KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
 Start  Reports  Themen  Texte  Zeitdokumente  Kritik  Veranstaltungen 

 Editorial  Impressum     
ReportKulturation 2011
Wolfgang Kil
Kein Pessimismus, nirgends
„Nein, danke! Olympia 2018, Stuttgart 21 - nein, danke“ überschrieb die „Süddeutsche Zeitung“ einen Artikel von Gerhard Matzig. Er begann mit einer Frage: „Früher wurde die Kritik an den Plänen für Großprojekte einfach überjubelt. Heute, bei Olympia 2018 und Stuttgart 21, ist die Angst vor der Zukunft so groß wie nie zuvor. Ist die Gesellschaft depressiv?“ Und er resümierte: „Die Blaupausen der Gesellschaft sind im Jahr 2010 unscharf, und deshalb wirken sie auch kraftlos. Kaum je zuvor gab es soviel Angst vor der Zukunft.“ Das wollte der Architekturkritiker Wolfgang Kil nicht so stehen lassen und gab seine Diagnose der „Moderneverdrossenheit“ an die Redaktion der SZ. Die nahm die Entgegnung zwar an, ließ sie dann aber lange schmoren. Nun hat sich Wolfgang Kil entschlossen, sie auf diesem Wege öffentlich zu machen.

Seit den Stuttgarter Demos hält das Thema in unzähligen Variationen die Feuilletons besetzt. In der Süddeutschen Zeitung etwa wurde allen, denen ein bestimmtes Bild von Zukunft nicht leuchten will, „Moderneverdrossenheit“ unterstellt und gefragt, warum Visionen und Innovationen heute so schlecht beleumdet sind. Spezielle bayerische Schmerzgrenzen waren erreicht, als die Grünen sich sogar offiziell gegen eine neuerliche Münchner Olympiabewerbung aussprachen. Wo ist nur die „Strahlkraft der Zukunft“ geblieben!

Ach ja, damals, 1968! Natürlich war die Münchner Olympiade ein denkwürdiges Ereignis, dank ihrer eindrucksvollen Architektur schmückt sie das Geschichtsbuch der Bundesrepublik bis heute. Doch sollten wir in diesem Höhepunkt nicht besser ein Finale sehen? Eine letzte triumphale Beschwörung jenes Traumes der Moderne, demzufolge es nur Geld und guten Willen braucht, um die Welt zum Besseren herzurichten? Auch am langen Nachhall dieses olympischen Jubels mag es mit gelegen haben, dass die dann folgende Botschaft erst einmal weithin ins Leere gesprochen blieb, obwohl sie doch jenen euphorischen Moderne-Träumen die Geschäftsgrundlage entzog: Seit 1972, da der Club of Rome seine berühmten Thesen veröffentlichte, war Zukunft nicht mehr mit Megaprojekten zu feiern. Seit uns die „Grenzen des Wachstums“ schriftlich bescheinigt wurden, ist unsere Welt eine andere. Weil sie seither mehr über sich weiß. Weil wir nun ganz anders über sie nachdenken müssen. Dieser Wendepunkt globaler Selbsterkenntnis setzte nicht die Träumer der Jahrzehnte davor ins Unrecht, aber er definierte neue Bedingungen für künftige Zukunftsarbeit. Wer heute noch im Stil der Sechzigerjahre träumt, verweigert mögliches – und nötiges – Risikobewusstsein.

Sträflich lange hat es gedauert, bis „Neues Denken“ über Expertenkreise hinaus Wirkungen zeigte, aber womöglich dürfen wir ja heute die „Demonstrationen aus der Mitte“ endlich als Artikulationen jener notwendigen gesellschaftlichen Großdebatte deuten, die von der Sache her spätestens seit 1972 ansteht. Was sich da neuerdings, und nicht nur in Stuttgart, vermehrt zu Wort meldet, sind nämlich nicht die üblichen Verdächtigen, die dem „Schweinesystem“ reflexhaft mit Lärm und Rempelei begegnen, sondern es sind Zeitgenossen mit Abitur, Büchern im Schrank und seriösem Zeitungsabo, die eher ARTE gucken als Verblödungs-TV. Und die notfalls eigene Gutachten beibringen, weil die allgemeine Nachrichtenlage – gescheiterte Klimakonferenzen, aber Abwrackprämien für alte Autos, Staatsrettung verzockter Banken oder profitsichernde Laufzeitverlängerungen für Kernreaktoren – täglich mehr Gründe bietet, am Überlebenswillen der Gattung Mensch zu zweifeln.

Ein globaler Wechsel vom Wachstums- zum Nachhaltigkeitsmodell darf von der Tragweite her wahrlich als Kulturrevolution bezeichnet werden, als ein Sinneswandel, der an die Grundfesten aller bisherigen Gesellschaften rührt. Und wie bei derart fundamentalen Erschütterungen oft, mögen die Anlässe beliebig sein: ein überflüssiges Schloss, eine Elbphilharmonie für Hamburgs Schickeria, eine neue Landebahn für noch mehr Kerosinschleudern. Manchmal sind es auch nur Vorwände: Großtrappen, Juchtenkäfer und seltene Fledermäuse waren nie eigentlicher Protestinhalt, sondern taktische Vehikel in einem Rechtssystem, das zoologischem Artenschutz oft mehr Chancen einräumt als dem plausibelsten bürgerschaftlichen Argument. Entscheidend jedoch für den öffentlichen Sinneswandel bleibt die Tendenz, um die es jeweils geht: Höher, schneller, weiter wie bisher? Oder bescheidener, leiser, entspannter, dezentral, solidarisch, von „realwirtschaftlicher“ Vernunft getragen? Daran gemessen, lässt sich im Rumoren der letzten Zeit viel Zukunftshoffnung entdecken. Sehr konkrete Hoffnungen. Und kein Pessimismus, nirgends.

Seit alters her folgten Großprojekte dem schlichten Rezept „Viel hilft viel“. Doch irgendwann spricht es sich einfach herum, dass von den ganz großen Ausgaben aus dem Steuersäckel stets ein paar Großverdiener ihre Gewinne einfahren, während die öffentlichen Hände Schulden abzahlen müssen, „bis es quietscht“ (Klaus Wowereit). Auskömmlichkeit der Kommunen gilt hierzulande nicht als systemrelevant.

Wer heute eine Zukunft mit Leuchtturmprojekten anstrebt, sorgt ziemlich sicher dafür, dass dafür wichtige Großprojekte der Vergangenheit geschleift werden. Um heutige Ehrgeizvorhaben zu finanzieren, wird zerschlagen, was früher Fortschritt hieß: Gemeingüter, Infrastrukturen der Daseinsvorsorge, solidarische Sozialsysteme, kulturelle Teilhabe für alle. Per Ausverkauf oder Finanzstopp wird die „lichte Zukunft“ von einst einem Zukunftsbild geopfert, das Verheißung nur noch für wenige bedeutet, für sogenannte Eliten, Besserverdiener und sonstige Gewinner. Die restlichen vier Fünftel der Gesellschaft, beispielsweise die Träger und Adressaten der zusammengesparten Hamburger Off- und Alltagskultur, dürfen dann zur Eröffnung ihres maßlos überteuerten Musiktempels brav am Straßenrand stehen und der High Society applaudieren. (In welchem deutschen Beteiligungsverfahren sind diese Planungsbetroffenen bislang jemals ernsthaft angehört und berücksichtigt worden?)

Die sich neuerdings artikulierende Zukunftsskepsis hat aus den Kollateralschäden der bisherigen Modernisierungen Lehren gezogen. In ihr regt sich das Wissen um eine endliche Welt. Die allenthalben rasch gegebene Diagnose „Moderneverdrossenheit“ mag zutreffen, solange damit eine Moderne brachialer ad-hoc-Lösungen gemeint ist, des unbeirrbaren Technikvertrauens und selbstberauschenden Machbarkeitswahns. Doch Zukunft heute verspricht ganz andere Abenteuer. Für die unumgänglichen Veränderungen unserer Welt gelten längst andere Visionen, klügere Innovationen. Small is beautiful. Der Stern der Dinosaurier ist wieder mal am Sinken.