Report | Kulturation 1/2004 | Volker Gransow | Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn
Arbeitstagung in der Humboldt-Universität
| Am 27.
und 28. Februar 2004 tagte im Senatssaal der Humboldt-Universität
Berlin (HU) die Arbeitskonferenz “Die Deutschen und ihre östlichen
Nachbarn - wirtschaftliche und kulturelle Aspekte der neuen
europäischen Situation”. Themen und Ort waren nicht grundlos gewählt,
sondern durchaus im Blick auf die zum 1.Mai 2004 neben der Ausdehnung
auf Malta und Zypern anstehende Osterweiterung der Europäischen Union
(EU) zu verstehen. Eingeladen waren die etwa 180 Tagungsteilnehmerinnen
und -teilnehmer von der “KulturIniative 89", dem Institut für
Europäische Ethnologie der HU und der Bundeszentrale für politische
Bildung.
Die Veranstaltung wurde von Dietrich Mühlberg eröffnet, dem
Vorsitzenden der KulturInitiative. Er führte aus, dass die Initiative -
ein Kind des Herbstes 1989 - sich fast ein Jahr lang in Seminaren,
Workshops und Einzelvorträgen intensiv mit den Deutschen und ihren
östlichen Nachbarn befasst habe. Mit dieser Arbeitstagung sollten nun
solche Aktivitäten noch einmal gebündelt werden. Wolfgang Kaschuba,
Direktor des ebenfalls gastgebenden Instituts für Europäische
Ethnologie der HU, sprach in seiner Begrüßungsrede von den vielfältigen
kulturwissenschaftlichen Forschungen an seiner Einrichtung und teilte
mit, dass mit der EU-Osterweiterung hier noch breitere Untersuchungen
zu erwarten seien.
Ein erster Themenblock befaßte sich mit der “Veröstlichung der EU - Risiken und Chancen”.Raimund Krämer
begann mit einem Vortrag über “die ostdeutschen Länder in der
Europäischen Union”. Der Potsdamer Politologe zog eine Bilanz der
“Europäisierung” Ostdeutschlands in den letzten 14 Jahren. Das Ergebnis
fiel positiv aus, obwohl es an Schwierigkeiten nicht mangelte. Als
“lesson to be learnt” bezeichnete Krämer die Notwendigkeit aktiver
Akteure mit ausformulierten Interessen. Wilfried Spohn (z. Zt.
Gastprofessor für Soziologie an der New School for Social Research und
Mitglied des Instituts für Transformationsstudien an der
Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder) referierte zur
europäischen Ost-West-Integration und zu nationalen Identitäten. Er
präsentierte eine Fülle von Ideen und Informationen, darunter Daten
über Präferenzen gegenüber anderen Nationen in vier
ostmitteleuropäischen Staaten. Die Hierarchie reicht von Amerikanern
(besonders positiv) bis zu Sinti/Roma(eher negativ). Deutsche nehmen
einen Mittelplatz ein. Der Berichterstatter gab einen Überblick über
die Geschichte der EU von der Montanunion bis zur Osterweiterung und
verglich die EU mit NAFTA, dem “North American Free Trade Agreement”
von Kanada, Mexiko und den USA. Der Vergleich lief auf eine implizite
Warnung vor einer durch Überdehnung auf eine Freihandelszone reduzierte
EU hinaus. Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und
Politik (Berlin) befasste sich mit sozialen Konsequenzen und
politischen Folgen des polnischen EU-Beitritts. Nüchtern berichtete er
von Schwierigkeiten besonders in ländlichen Regionen Polens, wo sich
die z. T. extrem hohe Arbeitslosigkeit leider noch weiter erhöhen
könnte.
Nach diesen eher allgemeinen Beiträgen folgte der Vortrag von Stefan Krätke
(Europa-Universität Viadrina Fankfurt/Oder) über “regionale
Perspektiven der EU-Osterweiterung”. Aus wirtschaftsgeographischer
Sicht wies Krätke überzeugend nach, wie stark die regionalen Bindungen
zwischen Polen einerseits und den westdeutschen Zentren an Rhein und
Ruhr sind. Das geographisch nähere Brandenburg hat hier einen
gewaltigen Nachholbedarf. Reinhard Klein (Vorsitzender der
Deutsch-Polnischen Wirtschaftsförderungsgesellschaft TWG in Gorzow
Wlkp.) erläuterte Mentalitätsunterschiede zwischen deutschen und
polnischen Unternehmen. Baudirektor Michael Stoll von der
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (er vertrat dann auch seinen
wegen einer Spendenaffäre terminlich verhinderten Chef, den Berliner
SPD-Landesvorsitzenden und Senator Peter Strieder kompetent und
eloquent) betonte die Chancen der westpolnischen Großstädte Posen,
Breslau und besonders Stettin. Helmut Holter (Minister für
Arbeit und Bau in Mecklenburg-Vorpommern) berichtete von den
Anstrengungen seines Ministeriums, die aus dem deutschen Vorpommern und
dem polnischen Hinterpommern bestehende Region Pommern wieder
zusammenführen - nicht einfach angesichts der Strukturschwächen auf
beiden Seiten der Oder. Das bestätigte sich auch in einer
anschließenden Podiumsdiskussion, an der außer Krätke, Klein, Stoll und
Holter auch Helga Schultz (Europa Universität Viadrina Frankfurt/Oder) und der polnische Botschaftsrat Tomasz Kalinowski teilnahmen.
“Kulturell Trennendes und Verbindendes” war das Thema des zweiten Beratungstages. Dieter Segert
(Bundeszentrale für politische Bildung Bonn) betrachtete die
ostmitteleuropäischen Gesellschaften als “postsozialistisch”, d.h. vor
allem als durch das Erbe des Staatssozialismus geprägt. Tomasz Pszczólkowski
(Institut für Germanistik der Universität Warschau) sprach von einer
allmählichen Verbesserung des polnischen Deutschlandbildes. Teils
journalistisch, teils literarisch beschäftigten sich mit dem gleichen
Gegenstand Krzystof Wojciechowski (Poznan), Andrzej Stach (Berlin) und Holger Politt (Warschau). Über “subjektive Haltungen und Empfindungen zum Beitritt” berichteten Peter Niedermüller vom Institut für Europäische Ethnologie der HU, der Berliner Journalist und Buchautor Uwe Rada (“die tageszeitung”) und Michal Reimann
(Karls-Universität Prag). Insgesamt wurde eine zunehmende Skepsis
gegenüber der Erweiterung trotz grundsätzlich positiver Einstellung
konstatiert.
Eine praktisch-kulturelle Ergänzung zum wissenschaftlichen Programm lieferte am Abend des 27. Februar der polnische Dichter Wiktor Winogradski, der in Zusammenarbeit mit Adam Gusowski (Saxophon), Jakub Paczkowski (Bass) und Tomasz Ziolkowski
(Schlagzeug) eigene Texte zum “ganz normalen deutsch-polnischen
Alltagswahnsinn in Berlin” rezitierte. Damit wurde gleichzeitig auf die
Audio-CD der vier Künstler verwiesen, die unter dem Titel “autism” im
“polnische versager verlag” erschienen ist.
Summa summarum läßt sich festhalten: eine Konferenz auf hohem
Niveau mit z. T. absolut neuen Forschungsergebnissen. Polen war bei den
Referaten sowie bei Teilnehmerinnen und Teilnehmern weit stärker
vertreten als es der Titel der Tagung vermuten ließ. Die Konferenz war
von Joseph Greilinger, Dietrich Mühlberg und anderen nahezu perfekt
organisiert worden. Am Büchertisch fehlte die von der Bundeszentrale
für politische Bildung herausgegebene Beilage zum “Parlament” vom 2.
Februar 2004 mit Beiträgen zur EU vor dem Beitritt von acht
ostmitteleuropäischen Staaten. Dafür waren aber andere Publikationen
wie etwa Raimund Krämers “Aktiv in Europa” (Brandenburgische
Landeszentrale für politische Bildung) kostenlos zu erhalten. Eine
Veröffentlichung fast aller Konferenzbeiträge in diesem Journal ist
vorgesehen.
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