KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ReportKulturation 1/2004
Volker Gransow
Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn
Arbeitstagung in der Humboldt-Universität
Am 27. und 28. Februar 2004 tagte im Senatssaal der Humboldt-Universität Berlin (HU) die Arbeitskonferenz “Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn - wirtschaftliche und kulturelle Aspekte der neuen europäischen Situation”. Themen und Ort waren nicht grundlos gewählt, sondern durchaus im Blick auf die zum 1.Mai 2004 neben der Ausdehnung auf Malta und Zypern anstehende Osterweiterung der Europäischen Union (EU) zu verstehen. Eingeladen waren die etwa 180 Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer von der “KulturIniative 89", dem Institut für Europäische Ethnologie der HU und der Bundeszentrale für politische Bildung.

Die Veranstaltung wurde von Dietrich Mühlberg eröffnet, dem Vorsitzenden der KulturInitiative. Er führte aus, dass die Initiative - ein Kind des Herbstes 1989 - sich fast ein Jahr lang in Seminaren, Workshops und Einzelvorträgen intensiv mit den Deutschen und ihren östlichen Nachbarn befasst habe. Mit dieser Arbeitstagung sollten nun solche Aktivitäten noch einmal gebündelt werden. Wolfgang Kaschuba, Direktor des ebenfalls gastgebenden Instituts für Europäische Ethnologie der HU, sprach in seiner Begrüßungsrede von den vielfältigen kulturwissenschaftlichen Forschungen an seiner Einrichtung und teilte mit, dass mit der EU-Osterweiterung hier noch breitere Untersuchungen zu erwarten seien.

Ein erster Themenblock befaßte sich mit der “Veröstlichung der EU - Risiken und Chancen”.Raimund Krämer begann mit einem Vortrag über “die ostdeutschen Länder in der Europäischen Union”. Der Potsdamer Politologe zog eine Bilanz der “Europäisierung” Ostdeutschlands in den letzten 14 Jahren. Das Ergebnis fiel positiv aus, obwohl es an Schwierigkeiten nicht mangelte. Als “lesson to be learnt” bezeichnete Krämer die Notwendigkeit aktiver Akteure mit ausformulierten Interessen. Wilfried Spohn (z. Zt. Gastprofessor für Soziologie an der New School for Social Research und Mitglied des Instituts für Transformationsstudien an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder) referierte zur europäischen Ost-West-Integration und zu nationalen Identitäten. Er präsentierte eine Fülle von Ideen und Informationen, darunter Daten über Präferenzen gegenüber anderen Nationen in vier ostmitteleuropäischen Staaten. Die Hierarchie reicht von Amerikanern (besonders positiv) bis zu Sinti/Roma(eher negativ). Deutsche nehmen einen Mittelplatz ein. Der Berichterstatter gab einen Überblick über die Geschichte der EU von der Montanunion bis zur Osterweiterung und verglich die EU mit NAFTA, dem “North American Free Trade Agreement” von Kanada, Mexiko und den USA. Der Vergleich lief auf eine implizite Warnung vor einer durch Überdehnung auf eine Freihandelszone reduzierte EU hinaus. Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik (Berlin) befasste sich mit sozialen Konsequenzen und politischen Folgen des polnischen EU-Beitritts. Nüchtern berichtete er von Schwierigkeiten besonders in ländlichen Regionen Polens, wo sich die z. T. extrem hohe Arbeitslosigkeit leider noch weiter erhöhen könnte.

Nach diesen eher allgemeinen Beiträgen folgte der Vortrag von Stefan Krätke (Europa-Universität Viadrina Fankfurt/Oder) über “regionale Perspektiven der EU-Osterweiterung”. Aus wirtschaftsgeographischer Sicht wies Krätke überzeugend nach, wie stark die regionalen Bindungen zwischen Polen einerseits und den westdeutschen Zentren an Rhein und Ruhr sind. Das geographisch nähere Brandenburg hat hier einen gewaltigen Nachholbedarf. Reinhard Klein (Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Wirtschaftsförderungsgesellschaft TWG in Gorzow Wlkp.) erläuterte Mentalitätsunterschiede zwischen deutschen und polnischen Unternehmen. Baudirektor Michael Stoll von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (er vertrat dann auch seinen wegen einer Spendenaffäre terminlich verhinderten Chef, den Berliner SPD-Landesvorsitzenden und Senator Peter Strieder kompetent und eloquent) betonte die Chancen der westpolnischen Großstädte Posen, Breslau und besonders Stettin. Helmut Holter (Minister für Arbeit und Bau in Mecklenburg-Vorpommern) berichtete von den Anstrengungen seines Ministeriums, die aus dem deutschen Vorpommern und dem polnischen Hinterpommern bestehende Region Pommern wieder zusammenführen - nicht einfach angesichts der Strukturschwächen auf beiden Seiten der Oder. Das bestätigte sich auch in einer anschließenden Podiumsdiskussion, an der außer Krätke, Klein, Stoll und Holter auch Helga Schultz (Europa Universität Viadrina Frankfurt/Oder) und der polnische Botschaftsrat Tomasz Kalinowski teilnahmen.

“Kulturell Trennendes und Verbindendes” war das Thema des zweiten Beratungstages. Dieter Segert (Bundeszentrale für politische Bildung Bonn) betrachtete die ostmitteleuropäischen Gesellschaften als “postsozialistisch”, d.h. vor allem als durch das Erbe des Staatssozialismus geprägt. Tomasz Pszczólkowski (Institut für Germanistik der Universität Warschau) sprach von einer allmählichen Verbesserung des polnischen Deutschlandbildes. Teils journalistisch, teils literarisch beschäftigten sich mit dem gleichen Gegenstand Krzystof Wojciechowski (Poznan), Andrzej Stach (Berlin) und Holger Politt (Warschau). Über “subjektive Haltungen und Empfindungen zum Beitritt” berichteten Peter Niedermüller vom Institut für Europäische Ethnologie der HU, der Berliner Journalist und Buchautor Uwe Rada (“die tageszeitung”) und Michal Reimann (Karls-Universität Prag). Insgesamt wurde eine zunehmende Skepsis gegenüber der Erweiterung trotz grundsätzlich positiver Einstellung konstatiert.

Eine praktisch-kulturelle Ergänzung zum wissenschaftlichen Programm lieferte am Abend des 27. Februar der polnische Dichter Wiktor Winogradski, der in Zusammenarbeit mit Adam Gusowski (Saxophon), Jakub Paczkowski (Bass) und Tomasz Ziolkowski (Schlagzeug) eigene Texte zum “ganz normalen deutsch-polnischen Alltagswahnsinn in Berlin” rezitierte. Damit wurde gleichzeitig auf die Audio-CD der vier Künstler verwiesen, die unter dem Titel “autism” im “polnische versager verlag” erschienen ist.

Summa summarum läßt sich festhalten: eine Konferenz auf hohem Niveau mit z. T. absolut neuen Forschungsergebnissen. Polen war bei den Referaten sowie bei Teilnehmerinnen und Teilnehmern weit stärker vertreten als es der Titel der Tagung vermuten ließ. Die Konferenz war von Joseph Greilinger, Dietrich Mühlberg und anderen nahezu perfekt organisiert worden. Am Büchertisch fehlte die von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebene Beilage zum “Parlament” vom 2. Februar 2004 mit Beiträgen zur EU vor dem Beitritt von acht ostmitteleuropäischen Staaten. Dafür waren aber andere Publikationen wie etwa Raimund Krämers “Aktiv in Europa” (Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung) kostenlos zu erhalten. Eine Veröffentlichung fast aller Konferenzbeiträge in diesem Journal ist vorgesehen.