Report | Kulturation 1/2003 | Günter Mayer | Nachruf auf Georg Knepler
| Er
hatte das große Glück, ohne nennenswerte Einschränkungen seiner
geistigen Kräfte sehr alt zu werden. Als ich ihn am 21. Dezember
anrief, um ihm zum 96. Geburtstag zu gratulieren, nahm er den Hörer ab
und sagte: “Ich habe jetzt gerade keine Zeit, ich arbeite”. Auf meine
guten Wünsche, dass er noch bis zum Hundertsten so interessiert und
anregend, vor allem so produktiv tätig sein möge, entgegnete er: “Nicht
bis Hundert, bis Hundertzehn”. Zwischen Weihnachten und Neujahr hatte
er an einen größeren Kreis von Freunden, Kollegen und Publizisten die
ersten Kapitel und die Gesamtskizze eines Buches (insgesamt 102 Seiten)
zugesandt, das er bis Ende 2003 abschließen wollte. Es soll unter dem
Titel “Macht ohne Herrschaft. Die Realisierung einer Möglichkeit”
sieben Kapitel enthalten: “Darwins Evolutionstheorie”; “Marx‘ Theorie
von der Assoziation freier Produzenten”; “Menschwerdung”; “Die
Herausbildung ethischer und ästhetischer Wertkriterien”; “Die
Herausbildung von Herrschaftsformen”; “Der Kapitalismus” und
“Gleichberechtigung”, eine historisch-kritische Analyse der politischen
Revolutionen seit 1789 bis in die jüngste Gegenwart, die mündet in den
Ausblick “Die Situation heute und die nächsten Schritte”. Noch am 4.
Januar konnte ich ihm telefonisch mitteilen, wie sehr mich dieser Text
beeindruckt hat. Er stellte ein ausführliches Gespräch darüber “in
vierzehn” Tagen in Aussicht. Zehn Tage später war er tot: eine
beginnende Lungenentzündung hatte er bereits überwunden, sollte schon
bald aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen werden. Doch seine
Lebensenergie war verbraucht, er starb abrupt an Schwäche – ohne zu
leiden.
Der Tod Georg Kneplers ist ein unermesslicher Verlust. Er war einer
der ganz Großen in der Musikwissenschaft des 20. Jahrhunderts und hat
deren marxistisch orientierte Profilierung durch grundsätzliche
Arbeiten zur Methodologie der Musikgeschichtsschreibung (1977), zur
ästhetischen Spezifik der Musik (1980/81) sowie durch seine beiden
Bände über die Musikkultur des 19. Jahrhunderts (1961) oder die
biograpischen “Annäherungen” an Wolfgang Amadé Mozart (1991) wie kaum
ein Anderer vorangebracht: flexibel, streitbar, offen für neue
Fragestellungen und für als notwendig erkannte Korrekturen und
Differenzierungen. Dazu gehörte für ihn die enorme Ausweitung sowohl
der geschichtlichen als auch der theoretischen Dimensionen des Denkens.
Georg Knepler hat in beeindruckender Einzelleistung vorgemacht, was
interdisziplinäres Arbeiten an neuen Anregungen und Ergebnissen für das
disziplinäre Selbstverständnis der Musikforschung bewirkt. Er hat sich
in die je aktuellen Diskurse der Historiographie der Ur- und
Frühgeschichte, der Soziologie, der Systemtheorie ebenso hineinbegeben
wie in die je aktuellen Diskurse der Kommunikationstheorie, der
Semiotik und Linguistik, der Bioakustik und Verhaltensforschung, der
Entwicklungs-, Sprach- und Neuropsychologie. Hat er einerseits durch
seine historisch präzisen Analysen zur Entwicklung, zum Stellenwert und
zur Notwendigkeit des Fortschrittsbegriffs im jeweiligen Kontext
widerstreitender ideologischer Konzeptualisierungen neue Wege
beschritten, um Musikwissenschaft als Gesellschaftswissenschaft
historisch-materialistisch zu fundieren und auszuarbeiten, so hat er
andererseits im Ergebnis seiner interdisziplinären Studien zur
historischen Grundlegung der Musikgeschichte und Musikästhetik neue
Perspektiven für das systematische Begreifen der Musik eröffnet:
gegründet auf die als notwendig erkannte Synthese von gesellschafts-
und naturwissen-schaftlichem Denken.
Er hat sich immer wieder für die innerdisziplinäre und
interdisziplinäre Kommunikation und Kooperation eingesetzt, als
jahrelanger Chefredakteur der “Beiträge zur Musikwissenschaft” sowie,
gemeinsam mit Harry Goldschmidt, in der Organisation und
publizistischen Auswertung von nationalen und internationalen
Kolloquien: “Musikästhetik in der Diskussion” (1981) und “Komponisten
auf Werk und Leben befragt” (1985). Zu den Teilnehmern der auf
Biographik zentrierten Klausurtagung gehörten - neben den Kollegen aus
der DDR - Michael Druskin (UdSSR), Carl Dahlhaus und Ludwig Finscher
(Bundesrepublik), Pierluigi Petrobelli (Italien), Jaroslav Jiranek
(Tschechoslowakei), Jozsef Ujfalussy (Ungarn), Jean und Brigitte Massin
(Frankreich) sowie Maynard Solomon (USA).
Seit der Implosion des europäischen Staatssozialismus, seit den
neunziger Jahren also hat sich Georg Knepler fast ausschließlich auf
die Fragen nach den Ursachen, den Folgen dieser Umwälzung und nach den
darin liegenden Zukunftsmöglichkeiten konzentriert. Im Gegensatz zu
vielen Anderen war der Niedergang und Zusammenbruch der sozialistischen
Länder in Europa für Georg Knepler nicht der Beweis dafür, dass die
Theorie und Methode von Marx damit historisch erledigt sei. Im
Gegenteil: Er hat Marx und Lenin neu gelesen, die als
Marxismus-Leninismus betriebenen Theorien kritisch besichtigt – weit
über sein Fach hinaus. Da er an der von Wolfgang Martin Stroh und mir
1999 organisierten internationalen Fachtagung zur Geschichte, Situation
und Perspektive der marxistisch orientierten Musikforschung aus
Altersgründen nicht teilnehmen konnte, bat er mich, den Teilnehmern zu
sagen, dass er derzeit den größten Teil seiner Lebenszeit der Politik
widme: im Sinne der politischen Vergangenheitsbewältigung, der
Gegenwartskritik und der Zukunftserkundung, denn: den gegenwärtigen
Weltzustand und seine düsteren Perspektiven könne man von der
Musikwissenschaft her nicht begreifen. “Wir müssen uns der Politik
zuwenden. Wenn die theoretisch befähigten Musikwissenschaftler sich
qualifiziert mit der Politik beschäftigen, werden sie auch ihr Fach
besser begreifen, nicht zuletzt ihre Mitverantwortung für die Sicherung
eines menschenwürdigen Lebens auf diesem Planeten.” Aus diesem
“Paradigmenwechel” ist der Torso seiner letzten großen Arbeit “Macht
ohne Herrschaft” hervorgegangen, auf die er in den letzten Jahren die
ihm verbliebenen Kräfte konzentriert hatte – in ständiger Diskussion
mit Freunden und Kollegen, darunter vielen jüngeren.
Sein Grundanliegen hat er im ersten Absatz des Vorwortes so
formuliert: “Menschen sind auf dem Planeten Erde die einzigen
Lebewesen, die Verhältnisse herbeigeführt haben, unter denen ein bis
zwei Prozent der Gesamtpopulation die Macht haben, über alle anderen zu
verfügen. Das Thema dieses Buches ist der Nachweis, dass diese
barbarischen Verhältnisse überwindbar sind, die Methode des Buches ist
es, der Entstehungsgeschichte der Barbarei und der der Menschlichkeit
nachzugehen”.
Mit der Vielzahl von methodologischen und sachlichen Problemen, die
sich mit der Hinwendung zu den allgemeinen Themen “Menschwerdung” (3.
Kapitel) und “Die Herausbildung ethischer und ästhetischer
Wertkriterien” (4. Kapitel) ergeben, hatte sich Georg Knepler aus
musikwissenschaftlicher Perspektive schon seit den siebziger Jahren
intensiv beschäftigt (1977; 1988). Dem Thema “Ästhetik und
Urgeschichte” war auch das von der Leibniz-Sozietät zu seinem 90.
Geburtstag veranstaltete Kolloquium gewidmet, auf welchem er selbst
referierte über “Musikästhetik. Ansatz aus der Sicht ur- und
frühgeschichtlicher Forschungsergebnisse”(1998).
Die Schriften von Karl Marx hat er, wie bereits bemerkt, mit einem
durch die jüngere Widerspruchserfahrung geschärften Blick neu gelesen
und ist dabei zu erstaunlichen Einsichten gekommen. Er sieht dessen
historische Leistung vor allem in der Begründung einer Theorie der
Ablösung von Ausbeutung durch eine Assoziation freier Produzenten.
Dieses Kapitel (2) ist sozusagen, fertig.
Für die folgenden hat Georg Knepler knapp gefaßte Inhaltsangaben
formuliert, in denen der Ansatz und die Argumentationslinien deutlich
fixiert sind. Für eine neuartige Analyse und Darstellung der
Revolutionen der Neuzeit, der Kämpfe, Schwierigkeiten und Erfolge bei
der Realisierung von Gleichberechtigung liegen umfangreiche Vorarbeiten
vor. Sie reichen bis in die Reflexion über die gegenwärtigen globalen
Kräfteverschiebungen in China, Rußland und Indien, aber auch in
Südamerika (wie in Venzuela). In seinen Analysen unterscheidet Knepler
zwei wesentliche, geschichtlich wirksame Tendenzen der menschlichen
Willensbildungen: die auf Kooperation und die auf Konfrontation
gerichteten. Der abschließende Komplex des Buches “Die Situation heute
und die nächsten Schritte” ist ebenfalls fertig und bereits wenige Tage
nach dem Tode veröffentlicht worden (Siehe Junge Welt vom 18./19. Januar 2003).
Seinen polemischen Ansatz hat Knepler im Schlußsatz der Einleitung
deutlich artikuliert: “Während [...] die auf kriegerische Konfrontation
gerichteten Willensbildungen in der Geschichtsschreibung breite
ausführliche Darstellungen finden, so dass im Allgemeinbewußtsein die
Meinung vorherrscht, Kriege habe es immer gegeben, müsse und werde es
immer geben, werden die großen auf Kooperation gerichteten
Entwicklungszüge wenig beachtet, wenn nicht verleumdet. Dieses Buch
sucht durch Darstellung beider Entwicklungszüge Einsicht zu gewinnen in
die Notwendigkeit und Möglichkeit weiterer Schritte, innerhalb der
Naturgegebenheiten friedliche menschliche Gesellschaften zu errichten”.
Die aktuelle Dimension dieses Ansatzes ist evident: Es ist nicht
nur die von Knepler formulierte prinzipielle Kritik der
us-amerikanischen Großbourgeoisie, die Entlarvung ihrer auf
militärische Mittel gestützten, global ausgerichteten
Konfrontationspolitik und Herrschaftspraxis. Es ist die weit darüber
hinausgehende prinzipielle Kritik am kapitalistischen System und die
Begründung dafür, dass es notwendig und möglich sei, es “endgültig
abzuschaffen”.
Georg Knepler hat mir in einer unserer letzten Begegnungen gesagt,
dass dieses Buch, das nun zu seinem Vermächtnis geworden ist, sein
Lebenswerk sei. Daher werden die engeren Freunde in allernächster Zeit
aus dem bisher Vorliegenden ein Ganzes zusammenstellen und
veröffentlichen.
In allem, was Georg Knepler tat, war bis in seine letzten Tage
Bewegung, ein hellwaches, weltoffenes Interesse nicht nur an den
großen, die Menschheit als Ganzes betreffenden Erfahrungen. Er fragte
stets auch nach den individuellen Befindlichkeiten seiner vielen
Besucher.
In allem, was Georg Knepler tat, war bis in seine letzten Tage
lebendig der kritische Zweifel, stets verbunden mit der Suche nach
Neuem. Es gab bei ihm trotz aller Widerspruchserfahrung und
Enttäuschungen nie Hoffnungslosigkeit, Resignation oder etwa Zynismus.
Und zugleich gab es bei ihm, bei aller Bewegung und anregenden Unruhe,
keine Hektik. Von ihm ging zielstrebige Gelassenheit aus. Er hatte die
Grundhaltung der Freundlichkeit und der Behutsamkeit, die der Philosoph
Lothar Kühne als das Wesentliche des kommunistischen Verhältnisses der
Menschen zur Natur, zur Welt ihrer Produkte und zu sich selbst erkannt
hat. Er wird sehr fehlen, nicht nur denen, die das Glück hatten, ihm zu
begegnen, ihn kennenzulernen, seine Schüler gewesen zu sein und zu
seinen Freunden gehört zu haben.
Literatur:
Knepler, Georg, Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 1 und 2, Berlin 1961.
Ders Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, Leipzig 1977.
Ders. Versuch einer historischen Grundlegung der Musikästhetik, in: Gedanken über Musik, Berlin 1980.
Ders. Die Rolle des Ästhetischen in der Menschwerdung, in: Weimarer Beiträge 34 (1988), 3.
Ders. Wolfgang Amadé Mozart. Annäherungen. Berlin 1991.
Ders. Musikästhetik. Ansatz aus der Sicht ur- und
frühgeschichtlicher Forschungsergebnisse, in: Sitzungsberichte der
Leibnitz-Sozietät. Ästhetik und Urgeschichte. Kolloquium zum 90.
Geburtstag von Georg Knepler, Bd. 25, Jahrgang 1998, Heft 6.
Ders. Macht ohne Herrschaft. Die Realisierung einer
Möglichkeit. Teilveröffentlicht in: Junge Welt, 18./19. Januar 2003,
Nr. 15, 10/11.
Goldschmidt/Knepler Musikästhetik in der Diskussion. Vorträge und Diskussionen, Leipzig 1981.
Dies./Niemann, Komponisten auf Werk und Leben befragt. Ein Kolloquium. Leipzig 1985.
Stroh/Mayer, Musikwissenschaftlicher Paradigmenwechsel? Zum Stellenwert marxistischer Ansätze in der Musikforschung, Oldenburg 2000, 16/17.
Kühne, Lothar, Gegenstand und Raum. Über die Historizität des Ästhetischen, Dresden 1981, 252.
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