KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ReportKulturation 2014
Isolde Dietrich
Und wieder grüßt das Murmeltier
Ein Atlas zum 25. Jahrestag zeigt: Ostdeutschland ist abgehängt
Es war vorhersehbar. Pünktlich zum 25. Jahrestag der Maueröffnung ist das übliche Ritual angelaufen. Diesmal kam es der Ostbeauftragten der Bundesregierung Iris Gleicke zu, den Reigen zu eröffnen und die Erfolge beim „Aufbau Ost“ vorzustellen. Sie hatte hierzu bei einem An-Institut der Rostocker Universität einen Bericht in Auftrag gegeben, der nun vorliegt. Unter dem Titel Atlas der Industrialisierung der Neuen Bundesländer geben der Wirtschaftspädagoge Gerald Braun und sechs weitere Autoren Auskunft über die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands. Im Wesentlichen handelt es sich um die Kompilation höchst unterschiedlicher Materialien, die im Anhang summarisch genannt werden, ohne dass im Text im Einzelnen auf sie Bezug genommen wird. Das scheint gerechtfertigt, da es sich weniger um eine wissenschaftliche Arbeit, sondern vielmehr um eine Handreichung für Praktiker aus Politik und Wirtschaft handelt. Eine seriöse Studie hätte sicher das Budget der Auftraggeberin gesprengt und wäre auch nicht in der veranschlagten Zeit anzufertigen gewesen.

Um das Gewicht und den Charakter der Arbeit einordnen zu können, sind vielleicht die Modalitäten der Auftragsvergabe von Bedeutung. Selbstverständlich regelt so etwas die zuständige Behörde, in diesem Fall das Beschaffungsamt des Bundesministeriums des Inneren. Jenes Amt tritt als Anbieter öffentlicher Aufträge auf, da es für den Einkauf im gesamten Geschäftsbereich des Ministeriums verantwortlich ist. Angekauft werden Waren (von A wie Anlagentechnik bis Z wie Zelte) und Dienstleistungen aller Art (von Dachrinnenreinigung über Meinungsumfragen unter Muslimen bis eben zu einem Atlas der Industrialisierung der Neuen Bundesländer). Den Zuschlag erhält, wer die geforderte Leistung zu bringen verspricht und das wirtschaftlichste Angebot macht.

Das gelang offenbar dem Rostocker HIE-RO-Institut. Wie schön: Eine Ost-Universität berichtet über die Ost-Industrie. Die Mitarbeiter allerdings kommen nicht aus dem Osten, was man auch am leicht gönnerhaften Duktus und an diversen Petitessen merkt, die einem „einheimischen“ Autor nicht unterlaufen wären. Da ist etwa auf S. 38 von Agfa Wolfen die Rede, einem Unternehmen, das seit 1964 unter dem Warenzeichen ORWO firmierte und1970 Stammbetrieb des Fotochemischen Kombinates wurde. Dunkel bleiben zudem manche generalisierenden Aussagen, zum Beispiel die Mitteilung, „dass es in der DDR keine Innovationen… im heutigen Sinne gab“ (S. 100) oder - bezogen auf die medizinische Versorgung - : „Ostdeutschland war nach der Wiedervereinigung geprägt vom Staatseigentum Gesundheit…“ (S. 84). Originell und nicht ohne Komik dagegen: „Die Treuhand legte… den Grundstock für eine neue industrielle Basis Ostdeutschland(s).“ (S. 11). Den Totengräber zum Geburtshelfer umzudeuten, das hat schon was. Doch auf solche Details soll hier nicht weiter eingegangen werden.

Die von den Verfassern zu erbringende Dienstleistung war in der Ausschreibung wie folgt definiert: „Kern des Projektes ist eine fachlich fundierte Darstellung der industriellen Entwicklung der neuen Bundesländer einschließlich Berlins von der Wiedervereinigung bis heute sowie die voraussichtliche Entwicklung in den nächsten 10 – 15 Jahren. Bei diesem Projekt handelt es sich um eine wissenschaftliche Untersuchung, bei der die Darstellung grundsätzlich bekannter Trends und Entwicklungen mittels grafisch ansprechender Schaubilder im Vordergrund steht.“ Die Laufzeit des Projekts betrug sechs Monate.

Die Autoren haben geliefert, was bestellt und bezahlt wurde bzw. was in der Kürze der Zeit überhaupt zu leisten war. Inhaltlich ist daher nichts auszumachen, was nicht schon an anderer Stelle zu lesen war. Der Wert der vorliegenden Ausführungen besteht tatsächlich vor allem in der Aufbereitung übernommener, sonst nur verstreut zu findender Daten und Einschätzungen. Diese werden einerseits fünf großen Kapiteln zugeordnet: 1. Entwicklung der Industrie vom Ende der DDR bis heute, 2. Die ostdeutsche Industrie im internationalen Vergleich, 3. Regionale Besonderheiten der einzelnen ostdeutschen Bundesländer, 4. Entwicklung verschiedener Industrie- bzw. Wirtschaftsbranchen, 5. Perspektiven. Nächste Aufgaben und Ziele.

Zum anderen – darauf weist das Stichwort Atlas im Titel hin – werden wesentliche Aussagen visualisiert, d.h. in thematische Karten und andere grafische Darstellungen übertragen. Solche Atlanten gehören zum normalen Handwerkszeug aller Verwaltungen, ermöglichen sie doch auf einen Blick, regionale und lokale Schwerpunkte der Arbeit zu erkennen und Veränderungen zu verfolgen.

Auch Industrieatlanten haben eine lange Tradition, selbst solche, die das Territorium der DDR einschließen. Erinnert sei hier nur an „Ostdeutsche Wirtschaft“, eine Arbeit von Bruno Gleitze (DIW) aus dem Jahre 1955. Diese Veröffentlichung enthielt eine Vielzahl tabellarischer und grafischer Aussagen über die Kapazitäten und Standorte der ungeteilten deutschen Volkswirtschaft (von 1936) in ihren Teilbereichen bzw. neuen politischen Einheiten nach 1945/1949. Sie zeigte die Einbußen der westdeutschen Wirtschaft nach dem ersten und zweiten Weltkrieg. Ostdeutschland umfasste im damaligen bundesdeutschen Sprachgebrauch das sogenannte Mitteldeutschland bzw. die SBZ (die DDR) und die ehemaligen deutschen Ostprovinzen jenseits der Oder. Die seinerzeit erarbeiteten Schaubilder können immer noch Modell stehen. Vor allem liefern sie Vergleichsgrößen für die weitere Entwicklung. Gleitze hatte ausdrücklich auf die Brisanz seines Materials verwiesen, an dem die Auswirkungen künftiger politischer Entscheidungen über eine Wiedervereinigung Deutschlands zu messen seien. Solche Entscheidungen dürften „nicht fallen, ohne dass die Verantwortlichen sich dabei über die ökonomischen und sozialen Konsequenzen klar werden (Gleitze 1955, S. XIV) – eine Maßgabe, die in der Folge unbeachtet blieb.

Obwohl es seit 1949 ein eigenes „Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen“ (1969 umbenannt in „Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen“ mit 600 Mitarbeitern) gab, obwohl Georg Mende in den 60er Jahren sogar von einem „Bundesminister für Fragen der Wiedervereinigung“ sprach, obwohl es mit dem „Gesamtdeutschen Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Fragen“ mit 260 Mitarbeitern, diversen Osteuropa-Instituten und anderen Forschungseinrichtungen ein gewaltiges Potential an Spezialisten gab, gehörten solche Überlegungen offenbar nicht zu deren Aufgaben. Zumindest sind keine einschlägigen Untersuchungen bekannt geworden, auch nicht aus dem Kanzleramt.

Wenn nun ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des geteilten Deutschland eine Ostbeauftrage einen Atlas zur wirtschaftlichen Entwicklung der neuen Bundesländer erarbeiten lässt, ist das einerseits zu würdigen. Andererseits ist das ein Armutszeugnis für die bisherige Wirtschaftspolitik, denn eine solche Bestandsaufnahme hätte schon zu den Gründungsdokumenten der Einheit gehört. Die Folge der allgemeinen Ahnungslosigkeit und des praktizierten ziel- und planlosen Vorgehens formulierte Gerald Braun, der Leiter des Autorenteams vom „Atlas…“ recht drastisch: „80 Prozent der Förderpolitik können Sie in der Pfeife rauchen.“ Seiner Meinung nach werde die Wirtschaftspolitik hierzulande ohne hinreichende theoretische Basis betrieben.

Dieses Defizit kann nun nicht durch einen 6-Monats-Job relativ unbekannter Wissenschaftler behoben werden. Selbst und gerade für den praktischen wirtschaftspolitischen Gebrauch wären neben zuverlässigem statistischem Grundlagenmaterial fundierte Folgeabschätzungen nötig. Zum Vergleich: Bruno Gleitze standen seinerzeit fünf Jahre und eine ganze Abteilung des DIW zu Verfügung. Er hatte zudem umfangreiche Vorkenntnisse auf diesem Gebiet, denn er leitete von 1945 bis 1949 das Ostberliner Statistische Zentralamt (vormals Statistisches Reichsamt) mit 500 Mitarbeitern. Über den Status der heutigen Ostbeauftragten muss kein Wort verloren werden. Offenbar handelt es sich bei diesem Posten ohnehin um ein Placebo mit Alibifunktion. Die bisherigen Beauftragten waren allesamt einfluss- und glücklos in diesem Amte, agierten mehr im Verborgenen, ohne wirkliche Kompetenzen und ohne angemessene öffentliche Aufmerksamkeit. Der kleine mediale Rummel beim Vorstellen des jetzigen „Atlas“ war sicher eine Eintagsfliege und eher dem Jubiläumsdatum geschuldet, zu dem Vorzeigbares gebraucht wurde. Da musste Iris Gleicke für etwas einstehen, was sie nicht zu verantworten hat.

Auf die einzelnen Kapitel oder Abschnitte der Ausarbeitung kann nicht eingegangen werden, zumal den Leser meist nur „sein“ Bundesland und „seine“ Branche interessieren werden. Es kann hier also nur um die Gesamtanlage und um die allgemeine Perspektive gehen. In dieser Hinsicht werden mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Das beginnt schon beim Begriff „Industrialisierung“ in der Überschrift, der stutzig macht und im ersten Moment bei den neuen Ländern eher an eine Art mongolischer Steppe als an eine Region mit jahrhundertealter Industrietradition denken lässt. Der merkwürdige Titel dürfte aber nicht auf das Konto der Autoren, sondern auf das des Auftraggebers Beschaffungsamt gehen. Seltsamerweise existiert für kein westliches Bundesland ein solcher Atlas, jedenfalls nicht unter dieser Bezeichnung. Da gibt es diesen oder jenen Industrieatlas für einzelne Verwaltungsbezirke, mitunter laufend aktualisiert und interaktiv, aber keinen einzigen, der den Stand der „Industrialisierung“ anzeigt. Das suggeriert die Vorstellung, der Westen sei industrialisiert, der Osten begebe sich jetzt auf diesen Pfad, auch dort beginne nun die industrielle Produktion heimisch zu werden.

Im Text selbst wird dieser Eindruck korrigiert und darauf verwiesen, dass „Mitteldeutschland“ einst eine Kernregion der deutschen Industrie war, dass noch 1945 die sowjetische Besatzungszone stärker industrialisiert und durch Kampfhandlungen weniger in Mitleidenschaft gezogen war als die westlichen Zonen. Erst die Demontagen durch die Siegermacht Sowjetunion, die politische Trennung von Rohstoffquellen, Zulieferern und Absatzmärkten sowie die Verlagerung zahlreicher Firmenzentralen industrieller Großunternehmen samt wissenschaftlich-technischer Unterlagen und Fachpersonal in den Westen habe einen enormen Aderlass bewirkt. Vom Wieder- und Neuaufbau einer leistungsfähigen Industrie in Ostdeutschland ist dann allerdings kaum mehr die Rede. Ganz versteckt, häppchenweise und nebenbei wird zwar eingeräumt: „Beide Teile Deutschlands waren in ihren jeweiligen Systemen Prototyp fortgeschrittener Industriegesellschaften.“ (S. 12) Die DDR gehörte „in den 1980er Jahren zu den zehn größten Maschinenbauproduzenten der Welt“ (S. 76) Sogar ein „kleines Wirtschaftswunder“ wird den Land bescheinigt, „welches allerdings im Schatten des westdeutschen Wunders stand“ (S. 14). Solche Äußerungen bilden aber die Ausnahme, die nichts am Grundtenor der Darstellung ändern: „Die Wirtschaftsgeschichte der DDR ist die Geschichte eines… Niedergangs.“ (S. 14)

Es ist dies eine Behauptung, die sich zwar mit der Sicht des auftraggebenden Ministeriums decken dürfte, für die aber keinerlei Kriterien geliefert werden. Niedergang von welcher Höhe? Was ist hier die Vergleichsgröße? Der Vorkriegsstand von 1936, wie ihn Gleitze dargestellt hatte, der von 1945 bei Kriegsende, der von 1949 bei der Gründung der DDR, der von Mitte der 50er Jahre, als die Rekonstruktion der ostdeutschen Industrie im Wesentlichen abgeschlossen war? Diese Frage wird nur indirekt beantwortet, indem im Folgenden nur noch von Rückstand und Aufholjagd die Rede ist. Alleiniger Maßstab ist das vermeintlich erfolgreichere bundesdeutsche Modell. Kein Gedanke daran, dass dieses Modell, diese Art zu wirtschaften und zu leben, schon in der Welt von heute nicht mehrheitsfähig ist, viel weniger erst in Zukunft sein wird.

Die industriellen Leistungen von 40 Jahren DDR werden nahezu komplett ausgeblendet. Es ist keine Rede davon, dass sich das produzierte Nationaleinkommen zwischen 1950 und 1985 verachtfachte, woran die Industrie entscheidenden Anteil hatte. (Nebenbei: Man darf gespannt darauf sein, welche Wachstumsraten nach 35 Jahren deutscher Einheit aus dem Osten gemeldet werden.) Kurz, die Ausgangslage von 1989/90 wird unterschlagen. Stattdessen gelingt das Kunststück, die Industrialisierung Ostdeutschlands nach 1990 wieder neu einsetzen zu lassen – zum dritten Mal innerhalb von 200 Jahren. Man fühlt sich an Sisyphos erinnert, jene Gestalt der griechischen Mythologie, die wegen ihres renitenten Verhaltens dazu verurteilt war, einen Felsblock den Berg hinauf zu wälzen. Immer wenn Sisyphos ihn fast oben hatte, überwältigte ihn der gewaltige Stein und rollte an den Fuß des Berges zurück. Es war vergebliche Mühe, der Held musste von neuem beginnen. So haben offenbar Generationen Ostdeutscher nach 1840, nach 1945 und nach 1990 mehrmals von vorne angefangen, die Industrialisierung auf den Weg zu bringen.

Der Atlas macht allerdings überdeutlich, was er verschweigt. Er müsste darum korrekterweise „Atlas der Deindustrialisierung“ heißen. Warum gibt es keine Angaben, keine Tabellen, keine Schaubilder zum Stand bei der Wiedervereinigung? Laut Projektausschreibung war das doch verlangt. Dann wäre das Ausmaß der Zerstörung der ostdeutschen Industrie sofort sichtbar geworden und auch die thematischen Karten zur gegenwärtigen Situation würden an Aussagekraft gewinnen. So bleibt es bei der Suche nach Erklärungen, weshalb Ostdeutschlands Industrie auch ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall nicht wieder auf die Beine gekommen ist.

Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hatte 1992 in Schwerin versprochen, er werde die Betriebe in den neuen Ländern „nicht absaufen lassen“, sondern dafür sorgen, dass nach dem „Zusammenbruch“ weiter Teile der ostdeutschen Industrie der Staat nun als Sanierer tätig und beim Erschließen neuer Märkte helfen werde. Das Gegenteil trat ein. Der Übergang von einer staatlichen Planwirtschaft zu einer Wirtschaft ohne Plan führte zu einer beispiellosen und flächendeckenden Vernichtung dieses Industriestandortes. Die industrielle Produktion kam nahezu zum Erliegen. Wenn nun nach über zwei Jahrzehnten eine vereinzelte, kleinteilige und zaghafte Reindustrialisierung konstatiert wird, ist dies wahrlich kein Ruhmesblatt für eine Industriepolitik, die diesen Namen verdient. Alle Berichte über Hoffnungsträger, Leuchtturmprojekte, gar über heimliche Weltmarktführer und sonstige Erfolgsgeschichten bleiben „Geschichten aus der Murkelei“.

Die Grundtendenz des „Atlas“ wird schon in der allerersten Überschrift erkennbar. Es geht den Autoren darum, zu zeigen, wie mittels der ostdeutschen Industrie der wirtschaftliche Abstand zu Westdeutschland verringert werden kann. So sind dann auch die am häufigsten verwendeten Begriffe, mit denen der Osten charakterisiert wird: Rückstand, Abstand, Defizit, Mangel, Schwäche, Fehlen, gering, klein, schwach, negativ usw. Geradezu fahrlässig wird mit Zahlen umgegangen, etwa was die Arbeitsproduktivität und andere Kennziffern angeht. Dies mag mit dem disparaten Basismaterial zusammenhängen, das ausgewertet wurde. Und es ist von einer anhaltenden Aufholjagd die Rede (S. 30). (Das DIW kommt zu einem anderen Ergebnis – der Aufholprozess sei längst zum Stillstand gekommen bzw. er schleiche nur noch, sagen die dortigen Experten.) Dabei wären vielleicht Innehalten und Kurskorrektur angesagt. Wenn über zwei Jahrzehnte dem Westen erfolglos hinterhergehechelt wurde, ist doch zu fragen, ob dies der richtige Weg ist. Denn an den Koordinaten wird sich nichts ändern.

Stattdessen werden von neuem die altbekannten Losungen ausgegeben: mehr Investitionen, mehr Export, mehr Innovationen, mehr Forschung- und Entwicklung – überhaupt mehr Geld, mehr Ideen und vor allem mehr Geduld! Aber wer sollte warum im Osten investieren? Welcher Konzern sollte weshalb seine Zentrale dorthin verlagern? Wie sollten kleine und mittlere Ostunternehmen neue Märkte erobern und nennenswerte Exportquoten erreichen?

Die deutsche Wirtschaft boomt, aus dem Anschluss des Ostens ist der Westindustrie kein Schaden entstanden. Im Gegenteil, es sind ihr keine Konkurrenten, dafür aber millionenfach neue Fachkräfte und neue Konsumenten zugewachsen. Kapazitäten konnten endlich voll ausgelastet oder sogar noch erweitert werden, weil all die ostdeutschen Zuwanderer und Pendler, die nicht einmal Sprachkurse und andere Integrationsmaßnahmen brauchten, zur Verfügung standen und stehen, und weil die neuen Märkte den Absatz sichern. Der Aufbau Ost sorgte für den Ausbau West. Ein besseres Konjunkturprogramm hätte es für die westdeutsche Wirtschaft gar nicht geben können. Wer solche Positionen aufgäbe, würde gegen seine eigenen Interessen und gegen die wirtschaftliche Vernunft handeln.

Eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung einschließlich einer Kosten-Nutzen-Analyse der deutschen Einheit steht aus – sicher aus gutem Grund. Das ehrenwerte Motiv der selbstlosen Hilfe für den Osten könnte bezweifelt werden. Über die geschätzten Folgekosten der Einheit in Höhe von zwei Billionen Euro wird allenthalben lamentiert. Über den Gewinn hört man nichts. Angeblich sei er rein ideeller Natur, nicht zu beziffern, da er in der Freiheit der Menschen und in der Einheit des Vaterlandes bestehe. Die dürften sich aber längst auch „gerechnet“ haben. Wer aufmerksam die Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes liest, kann die Bewegung des Reichtums verfolgen.

Die von den Autoren des Atlas gegebenen Empfehlungen, wie die Leistungsfähigkeit der Ostunternehmen zu steigern sei, bewegen sich allgemein im bekannten Rahmen. Mitunter sind sie aber direkt abenteuerlich. Da wird allen Ernstes der Rat gegeben, „einfache Fertigungen mit niedrigen Wertschöpfungsstufen ins Ausland (zu) verlagern und sich auf wertschöpfungsintensive Dienstleistungen und Produktionsverfahren am Standort Deutschland (zu) spezialisieren“ (S. 42). Sicher ist die Konzentration auf wissensbasierte und innovative Aufgaben der richtige Weg. Aber der Vorschlag, einfache Massenproduktionen ins billigere Ausland zu verlagern, kommt wohl doch etwas aus der Mottenkiste.

In einer Zeit, in der die vierte industrielle Revolution eingeläutet wurde, in der alle Welt von Industrie 4.0 und von der smarten Fabrik spricht, sollte auch im Osten nicht zurück, sondern nach vorn geschaut werden. Osteuropa und Asien dürften die längste Zeit das Billiglohnparadies gewesen sein, als das sie immer noch gelten. Auch dort wird seit geraumer Zeit die Fabrik der Zukunft vorbereitet, in der Maschinen mit Maschinen kommunizieren, in der intelligente Bauteile und Maschinen selbst wissen, welche Fertigungsprozesse wann wo zu durchlaufen sind, in der nicht gleichartige Massenproduktion, sondern auf die individuellen Ansprüche der jeweiligen Kunden zugeschnittene Fertigung im Vordergrund steht. Takt und Band haben dann ausgedient, damit auch die ach so billigen Bandarbeiter. Darauf heute noch ein wirtschaftspolitisches Konzept zu bauen, könnte bedeuten, den technischen Fortschritt zu verschlafen.

Ein Wort noch zu den Grundlinien der künftigen Wirtschaftspolitik für Ostdeutschland, wie sie von den Autoren des Atlas skizziert werden. Es war schon auf die Kritik Gerald Brauns verwiesen worden, dass wirtschaftspolitischen Maßnahmen oft der nötige theoretische Unterbau fehle. Eine bloße Beschreibung der ostdeutschen Bedingungen könne dies nicht wettmachen. Da müsse eine gute Theorie her. Als Kronzeugen für eine solche wissenschaftliche Fundierung werden von Braun vor allem zwei US-amerikanische Ökonomen herangezogen: Michael Porter und Richard Florida. Den vorgestellten Modellen kann man gedanklich folgen. Sie liefern Beiträge, um in die Diskussion zu kommen und die beklagte Theorielosigkeit zu beheben. Das Nonplusultra stellen sie gewiss nicht dar. Zumindest wäre anzumerken, dass die Positionen beider Wissenschaftler höchst umstritten sind. Porters Ansatz, mit dem die Wettbewerbsfähigkeit einer Region auszumachen und zu verbessern sei, wird wegen seiner Banalität kritisiert. Er lasse sich nur für einfache, stabile Märkte anwenden, sei aber ungeeignet für die heutigen komplexen und dynamischen Märkte. Florida wird vorgehalten, seine unrealistische Politikberatung (die Betonung der „kreativen Klasse“) sei mit dafür verantwortlich, dass Großbritanniens Industriesektor in den letzten 30 Jahren um zwei Drittel geschrumpft sei. Ob dies zutreffend ist, sei dahingestellt. Auch in Deutschland wird die Tertiarisierung der Volkswirtschaft weiter voranschreiten – nicht wegen falscher Politikberatung, sondern infolge des technischen Fortschritts. Dabei wird die Industrie ihre Funktion als Motor der Entwicklung behalten, zumal die Grenzen zwischen klassischer Industrie und industriellen bzw. industrienahen Dienstleistungen bereits seit längerem im Schwinden begriffen sind.

Negative Folgen der vorgestellten theoretischen Konzepte werden hierzulande nicht zu befürchten sein. Jedenfalls dürften sie nicht von dem vorgelegten Atlas ausgehen. Die Praktiker aus Politik und Wirtschaft werden weder aus „Porters Diamantmodell“ noch aus Floridas Thesen voreilige Schlüsse für die Förderpolitik ziehen. Spätestens wenn sie lesen, dass in Frankfurt am Main die größte Konzentration der vielzitierten „kreativen Köpfe“ lebt, weil hier die meisten Banken und Banker ansässig sind, werden sie abwinken. Das ist bedauerlich, weil die Überlegungen durchaus Bedenkenswertes enthalten.

Was bleibt nach der Lektüre? Insider werden sicher wichtige Informationen gefunden haben. Dem Laien wird sich vor allem eines eingeprägt haben: die gute alte, fast schon vergessene DDR-Karte, die hier fröhliche Urständ feiert. Richtig vergessen konnte man sie auch bisher nicht. Schließlich haben die Medien mittels solcher Karten den Ostdeutschen seit über zwei Jahrzehnten vorgeführt, was sie für Mängelwesen sind. Ganz gleich, ob es um Ausländerfeinde, Nichtwähler, Nichtsparer, Arbeitslose, Niedriglöhner, Aufstocker, Abwanderer, Pendler, Mieter, Plattenbaubewohner, Konfessionslose, Alte, in „wilder Ehe“ Lebende, Rabenmütter, Alleinerziehende, uneheliche Kinder, Abtreibende, Übergewichtige, Raucher, Alkoholtote, anonym Bestattete oder ähnliche Problemgruppen ging – die neuen Bundesländer erreichten überall Spitzenwerte. Die ostdeutschen Landstriche waren stets in alarmierendem Tiefrot eingefärbt. Das hat die Wahrnehmung geprägt, so dass beim Anblick solcher Karten inzwischen von vornherein ein Negativbefund erwartet wird. Nach der Lektüre des vorliegenden Atlas wissen wir nun auch, dass Ostdeutschland kein Industriemagnet ist, dass es dort die niedrigste Arbeitsproduktivität, die wenigsten Unternehmensgründungen, die geringsten Investitions-, Innovations- und Exportquoten, die wenigsten Patentanmeldungen usw. gibt. Die Autoren haben zwar in den Text immer wieder aufmunternde, lobende, tröstende und Zuversicht spendende Worte für die ach so gut ausgebildeten, leistungsbereiten und hochmotivierten Ostdeutschen eingeflochten. Die haben das Gesamtbild aber nur noch schärfer konturiert: Die sogenannten neuen Länder sind abgehängt und bleiben es.

Vielleicht ist das Ganze nur eine Frage der Perspektive. Wenn man den Ostdeutschen zum 25. Jahrestag des Mauerfalls oder der deutschen Einheit etwas sagen will, das sie aufbaut und mit ihrem Schicksal versöhnt, sollte man nicht mit Wirtschaftsdaten, nicht mit schnöden Zahlen kommen. Man könnte sie doch einfach – in Anlehnung an Albert Camus – zu glücklichen Menschen erklären. Der meinte nämlich vor über 70 Jahren: “Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Die Analogie zu den Ostdeutschen drängt sich geradezu auf. Viele haben das Gefühl, sich in ihrem Leben sinnlos angestrengt, aufgerieben und abgerackert zu haben und dies immer noch zu tun, eine wahre Sisyphosarbeit auf sich geladen zu haben, am Ende aber doch erfolglos zu sein und mit leeren Händen da zu stehen, und dies seit Generationen.

Denen könnte man sagen, ihr Glück bestand in der Anstrengung selbst, im beharrlichen Ringen mit Widerständen und Schwierigkeiten. Es bestand darin, einer Tätigkeit nachgegangen zu sein, worin sie sich inmitten von Sorgen und Problemen bejaht und bestätigt fühlen konnten, darin, Ziele gehabt zu haben, die der Anstrengung wert waren, Dinge geschafft zu haben, die man unbedingt erreichen wollte oder die einfach getan werden mussten. Nicht zufällig spann der Lyriker Günter Kunert 1992 den antiken Mythos weiter. Bei ihm bleibt der Stein schließlich auf dem Gipfel liegen, worauf Sisyphos nur kurz triumphiert und seinen Sieg genießt, den Stein dann aber selbst wieder in die Tiefe hinabstößt, weil er das Nichtstun nicht aushält, ihm sonst aber keiner Arbeit zu geben vermag. Die Kunertsche Wende ist vielleicht angesichts des Arbeitslosenheeres in den neuen Bundesländern für eine Jubiläumsrede nicht so geeignet, aber mit den „glücklichen Ostdeutschen“ à la Camus könnte man es zum 25. Jahrestag des Mauerfalls doch einmal versuchen.

Der "Atlas" ist über das Büro der Bundesbeauftragten für die Neuen Länder als PDF abrufbar

http://www.beauftragte-neue-laender.de/BNL/Redaktion/DE/Standardartikel/atlas_der_industrialisierung_der_neuen_bundeslaender.html