Report | Kulturation 2011 | Wolfgang Kil | Kein Pessimismus, nirgends
| „Nein, danke!
Olympia 2018, Stuttgart 21 - nein, danke“ überschrieb die „Süddeutsche
Zeitung“ einen Artikel von Gerhard Matzig. Er begann mit einer Frage:
„Früher wurde die Kritik an den Plänen für Großprojekte einfach
überjubelt. Heute, bei Olympia 2018 und Stuttgart 21, ist die Angst vor
der Zukunft so groß wie nie zuvor. Ist die Gesellschaft depressiv?“ Und
er resümierte: „Die Blaupausen der Gesellschaft sind im Jahr 2010
unscharf, und deshalb wirken sie auch kraftlos. Kaum je zuvor gab es
soviel Angst vor der Zukunft.“ Das wollte der Architekturkritiker
Wolfgang Kil nicht so stehen lassen und gab seine Diagnose der
„Moderneverdrossenheit“ an die Redaktion der SZ. Die nahm die
Entgegnung zwar an, ließ sie dann aber lange schmoren. Nun hat sich
Wolfgang Kil entschlossen, sie auf diesem Wege öffentlich zu machen.
Seit den Stuttgarter Demos hält das Thema in unzähligen Variationen die Feuilletons besetzt. In der Süddeutschen Zeitung
etwa wurde allen, denen ein bestimmtes Bild von Zukunft nicht leuchten
will, „Moderneverdrossenheit“ unterstellt und gefragt, warum Visionen
und Innovationen heute so schlecht beleumdet sind. Spezielle bayerische
Schmerzgrenzen waren erreicht, als die Grünen sich sogar offiziell
gegen eine neuerliche Münchner Olympiabewerbung aussprachen. Wo ist nur
die „Strahlkraft der Zukunft“ geblieben!
Ach ja, damals, 1968! Natürlich war die Münchner Olympiade ein
denkwürdiges Ereignis, dank ihrer eindrucksvollen Architektur schmückt
sie das Geschichtsbuch der Bundesrepublik bis heute. Doch sollten wir
in diesem Höhepunkt nicht besser ein Finale sehen? Eine letzte
triumphale Beschwörung jenes Traumes der Moderne, demzufolge es nur
Geld und guten Willen braucht, um die Welt zum Besseren herzurichten?
Auch am langen Nachhall dieses olympischen Jubels mag es mit gelegen
haben, dass die dann folgende Botschaft erst einmal weithin ins Leere
gesprochen blieb, obwohl sie doch jenen euphorischen Moderne-Träumen
die Geschäftsgrundlage entzog: Seit 1972, da der Club of Rome
seine berühmten Thesen veröffentlichte, war Zukunft nicht mehr mit
Megaprojekten zu feiern. Seit uns die „Grenzen des Wachstums“
schriftlich bescheinigt wurden, ist unsere Welt eine andere. Weil sie
seither mehr über sich weiß. Weil wir nun ganz anders über sie
nachdenken müssen. Dieser Wendepunkt globaler Selbsterkenntnis setzte
nicht die Träumer der Jahrzehnte davor ins Unrecht, aber er definierte
neue Bedingungen für künftige Zukunftsarbeit. Wer heute noch im Stil
der Sechzigerjahre träumt, verweigert mögliches – und nötiges –
Risikobewusstsein.
Sträflich lange hat es gedauert, bis „Neues Denken“ über
Expertenkreise hinaus Wirkungen zeigte, aber womöglich dürfen wir ja
heute die „Demonstrationen aus der Mitte“ endlich als Artikulationen
jener notwendigen gesellschaftlichen Großdebatte deuten, die von der
Sache her spätestens seit 1972 ansteht. Was sich da neuerdings, und
nicht nur in Stuttgart, vermehrt zu Wort meldet, sind nämlich nicht die
üblichen Verdächtigen, die dem „Schweinesystem“ reflexhaft mit Lärm und
Rempelei begegnen, sondern es sind Zeitgenossen mit Abitur, Büchern im
Schrank und seriösem Zeitungsabo, die eher ARTE gucken als
Verblödungs-TV. Und die notfalls eigene Gutachten beibringen, weil die
allgemeine Nachrichtenlage – gescheiterte Klimakonferenzen, aber
Abwrackprämien für alte Autos, Staatsrettung verzockter Banken oder
profitsichernde Laufzeitverlängerungen für Kernreaktoren – täglich mehr
Gründe bietet, am Überlebenswillen der Gattung Mensch zu zweifeln.
Ein globaler Wechsel vom Wachstums- zum Nachhaltigkeitsmodell darf
von der Tragweite her wahrlich als Kulturrevolution bezeichnet werden,
als ein Sinneswandel, der an die Grundfesten aller bisherigen
Gesellschaften rührt. Und wie bei derart fundamentalen Erschütterungen
oft, mögen die Anlässe beliebig sein: ein überflüssiges Schloss, eine
Elbphilharmonie für Hamburgs Schickeria, eine neue Landebahn für noch
mehr Kerosinschleudern. Manchmal sind es auch nur Vorwände:
Großtrappen, Juchtenkäfer und seltene Fledermäuse waren nie
eigentlicher Protestinhalt, sondern taktische Vehikel in einem
Rechtssystem, das zoologischem Artenschutz oft mehr Chancen einräumt
als dem plausibelsten bürgerschaftlichen Argument. Entscheidend jedoch
für den öffentlichen Sinneswandel bleibt die Tendenz, um die es jeweils
geht: Höher, schneller, weiter wie bisher? Oder bescheidener, leiser,
entspannter, dezentral, solidarisch, von „realwirtschaftlicher“
Vernunft getragen? Daran gemessen, lässt sich im Rumoren der letzten
Zeit viel Zukunftshoffnung entdecken. Sehr konkrete Hoffnungen. Und
kein Pessimismus, nirgends.
Seit alters her folgten Großprojekte dem schlichten Rezept „Viel
hilft viel“. Doch irgendwann spricht es sich einfach herum, dass von
den ganz großen Ausgaben aus dem Steuersäckel stets ein paar
Großverdiener ihre Gewinne einfahren, während die öffentlichen Hände
Schulden abzahlen müssen, „bis es quietscht“ (Klaus Wowereit).
Auskömmlichkeit der Kommunen gilt hierzulande nicht als systemrelevant.
Wer heute eine Zukunft mit Leuchtturmprojekten anstrebt, sorgt
ziemlich sicher dafür, dass dafür wichtige Großprojekte der
Vergangenheit geschleift werden. Um heutige Ehrgeizvorhaben zu
finanzieren, wird zerschlagen, was früher Fortschritt hieß:
Gemeingüter, Infrastrukturen der Daseinsvorsorge, solidarische
Sozialsysteme, kulturelle Teilhabe für alle. Per Ausverkauf oder
Finanzstopp wird die „lichte Zukunft“ von einst einem Zukunftsbild
geopfert, das Verheißung nur noch für wenige bedeutet, für sogenannte
Eliten, Besserverdiener und sonstige Gewinner. Die restlichen vier
Fünftel der Gesellschaft, beispielsweise die Träger und Adressaten der
zusammengesparten Hamburger Off- und Alltagskultur, dürfen dann zur
Eröffnung ihres maßlos überteuerten Musiktempels brav am Straßenrand
stehen und der High Society applaudieren. (In welchem deutschen
Beteiligungsverfahren sind diese Planungsbetroffenen bislang jemals
ernsthaft angehört und berücksichtigt worden?)
Die sich neuerdings artikulierende Zukunftsskepsis hat aus den
Kollateralschäden der bisherigen Modernisierungen Lehren gezogen. In
ihr regt sich das Wissen um eine endliche Welt. Die allenthalben rasch
gegebene Diagnose „Moderneverdrossenheit“ mag zutreffen, solange damit
eine Moderne brachialer ad-hoc-Lösungen gemeint ist, des
unbeirrbaren Technikvertrauens und selbstberauschenden
Machbarkeitswahns. Doch Zukunft heute verspricht ganz andere Abenteuer.
Für die unumgänglichen Veränderungen unserer Welt gelten längst andere
Visionen, klügere Innovationen. Small is beautiful. Der Stern der Dinosaurier ist wieder mal am Sinken.
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