Report | Kulturation 2/2003 | Volker Gransow | Jenseits von Vertiefung und Erweiterung?
Notizen und Literaturtipps zur Europäischen Union
| Erweiterung
und Vertiefung gelten als Schlüsselbegriffe der europäischen
Integration. Aber wie verhalten sie sich zueinander? Erweiterung und (gleichzeitig) Vertiefung? Erweiterung oder Vertiefung? Erweiterung vor Vertiefung? Vertiefung ohne Erweiterung?
I.
Die Erweiterung der EU ist einfach zu verstehen. Sie macht sofort die
Dramatik der Situation klar. Erweiterung heißt Beitritt von
europäischen Nationalstaaten mit einem definierten wirtschaftlichen
Niveau und einer ebenfalls definierten demokratischen politischen
Kultur. Die ursprüngliche Gemeinschaft der sechs Gründungsmitglieder
Benelux, Frankreich, Italien und Westdeutschland erweiterte sich zur
heutigen EU-15, d.h. ganz West- und Nordeuropa ohne die Schweiz und
Norwegen. Mit der Osterweiterung 2004 treten neben Malta und Zypern
acht ostmitteleuropäische Staaten bei. Damit reicht die EU-25 vom
Mittelmeer bis in die ehemalige Sowjetunion. Weitere offizielle
Beitrittskandidaten sind Bulgarien, Rumänien und die Türkei. Diese
EU-28 hätte als Anrainer das Schwarze Meer, Weißrussland und den Irak.
Versteht man europäische Integration hauptsächlich als
intergouvernementale Freihandelspolitik, dann wäre neben der Ausdehnung
auf Nordafrika und Georgien auch die Eingliederung der EU in eine zur
transatlantischen Freihandelszone (TAFTA) gedehnte NAFTA (North
American Free Trade Association aus Kanada, Mexiko und den USA)
denkbar. Zur Zeit gibt es bereits die eher lockere “Transatlantic
Economic Partnership”.
Vertiefung ist schwieriger zu begreifen. Sie bedeutet gewiss währungs-
und wirtschaftspolitische Integration, marktliberal mit Ausnahme der
hochreglementierten Agrarpolitik. Aber schon die sozialpolitische
Reaktion auf durch Wirtschaft und Währung geschaffene Probleme wird
durchaus nicht immer gesamteuropäisch vertieft, sondern bleibt oft den
Staaten, Regionen und Kommunen selbst überlassen. Offiziell bedeutet
Vertiefung auch eine (spätestens durch den Irak-Krieg 2003 in die Krise
geratene) gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie gemeinsame
Justiz- und Innenpolitik. Vertiefung kann sich auf politische
Koordination beziehen und damit so ziemlich alle Politikfelder von
“Afrikapolitik” bis “ Zusammenarbeit in Strafsachen” abdecken. Sie kann
aber auch eine Demokratisierung der EU-Institutionen selbst meinen. Die
Vertiefung der kulturellen Integration kann von speziellen
Kulturprogrammen bis zur Wahrung einer vielleicht nur hypothetischen
kulturellen Identität Europas gehen.
Erweiterung und Vertiefung sind also keineswegs zwei Seiten einer
Medaille. Im Gegenteil kann eine bis zur Überdehnung erweiterte EU
unfähig zur Vertiefung werden. Die charakteristische Vagheit der
Debatte um Erweiterung und Vertiefung der EU liegt daran, dass die
europäische Integration über weite Strecken “ohne Leitbild”(Weidenfeld)
und ohne innereuropäische Diskussion ablief. Es war und ist unklar, ob
eine “internationale Organisation” supranationaler oder
intergouvernementaler Art angestrebt wird, ob ein “Staatenbund” oder
gar ein “Bundesstaat” Ziel der europäischen Integration sein soll. Ist
ein “Staatenverbund” (so u.a. der deutsche Außenminister Fischer in
einer vielgerühmten Rede) mehr als eine wolkige Kompromissformel?
Vielleicht hilft zunächst ein Rückblick auf einige Wendepunkte in der
Geschichte der europäischen Integration.
II.
1952. Benelux, Frankreich, Italien und Westdeutschland gründen eine “Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl”, die Montanunion.
Ziel ist die Schaffung eines gemeinsamen Marktes. Hintergrund ist der
Wunsch nach Sicherheit und Frieden, d.h. die Beseitigung der
deutsch-französischen “Erbfeindschaft” bei damals kriegswichtigen
Industrien. Damit ist die supranationale Organisation eines
Politikbereiches nach dem funktionalistischen Integrationstyp
verbunden, d.h. dass sich ein sachlogischer Druck zur Übertragung
weiterer Funktionen ergibt.
1957. Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
(EWG) durch die Mitglieder der Montanunion. Hauptziele sind eine
Zollunion (erreicht nach elf Jahren 1968) und ein gemeinsamer
Binnenmarkt mit freiem Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr
(erreicht nach sechsunddreißig Jahren 1993). Die Kommission wird zur
Exekutive, der Ministerrat zur Legislative, die parlamentarische
Versammlung debattiert weitgehend kompetenzfrei und der Gerichtshof
kontrolliert. Damit wird ein strukturelles Demokratiedilemma
konstruiert: die beitretenden Staaten müssen demokratisch verfasst
sein, die Gemeinschaft ist es jedoch nicht, weil die Legislative
gleichzeitig die jeweils nationale Exekutive ist. Die Gemeinschaft wird
grundsätzlich aus Mitgliedsbeiträgen finanziert und erhebt keine
eigenen Steuern.
1970 - 1974. Die EWG wird 1970 für die gemeinsame Außenhandelspolitik der Mitgliedsstaaten zuständig - ein wesentlicher Souveränitätsverzicht der Mitgliedsländer - Norderweiterung.
Die zunehmende Prosperität der EWG führt 1973 zu weiteren Beitritten
trotz französischem Widerstand. Großbritannien, Dänemark und Irland
treten der EWG zwölf Jahre nach Antragstellung bei. Der Europäische Rat
wird 1974 von den EWG-Regierungen geschaffen. Er besteht aus den
Regierungschefs der Mitgliedsstaaten. Die Skala seiner Aktivitäten geht
über vertragliche Aufgaben hinaus, etwa bei Beschlüssen über
Erweiterungen. Er ist nicht identisch mit dem “Europarat” (einer
paneuropäischen Repräsentativinstitution) und dem “Rat der EU”, durch
den die Regierungen der Mitgliedsstaaten auf Ministerebene ihre
zentrale Entscheidungsbefugnis (Legislative) wahrnehmen.
1979. Die ersten direkten und allgemeinen Wahlen zum Europäischen Parlament (EP)
finden nach jeweils nationalem Wahlrecht statt. Das Europaparlament ist
das einzige direkt gewählte und somit unmittelbar legitimierte Organ
der Gemeinschaft bzw. der EU. Trotzdem oder deshalb sind seine
Befugnisse beschränkt. Die Zusammensetzung der Fraktionen ist
multinational und politisch-inhaltlich. Mitglieder sind nicht selten
verdiente Pensionäre.
1981- 86 Süderweiterung. Griechenland, Spanien und Portugal treten bei, nachdem die dort herrschenden Diktaturen beseitigt worden sind.
1993 Maastricht-Vertrag. Der europäische Binnenmarkt ist
da. Dazu gehört die freie Bewegung von Personen, Produkten und
Dienstleistungen im gemeinsamen Markt. Die Gemeinschaft nennt sich nun Europäische Union (EU) .
Die “drei Säulen” der EU werden definiert als “Wirtschafts- und
Währungsunion”, die “gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik”, sowie
“Recht und Innere Sicherheit”. Durch Maastricht wird rechtlich der
“Unionsbürger” geschaffen, der Staatsbürger eines Mitgliedsstaates
bleibt, sich aber überall in der Union niederlassen kann und überall
das kommunale Wahlrecht und das Wahlrecht zum EP ausüben kann.
1995. Durch das Abkommen von Schengen wird in der kontinentalen EU freier Personenverkehr ohne Grenzkontrollen
von der polnischen Westgrenze bis Portugal möglich. Finnland,
Österreich und Schweden treten bei. Ältere Neutralitätsüberlegungen
sind nach dem Ende des Kalten Krieges obsolet.
1999-2002. Der Euro wird offizielle Gemeinschaftswährung
in Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien,
Luxemburg, den Niederlanden , Österreich, Portugal, und Spanien. Die
Wichtigkeit der Erweiterung der Eurozone wird in einer breiten
Öffentlichkeit verkannt (siehe aber Bolle / Jacobsen).
2003. Spätestens durch die unterschiedlichen Positionen verschiedener Länder zum Irak-Krieg
erweist sich die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU als
fiktiv. Europäische (Links-)Intellektuelle wie Jürgen Habermas und
Jacques Derrida fordern daher ein “Kerneuropa” um Frankreich
und Deutschland. Dies ist weit realistischer als die dümmliche
Verklärung einer amerikanischen “hyperpuissance” durch Robert Kagan.
Ein Konvent der EU legt 2003 einen Entwurf für einen Verfassungsvertrag
vor. Die Schaffung eines “Legislativrats” und eines
Eu-Außenministeriums erscheinen als notwendige Vertiefung angesichts
der Gefahr einer Überdehnung der EU durch die 1999 in Helsinki
beschlossene Osterweiterung, vielleicht sogar als “letzte Chance für
ein vereintes Europa” (Glotz ).
2004. Osterweiterung. Der EU treten neben Malta und Zypern
acht Staaten Ostmitteleuropas bei: Estland, Lettland, Litauen, Polen,
Slowakei, Slowenien Tschechien, Ungarn. Nach der Erweiterung auf 25
Mitgliedsstaaten sind Wahlen zum europäischen Parlament vorgesehen.
III.
Angesichts dieser mehr als fünfzigjährigen diskontinuierlichen
Geschichte lässt sich festhalten, dass mit enormer Verzögerung drei
wesentliche Ziele der EU erreicht worden sind, nämlich der gemeinsame
Markt, die gemeinsame Währung und die nicht mehr durch Grenzkontrollen
behinderte Mobilität der Unionsbürger. Allerdings konnten die beiden
letztgenannten Ziele nicht in der gesamten EU realisiert werden,
ursprüngliche Gemeinsamkeits- und Gleichzeitigkeitsvorstellungen
mussten aufgegeben werden. Dies “Europa in verschiedenen Tempi” gibt
der Rede von “Kerneuropa” die realistische Dimension.
Die wirtschaftliche Integration zeigt sich in der Sicherung des
Binnenmarktes und in einer Fülle von Kompetenzen der EU im Bereich der
Agrarpolitik, der Außenhandelspolitik sowie der Regional- , Struktur-
und Kohäsionspolitik. Die Mitgliedsstaaten der Währungsunion haben ihre
nationale Souveränität in der Geld- und Wechselkurspolitik an die
Europäische Zentralbank und den Europäischen Rat abgetreten. Das heißt
jedoch nicht, dass eine wirtschaftspolitische
Integration stattgefunden hat. Die EU kann zwar das Alltagsleben von
der Zwangswarnung vor (EU-subventionierten) Tabakprodukten bis zum
Lärmschutz regulieren, sie besitzt aber keine umfassende Hoheit z.B. in
der Steuerpolitik, der Sozialpolitik und der Infrastrukturpolitik. Der
Stabilitätspakt wird zunehmend ignoriert und behindert gleichzeitig
nationalen Neo-Keynesianismus - zusätzlich zur Europäischen Zentralbank
und der marktliberalen Globalisierung.
IV.
Es gibt mindestens sechs offene Fragen:
(1) Die Leitbild-Frage. Die Zielrichtung der Integration
wird nicht debattiert: soll es um eine internationale Organisation
gehen, einen Staatenbund, einen Bundesstaat, einen Staatenverbund oder
gerade bei einer weiteren Verbreiterung um ein Zurück zur
Freihandelszone? Ohne Konzept aber ist bei einer EU mit 25 oder 28
Mitgliedsstaaten von Estland bis zur Türkei eine weitere Vertiefung
kaum denkbar.
(2) Das Demokratie-Defizit. Trotz gewachsener Kompetenz
ist das Europaparlament keine Legislative, sind die Entscheidungen von
Kommission und Rat letztlich nicht legitimiert. Es gibt keine
gesamteuropäische Öffentlichkeit, sieht man von punktuellen Ausnahmen
ab. Das “bittere Bonmot” ausgerechnet von Erweiterungskommissar
Verheugen verdient weiteres Nachdenken: “Würde sich die EU bei uns um
Beitritt bewerben, müssen wir sagen: demokratisch ungenügend” (vgl.
Claus Offes Überlegungen zur Marginalisierung der Demokratien). Der
bescheidene Verfassungsentwurf des EU-Konvents würde bei einer (derzeit
noch umstrittenen) Realisierung daran nichts ändern.
(3) Die Landwirtschaft ist hochadministriert,
subventioniert und von Marktstrukturen ausgeschlossen. Gegen eine
Ausdehnung des Marktliberalismus auf die Agrarpolitik stemmen sich
bereits nationale Regierungen der EU-15. Wie wird es bei der EU-25
sein? Was bedeutet das für die Lebensmittelversorgung im globalen
Maßstab?
(4) Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik erwies
sich im Irak-Krieg als Fiktion und wird dies selbst im Fall des Aufbaus
einer europäischen Armee auch bleiben, solange innerhalb der EU
nationale Regierungen unterschiedlicher Couleur ohne außenpolitischen
Souveränitätsverzicht Beziehungen zur derzeit einzigen Weltmacht USA
behalten wollen.
(5) Die kulturelle Symbolik des Euro und der verschwundenen
Grenzkontrollen ist unübersehbar. Vergleicht man aber den
Kulturhaushalt und den Agraretat der EU, kommen einem die Tränen. Wie
soll eine (z.T. unerwünschte) europäische Kulturpolitik
ohne demokratische Legitimation eingerichtet werden? Zumal es nicht
einmal im Ansatz eine Diskussion über ein “multikulturelles Europa der
Regionen” in Verbindung mit Demokratisierung und Souveränitätsverzicht
gibt?
(6) Regierungen haben unter extremen Zeitverlusten den Binnenmarkt und
die gemeinsame Währung geschaffen. Bevölkerungen und Parlamente konnten
gelegentlich mitwirken. Eine Beteiligung der Zivilgesellschaft
gab es aber kaum. Können die Bürgerinnen und Bürger den “Unionsbürger”
zur politisch-kulturellen Realität machen? Konkreter gefragt: können
die hauptsächlich als Organisationsbündnisse und
Geldverteilungsmaschinen existierenden europäischen Gewerkschaften und
Parteien (siehe Bierbaum und Johanson) von ihren Mitgliedern zu
tatsächlich europäischen Organisationen mit individueller
Mitgliedschaft, regulären Wahlkreisen usw. gemacht werden? Sind “Attac”
und die “europäischen Sozialforen” auf dem richtigen Weg zu einem
“Europa der Projekte” (Thibaud)? Was können europäische
Sozialdemokraten, Postkommunisten und Grüne von “Attac” und den
“europäischen Sozialforen” lernen? Wäre eine Einmischung der
kerneuropäischen Zivilgesellschaft in ihre eigenen Angelegenheiten
ratsam? Sind Kriterien wie “links” oder “rechts” (vgl. zu deren
Aktualität Bobbio und Hobsbawm) zum Streit über eine potenzielle
Superfreihandelszone noch gültig? Summa summarum: gibt es
zivilgesellschaftliche Alternativen zu einem an seine Grenzen stoßenden
Dualismus von Vertiefung und Erweiterung?
Literaturhinweise:
BALIBAR, Étienne: Sind wir Bürger Europas? Hamburg (Hamburger Edition) 2003.
BIERBAUM, Heinz u.a.: Soziales Europa. Hamburg (VSA) 2001.
BOBBIO, Norberto: Rechts und Links. Berlin (Wagenbach) 1994.
BOLLE, Michael/JACOBSEN, Hanns-Dieter u.a.: Eurozone Enlargement. Berlin (BWV) 2002.
BRIE, André : Eingeschränkte Solidarität mit sich selbst. In : “Freitag” , No.34 / 2002.
EUROPÄISCHER KONVENT: Vertrag über eine Verfassung für Europa. Brüssel (Konvent) 2003 (Entwurf).
GLOTZ, Peter: Die letzte Chance für ein vereintes Europa. In : “Aus
Politik und Zeitgeschichte”, No. 1-2 / 2003. Kostenlos bei der
Bundeszentrale für politische Bildung (BzpB).
HABERMAS, Jürgen / DERRIDA, Jacques: Die Wiedergeburt Europas. In:
“Blätter für deutsche und internationale Politik” , No.7 / 2003.
JOHANSON, Karl M. / ZERVAKIS, Peter (Hg.): European Political Parties
between Cooperation and Integration. Baden-Baden (Nomos) 2002.
HOBSBAWM, Eric: Das Gesicht des 21.Jahrhunderts, München (Fischer) 2000.
KAGAN, Robert: Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen
Weltordnung. Bonn (Bundeszentrale) 2003. Kostenlos bei der BzpB.
NASSAUER, Otfried: Neubestimmung der Sicherheitspolitik im
euro-atlantischen Kontext. In: “Blätter für deutsche und internationale
Politik”, No. 8 / 2003.
OFFE, Claus : Herausforderungen der Demokratie. Frankfurt/M. (Campus) 2003.
OLDAG, Andreas / TILLACK, Hans-Martin: Raumschiff Brüssel. Berlin (Argon) 2003.
PIAZOLO, Daniel: Entwicklungsunterschiede innerhalb einer erweiterten
EU. In: “Aus Politik und Zeitgeschichte”, No. 1-2, 2002. Kostenlos bei
der BzpB.
RISSE, Thomas: Zur Debatte um die (Nicht-)Existenz einer europäischen
Öffentlichkeit. In: “Berliner Debatte Initial”, No. 13 / 2002.
THIBAUD, Paul: Was wird aus Europa ? In “Lettre International”, No. 62 /2003.
WEIDENFELD, Werner (Hg.): Europa-Handbuch. Bonn (Bundeszentrale) 2002. Kostenlos bei der BzpB.
|
| |