jährigen Geschichte der Teilung Berlins durch den Ost-West-Konflikt?
Was wurde drittens daraus nach dem Mauerfall 1989, der Vereinigung
Deutschlands und der Wiederherstellung von Gesamtberlin [3]? Kann man
eine zunehmende Hybridisierung vermuten? Dabei geht es nicht um
biologisch – physiologische Tränen (für deren Analyse ist der
psychische oder physische ophtalmologische Anlass gleichgültig) ,
sondern um Emotionen im politisch-soziologischen und kulturellen
Kontext [4], also gleichsam die Unterscheidung von „lautem“ und
„stillem“ Weinen oder „feuchten“ und „trockenen“ Tränen [5].
Der Bahnhof Friedrichstraße und mit ihm die gesamte Berliner Stadtbahn
wurde am 6. Februar 1882 von Kaiser Wilhelm I. eingeweiht. Damit wurde
dessen Bedeutung als Berliner „Central-Bahnhof“ unterstrichen –
Reaktion auf das rapide Wachstum Berlins nicht nur als Hauptstadt von
Preußen und Deutschland, sondern auch als sich beständig ändernde
Industriemetropole. Gab es ursprünglich noch Dampflokomotiven, so
folgten neben Umbauten des Bahnhofs die Elektrifizierung der Stadtbahn
in den zwanziger Jahren, der Bau der unterirdischen Anlagen für die
Nord - Süd – S – Bahn und Bau bzw. Ausbau der U-Bahnverbindung zwischen
Kreuzberg im Süden und Wedding im Norden. Damit wurde der Bahnhof zu
einem markanten Verkehrsknotenpunkt – mit dem entsprechenden Umfeld:
Hotels, Theater, Tingeltangel, Varietés, Ministerien,
Lobby-Vertretungen, Prostitution sowie Klein- und Großkriminalität. Er
bekam zwei Dächer jeweils für Fernbahn ( z.B. Paris-Moskau) und die Ost
– West – Stadtbahn (z.B. Erkner - Wannsee). Wohl niemand ahnte, dass
dies bei der späteren Teilung Berlins von Wichtigkeit werden könnte
[6].
Tränen gibt es wohl auf jedem Bahnhof, traurige Tränen des
Abschieds, glückliche Tränen beim Wiedersehen. Aber hier wurde nicht
nur in zwei Weltkriegen geweint, sondern auch beim Exodus von Tausenden
jüdischer Kinder, die 1938/39 dem NS-Terror vom Bahnhof Friedrichstraße
aus durch die Übersiedlung nach Großbritannien entkommen konnten –
allerdings unter Zurücklassung ihrer wenig später deportierten und oft
ermordeten Familien. Heute erinnert ein Denkmal in der Georgenstraße an
sie. Viel Leid verursachte auch die Sprengung und Flutung der Nord –
Süd – S – Bahn durch die SS im Frühjahr 1945 – Rücksicht auf
Schutzsuchende wurde nicht genommen.
Nach Kriegsende 1945 waren Deutschland und Berlin befreit und
besetzt. Beide fanden sich bald unter einer Viermächte – Verwaltung
durch die Westmächte USA, England und Frankreich einerseits, die
Sowjetunion andererseits wieder. Das betraf auch Bahnverkehr und
Bahnhöfe. Die Bahn in der sowjetischen Besatzungszone und in ganz
Berlin wurde von der (Ost-) Deutschen Reichsbahn übernommen,
desgleichen die Berliner S-Bahn. Für den Bahnhof Friedrichstraße war
die Lage nach den notwendigen Reparaturen insofern unverändert, als er
immer noch Verkehrskreuz mitten im Theaterdistrikt war. Zusätzlich
wurde er aber immer mehr zum Grenzbahnhof, denn die Sektorengrenze zu
West-Berlin war nur ca. 1, 6 km entfernt. Deutschland und Berlin wurden
in zwei Wirtschafts- und Währungsgebiete geteilt, Ost-Berlin zur
Hauptstadt der 1949 gegründeten DDR, West-Berlin zur de-facto-Enklave
der Bundesrepublik mit westalliierter Oberhoheit.
Das bedeutete für den Bahnhof nach Unterbrechung des Berliner
Straßenbahn- und Telefonnetzes schon in den fünfziger Jahren angesichts
des ungeteilten S-Bahn-Netzes verstärkte Kontrollen. Gesucht wurden
potenzielle Flüchtlinge (Republikflucht galt inzwischen als Verbrechen)
sowie illegaler Transfer von Materialien und Produkten. Gleichzeitig
waren Zehntausende Berlinerinnen und Berliner im jeweils anderen Teil
der Stadt beruflich beschäftigt, viele hatten Verwandte auf der anderen
Seite. Nicht wenige von ihnen benutzten die S- und U-Bahn, darunter vor
allem den Bahnhof Friedrichstraße. Dessen Struktur war in den fünfziger
Jahren so: unterirdisch verkehrten die U-Bahn und die Nord-Süd-S-Bahn,
oberirdisch gab es drei Bahnsteige in zwei Hallen. Auf dem
Fernbahnsteig A fuhren Ost-West - Fernzüge (darunter etwa der Paris -
Moskau - Express ), auf den Bahnsteigen B und C hielten die Züge der
S-Bahn in Ost-West- Richtung. Damals wie heute konnte man direkt vom
Bahnsteig C über die „Theaterbrücke“ zum Deutschen Theater, dem
Berliner Ensemble und dem Friedrichstadt-Palast gelangen. Das galt für
westliche Bildungsbürger ebenso wie für ostdeutsche Arbeiterbrigaden
auf dem „Bitterfelder Weg“. Aus dieser Komplexität des Bahnhofs sollte
nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 eine Zweiteilung werden. Die
Ursachen der Grenzschließung in und um Berlin waren vielfältig.
Nicht vergessen werden sollte das westdeutsche
Staatsbürgerschaftsrecht, das allen DDR - Bürgerinnen und -Bürgern
einen Rechtsanspruch auf sofortigen Wohnsitz und Arbeitsmöglichkeit
(also nicht Asyl!) in der BRD gab. Insofern war die Rede vom
antifaschistischen Schutzwall eher irreführend. Eine Massenflucht
veranlasste mehrere Berlin-Krisen und -Ultimaten. USA-Präsident Kennedy
gab im Sommer 1961 gleichsam „grünes Licht“, indem er die Respektierung
des sowjetischen Machtbereichs in Deutschland einschließlich Ost-Berlin
versprach. Damit waren andere östliche Optionen (etwa der Einmarsch
nach West-Berlin) vom Tisch. Die DDR konnte die Grenze in bzw. um
Berlin schließen. „Und womöglich traf man sich an diesem Tag in
Wandlitz im kleinen Kreis und gratulierte einander: zum heimlichen
Gründungstag der DDR“ [7]. Ab den frühen Morgenstunden des 13. August
1961 wurde der Berliner S-Bahn-Verkehr effektiv unterbrochen – für 28
Jahre. Der Bahnhof besaß nun einen „Westteil“ und einen „Ostteil“,
abgetrennt zunächst durch eine Trennscheibe, dann durch eine massive
Stahlwand. Die Züge aus Ost-Berlin stoppten auf dem Bahnsteig C und
fuhren auch dort zurück, analog die aus West-Berlin auf dem Bahnsteig
B. Zum Fernbahnsteig A kam man nur nach strengen Kontrollen oder direkt
von West-Berlin aus. Die unterirdischen Bahnsteige waren so
umfunktioniert worden, dass sämtliche Ost-Bahnhöfe der Nord – Süd –
S-Bahn und der U-Bahn zwischen Kreuzberg (West) und Wedding (West)
geschlossen wurden – landläufig nannte man sie „Geisterbahnhöfe“ [8].
Mit einer Ausnahme: dem Bahnhof Friedrichstraße. Parallel zur
Abriegelung der Sektorengrenze entstand folgende Bahnhofsstruktur: Im
„Westteil“ befanden sich nur von West-Berlin bzw. nach Paß- und
Zollkontrolle der DDR zugängliche Bahnsteige: Fernbahnsteig A,
S-Bahnsteig B Richtung Westen und zurück , der Nord-Süd- Bahnsteig und
der U- Bahnsteig. Im „Ostteil“ endeten und starteten die Züge auf dem
Bahnsteig C. Dort blieben das Restaurant, eine Buchhandlung und
zunächst auch der Friseursalon. Damit hatte sich die DDR ein Problem
geschaffen: wie soll ein innerstädtischer Verkehrsknotenpunkt und
Umsteigebahnhof in eine Grenzübergangsstelle transformiert werden?
Die Frage beantwortete der Tränenpalast. Mit dieser
Materialisierung des Ost – West – Konflikts wurde schon im September
1961 begonnen. Die kurze Vorbereitungszeit lässt vermuten, dass schon
früher ein solches Gebäude in Ost – Berlin überlegt worden war. Der
Entwurf für den Ausreisepavillon stammte von Horst Lüderitz, Architekt
im Entwurfs- und Vermessungsbüro der Deutschen Reichsbahn. Bauvorgaben
waren u.a. kürzeste Bauzeit, geringer Kostenaufwand und eine moderne
architektonische Gestaltung. Das Gebäude ist 8 Meter hoch, 22 Meter
breit und 31 Meter lang. Es öffnet sich auf drei Seiten mit riesigen
Fensterfronten zur Stadt [9] . Die ursprünglich geplante Verglasung bis
zum Boden konnte durch Einspruch der Grenzorgane nicht realisiert
werden. Der Neubau wurde ohne Festakt am 9. Juli 1962 in Betrieb
genommen. Dieter Hildebrandt schrieb in der „Frankfurter Allgemeinen
Zeitung“ , hier sei „die Ungeheuerlichkeit elegant geworden...“. Der
Tränenpalast „beseitigt die Abschiedsszenen, die sich bislang in aller
Öffentlichkeit, in der alten Bahnhofshalle abgespielt hatten. Da hatten
sie oft gestanden, zehn oder zwanzig Menschen, und hatten gewinkt, mit
dem Taschentuch, mit der Hand, mit den Augen“ (10).
Faktisch dominiert wurde die Organisation des Tränenpalasts
spätestens ab 1964 nicht wie – formell vorgesehen – von d en
Grenztruppen der DDR, sondern vom Ministerium für Staatssicherheit .
Die Passkontrollenheiten der Stasi empfingen die Reisenden Richtung
Westen am Eingang zum Tränenpalast, dem inzwischen ein überdachter
Warteteil angeschlossen war, zur ersten Passkontrolle. Danach kam
gelegentlich in eingebauten Räumen oder an langen Theken die
Zollkontrolle, u.U. mit genauer Gepäck- und Leibesvisitation in
speziellen Kabinen. Anschließend ging es zur Ausreise Richtung Westen –
nach Deponierung nicht ausgegebener Ostmark und einer letzten
Passkontrolle . Hier wurden die Reisenden in Kategorien eingeteilt:
Diplomaten, Dienstreisende, Bürger der DDR, von Berlin-West und der
Bundesrepublik, oder aus „anderen Staaten“. Die Kontrolleure waren
freilich nur der sichtbare Teil. Es gab auch Sekretärinnen, Buchhalter,
Experten für Technik, Versorgung, für Terrorabwehr und für Fahndung.
Die Mitarbeiter waren meist männlich, Durchschnittsalter Mitte dreißig.
Noch andere Institutionen spielten eine Rolle, aber mehr im
Bahnhofsgebäude selber, das direkt an den Tränenpalast angeschlossen
war. Dazu zählten die Beschäftigten der Bahn, der Grenztruppen, des
Zolls, der Transportpolizei und des Deutschen Roten Kreuzes. Hatte man
den Tränenpalast passiert oder kam direkt aus West – Berlin gab es
keine Kontrollen. Man konnte also mühelos von der S-Bahn in die U-Bahn
umsteigen und umgekehrt. Auf dem „Westteil“ fanden sich Intershops zum
günstigen Erwerb eines immer größeren Angebots (gegen Westmark).
Ebenfalls gegen Devisen konnte man dort begehrte Theaterkarten oder
seltene Presseprodukte bekommen. So etwa das „Magazin“ - eine
Monatszeitschrift mit mindestens einem Aktfoto. Die DDR-Auflage betrug
400 000 . Es wurde oft unter dem Ladentisch gehandelt. Trotz fehlender
Kontrollen war der „Westteil“ keineswegs extra-territorial.
Grundsätzlich galt DDR-Recht. Es waren regelmäßig Dreier-Patrouillen
der Grenztruppen unterwegs. „Einer kann schreiben, einer kann lesen –
und der dritte muss die beiden Intellektuellen im Auge behalten“ - so
lautete der spöttische Kommentar. Die Funktion des Bahnhofs als
Grenzübergang beschränkte sich auch nicht auf den Tränenpalast. Es gab
Diensteingänge für Intershop-Beschäftigte und zur Agenten - Schleusung
(auch für einige RAF-Terroristen und nicht nur nahöstliche
Geheimdienste genutzt) und einen speziellen Übergang für Flugreisende
zum DDR-Flughafen Berlin – Schönefeld. Manche Fluggäste betrieben einen
mehr oder minder blühenden Drogenhandel, war der Zugang nach
West-Berlin doch vom Westen unkontrolliert.
Zahl und Struktur der Reisenden erfuhren während der Existenz des
Tränenpalastes erhebliche Veränderungen, nicht zuletzt durch die
Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen. Tagesaufenthalte in
Ost-Berlin waren für Bundesbürger schon immer erlaubt. Nach Abschluss
des Grundlagenvertrags zwischen Ost- und Westdeutschland und dem
Viermächte-Abkommen über Berlin Anfang der siebziger Jahre konnten
West-Berliner in die gesamte DDR fahren. Viele dieser Reisen fanden via
Tränenpalast statt, der seinen „Namen“ (auch „Tränenbunker“ oder
„Tränenpavillon“) erst mit steigendem Reiseverkehr erhielt[11] . In den
achtziger Jahren stieg nicht nur der Reiseverkehr insgesamt, sondern
auch die Zahl der ständigen Ausreisen aus der DDR, d.h. der genehmigten
Übersiedlungen von Ost nach West, auf die oft jahrelang gewartet werden
musste. Viele dieser Ausreisen gingen über den Tränenpalast vonstatten;
hin und wieder machten auch Ausreisewillige mit Transparenten auf sich
aufmerksam und riskierten damit ihre Verhaftung.
1972 waren noch 4, 3 Millionen Reisende über den Tränenpalast
aus- und eingereist. Nach einem Knick wegen der Erhöhung des
Mindestumtauschs waren es 1987 schon 9,4 Millionen und 1988 10,3
Millionen „Reisevorgänge“ (d.h. viele reisten auch mehrfach ein oder
aus). Nach Zahlen der Stasihandelte es sich um „ knapp 59 Prozent …
DDR-Bürger , die von einer Dienstreise oder von einem privaten Besuch
im Westen zurückkehrten. Unter den Übrigen bildeten wenig überraschend
die West-Berliner mit 15,2 Prozent die größte Gruppe. Im Anschluss
folgten Westdeutsche mit 12,3 Prozent, Ausländer mit 4,1 Prozent und
Transitreisende, die über die DDR in andere Staaten weiterreisten, mit
6,1 Prozent“[12]. Nur Ausländer mit DDR-Freundinnen nutzten den
„Rundlauf“, d.h. Ausreise gegen Mitternacht, sofortige Wiedereinreise
kurz danach. Die Ostfrauen warteten manchmal direkt vorm Tränenpalast.
Mit zunehmendem Reiseverkehr kam es gleichzeitig zu noch mehr
„feuchten“ Tränen des Schmerzes und der Wut als am Anfang. Ein
Passkontrolleur (später beim Bundesgrenzschutz) berichtet:
„Verzweiflungsszenen haben wir in der Vorkontrolle Ausreise viele
erlebt, wenn dann … Verwandtschaft, wenn Oma aus dem Westen wieder
rüber mußte“ [13]. Etwas anders sieht dies der Ost-Berliner Fotograf,
der die Einreisen halb-legal fotografierte : „Es gab häufig diese
ergreifenden Szenen, dass irgendjemand über diese ja wirklich
furchtbare Trennung, die einem da noch einmal deutlicher vor Augen
geführt wurde, als sie so im täglichen Leben vorkam, natürlich so
erschüttert wurde, dass er weinen musste. Das war nicht selten. Aber
ich hab auch das Gegenteil erlebt, dass Leute froh waren, dass sie
wieder zurück sind“ [14]. Zu diesen Tränen kamen Tränen der Scham etwa
bei Leibesvisitationen hinzu. Ebenso muten Tränen aus Schmerz bei
plötzlichen Herzinfarkten als Folge von Kontrollangst (es gab auch
Todesfälle) an. Zu Tränen bei den seltenen Geiselnahmen gibt es keine
Informationen. Man kann vermuten, dass es bei Grenzbeamten von PKE und
NVA keinen sonderlichen Tränenflüsse gab. Viele Menschen in Ost und
West gingen davon aus, dass zu ihren Lebzeiten die Mauer nicht mehr
verschwinden würde, aber durchlässiger werden könnte. Das galt vor
allem für jene, die regelmäßig den Tränenpalast passierten. Der
Grenzübertritt wurde zur Routine, ihre Tränen wurden trockener, weil
man sich an die Teilung gewöhnte.
In Literatur und Kunst wurden der Bahnhof Friedrichstraße
allgemein reflektiert, etwa in Christa. Wolfs Roman „Der geteilte
Himmel“, der vor dem Mauerbau spielt. Der Theaterkritiker Friedrich
Luft verglich die „Höllenpassagen“ an der Friedrichstraße mit dem Werk
von Franz Kafka [15]. Jobst Jessen nannte ihn den „Bahnhof der
Tränen“(16) , der Schriftsteller FC Delius schrieb : „Da könntest du
das Beschreiben üben...die Schalter, die Schilder, die Parolen, die
Gesichter unter den Uniformmützen, die Grenztechnologie“(17).
Hans-Joachim Schädlich verfremdete in „Eastwestberlin“ das Gebäude so:
„ A building, long and high, but not too high among the surrounding
buildings , its corridors inhabited by people from the neighboring
country , whose presence is tolerated in the city even though no one
from the city is supposed to go into the building“ (18). Auch bildende
Künstler wie Manfred Butzmann oder Trak Wendisch machten ihn zum
Gegenstand ihrer Werke. Im letzten DEFA-Film „Die Architekten“ (Regie:
Peter Kahane) geht es im Finale um eine Ausreise aus der DDR über den
Bahnhof Friedrichstraße.
Eine raison d' étre der DDR war neben der sowjetischen
Existenzgarantie die Mauer. Die DDR hatte nach dem Mauerende nur noch
ein höchst interessantes knappes Jahr von 1989 bis zum Beitritt zur BRD
1990 [19]. Das Schicksal des Tränenpalastes war etwas anders. Er war
entstanden aus der Tatsache, dass ein innerstädtischer
„Central-Bahnhof“ wie der Bhf. Friedrichstraße mit seiner teilweise
neuen Funktion als eine der wichtigsten Grenzkontrollstellen des erst
weitgehend abgeschotteten, dann etwas offeneren ostdeutschen
Staatswesens ziemlich überfordert war. Also konnte das Denkmal des Ost
– West – Konflikts nach Wiederherstellung des innerstädtischen und
innerdeutschen Bahnverkehrs verschwinden?
So war es nicht. Tränen flossen nun nur noch in
bahnhofsüblichen Mengen. Die Geschichte des Tränenpalasts von den
dominant feuchten Tränen des Kalten Kriegs als Schockreaktion bis zu
den trockenen Tränen der Entspannungs - Routine blieb unreflektiert.
Auch das Schicksal des Tränenpalastes war durchaus unklar. Der
Fernbahnsteig wurde nach Fertigstellung des Berliner Hauptbahnhofs (dem
früheren Lehrter Stadtbahnhof) weitgehend funktionslos, die Stahlplatte
zwischen den S-Bahnsteigen B und C war verschwunden. Die
Abfertigungstrakte im Tränenpalast und im Bahngebäude selbst beendeten
ihre Existenz im Juli 1990. Die Scheiben der Halle waren im Herbst /
Winter 1990 eingeschlagen, sie selbst leer bis auf Schrott, der direkte
Zugang zum Bahnhof beseitigt . Da begann die (vorher informelle, jetzt
explizite) Hybridisierung. Jetzt hiess der Tränenpalast auch
„offiziell“ so –- als Veranstaltungsort für Jazz, Kleinkunst und
Special Events. Hier traten u.a. Georg Kreisler, das Mingus Orchestra,
Maceo Parker, Prince und Bruce Willis auf. Das dauerte bis 2006. Es
blieb eine Konzertagentur unter dem Namen „tRÄNENpALast“.
Der Pavillon selbst wurde weitgehend im Originalstil der 60er
Jahre rekonstruiert und am 14. September 2011 durch Bundeskanzlerin
Merkel wiedereröffnet – als Museum. Der überdachte Vorbau war weg,
desgleichen die Kontrollräume im Inneren und die Bankfiliale. Die
Gestaltung des Museums oblag / obliegt dem Bonner Haus der Geschichte
der Bundesrepublik, das hier eine Dauerausstellung zur Geschichte der
deutschen Teilung organisierte. Titel: „Grenzerfahrungen. Alltag der
deutschen Teilung“. Mit biografischen Beispielen und fast 600 Objekten,
darunter einer Original-Kontrollkabine lässt sich die Abfertigung durch
die Stasi erahnen. Stempel, Pässe, Antragsformulare u.ä. sollen die
Geschichte veranschaulichen [20] . Alles in allem zeigt der historische
Rückblick, dass einer Phase der versuchten Homogenisierung eine
implizite Hybridisierung folgte, die von einer expliziziten
Hybridkultur abgelöst und durch Musealisierung politisch beendet wurde.
Es bleibt abzuwarten, wie das auch vom Immobiliengeschäft bestimmte
Umfeld in einer europäischen Migrationsmetropole gestaltet wird.
Anmerkungen
[1] Vgl.Elka Tschernokoschewa / Udo Mischek (Hg.) ,
Beziehungsgeflecht Minderheit. Zum Paradigmenwechsel in der
Kulturforschung / Ethnologie Europas. Berlin / Münster / New York /
München 2009.
[2] Vgl. Fabian Jacobs / Elka Tschernokoschewa (Hg.) : Über
Dualismen hinaus. Regionen, Menschen und Institutionen in
hybridiologischer Perspektive. Berlin / Münster / New York / München
2013.
[3] Vgl. Volker Gransow / Konrad H. Jarausch (Hg.) : Die
deutsche Vereinigung. Dokumente zu Bürgerbewegung, Annäherung und
Vereinigng. Köln 1991; dies . (Hg.): Uniting Germany. Documents and
Debates. New York 2014; Thomas Flierl / Hermann Parzinger (Hg.): Die
kulturelle Mitte der Hauptstadt. Berlin 2009.
[4]Vgl. Werner Hofmann: Stalinismus und Antikommunismus. Zur
Soziologie des Ost-West-Konflikts. Frankfurt a.M. 1967; sowie Volker
Gransow: Konzeptionelle Wandlungen der Kommunismusforschung. Frankfurt
a.M. / New York 1980; ders.: Hybridkultur in Theorie und Feldforschung
(Rezension). In kulturation, 2006.
[5] Vgl. Robert Provine: Ein seltsames Wesen. Warum wir
gähnen, rülpsen, niesen und andere komische Dinge tun. Hamburg 2014, S.
83-116.
[6] Grundlegend zum Bhf. Friedrichstrasse ist das
quellengesättigte Werk von Philipp Springer: Bahnhof der Tränen. Die
Grenzübergangsstelle Berlin – Friedrichstraße. Berlin 2013.
[7] Dietrich Staritz: Geschichte der DDR. Erweiterte
Neuausgabe. Frankfurt a.M. 1985, S. 19 6. Vgl. rolf Steininger: Der
Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958 – 1963.
München 2001; Michael Lemke: Die Berlinkrise 1958 bis 1963. Interessen
und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt , Berlin 1995; zu
kulturellen Aspekten vgl. Volker Gransow, Kulturpolitik in der DDR,
Berlin 1975 sowie die Dokumentation der Intellektuellen-Debatte aus Ost
und West (z.B. Bloch , Enzensberger, Grass, Hermlin, Uhse) bei
Hans-Werner Richter (Hg.): Die Mauer oder der 13. August , Reinbek
1961.
[8] Vgl. Heinz Knobloch: Stadtmitte Umsteigen. Berliner
Phantasien. 2. Aufl. Berlin 1983. ders.: Angehaltener Bahnhof.
Fantasiestücke. 2.Aufl. Berlin 1985.; ders./ Michael Richter / Götz
Thomas Wenzel: Geisterbahnhöfe. Westlinien unter Ostberlin. Berlin
2012.
[9] Hierzu umd zum folgenden vgl. die ausführlichen Informationen bei Springer, a.a.O.
[10] Dieter Hildebrandt: Die strahlende Kontrollstation. In Frank furter
Allgemeine Zeitung , 14.7.1962. Vgl. Dieter Hildebrandt: Die Mauer ist
keine Grenze. Menschen in Ostberlin, Düsseldorf / Köln 1964.
[11] Vgl. Martin Ahrends: Trabbi, Telespargel und
Tränenpavillon. Das Wörterbuch der DDR-Sprache, München 1984; vgl.
Springer, a.a.O., S.47.
[12] In absoluten Zahlen waren es dort bis zu 30 000 Reisende,
die täglich den Tränenpalast passierten. Vgl. Ilko – Sascha Kowalczuk:
Der geteilte Bahnhof. Berlin 2011 (Faltblatt der Stiftung Berliner
Mauer).
[13] Zitiert bei Springer, a.a.O., S.63 (vermutlich Interview-Transkript).
[14] Zitiert bei Springer, a.. 2.Aufl., a.a.O., S.103 (vermutlich Interview-Transkript).
[15] Friedrich Luft: Hier geht Kafka. In Die Welt vom 3.4.1980.
Trauer und Verzweiflung eines Ost – West – Liebespaars werden
geschildert bei Norbert Sievers: Tränenpalast. Eine Liebe im geteilten
Deutschland, Gründau 2013.
[16] Jobst Jessen: Friedrichstraße – Bahnhof der Tränen. In Die Welt vom 29.8.1966.
[17] Friedrich Christian Delius: Mein Jahr als Mörder. Berlin 2004, S.67.
[18] Hans-Joachim Schaedlich: Eastwestberlin. Toronto 1992, S.9.
[19] Zum Mauerfall selbst und dessen innerdeutschen, medialen
(eine Pressekonferenz und eine Falschmeldung im westdeutschen TV als
Auslöser) und internationalen Aspekten vgl. Gransow / Jarausch, a.a.O.
sowie Hans-Hermann Hertle : Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen
Ereignisse um den 9. November 1989, Berlin 1996. Vgl. auch Siegfried
Prokop: Die kurze Zeit der Utopie – die „zweite“ DDR in den Jahren
1989/1990. Berlin 1994.
[20] Vgl. < www.hdg.de> (Letzter Zugriff: 18.01.2015). Dort auch die App zur Ausstellung.
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