Report | Kulturation 2014 | Isolde Dietrich | Und wieder grüßt das Murmeltier
Ein Atlas zum 25. Jahrestag zeigt: Ostdeutschland ist abgehängt
| Es war
vorhersehbar. Pünktlich zum 25. Jahrestag der Maueröffnung ist das
übliche Ritual angelaufen. Diesmal kam es der Ostbeauftragten der
Bundesregierung Iris Gleicke zu, den Reigen zu eröffnen und die Erfolge
beim „Aufbau Ost“ vorzustellen. Sie hatte hierzu bei einem An-Institut
der Rostocker Universität einen Bericht in Auftrag gegeben, der nun
vorliegt. Unter dem Titel Atlas der Industrialisierung der Neuen Bundesländer geben
der Wirtschaftspädagoge Gerald Braun und sechs weitere Autoren Auskunft
über die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands. Im Wesentlichen
handelt es sich um die Kompilation höchst unterschiedlicher
Materialien, die im Anhang summarisch genannt werden, ohne dass im Text
im Einzelnen auf sie Bezug genommen wird. Das scheint gerechtfertigt,
da es sich weniger um eine wissenschaftliche Arbeit, sondern vielmehr
um eine Handreichung für Praktiker aus Politik und Wirtschaft handelt.
Eine seriöse Studie hätte sicher das Budget der Auftraggeberin
gesprengt und wäre auch nicht in der veranschlagten Zeit anzufertigen
gewesen.
Um das Gewicht und den Charakter der Arbeit einordnen zu
können, sind vielleicht die Modalitäten der Auftragsvergabe von
Bedeutung. Selbstverständlich regelt so etwas die zuständige Behörde,
in diesem Fall das Beschaffungsamt des Bundesministeriums des Inneren.
Jenes Amt tritt als Anbieter öffentlicher Aufträge auf, da es für den
Einkauf im gesamten Geschäftsbereich des Ministeriums verantwortlich
ist. Angekauft werden Waren (von A wie Anlagentechnik bis Z wie Zelte)
und Dienstleistungen aller Art (von Dachrinnenreinigung über
Meinungsumfragen unter Muslimen bis eben zu einem Atlas der
Industrialisierung der Neuen Bundesländer). Den Zuschlag erhält, wer
die geforderte Leistung zu bringen verspricht und das wirtschaftlichste
Angebot macht.
Das gelang offenbar dem Rostocker HIE-RO-Institut. Wie schön:
Eine Ost-Universität berichtet über die Ost-Industrie. Die Mitarbeiter
allerdings kommen nicht aus dem Osten, was man auch am leicht
gönnerhaften Duktus und an diversen Petitessen merkt, die einem
„einheimischen“ Autor nicht unterlaufen wären. Da ist etwa auf S. 38
von Agfa Wolfen die Rede, einem Unternehmen, das seit 1964 unter dem
Warenzeichen ORWO firmierte und1970 Stammbetrieb des Fotochemischen
Kombinates wurde. Dunkel bleiben zudem manche generalisierenden
Aussagen, zum Beispiel die Mitteilung, „dass es in der DDR keine
Innovationen… im heutigen Sinne gab“ (S. 100) oder - bezogen auf die
medizinische Versorgung - : „Ostdeutschland war nach der
Wiedervereinigung geprägt vom Staatseigentum Gesundheit…“ (S. 84).
Originell und nicht ohne Komik dagegen: „Die Treuhand legte… den
Grundstock für eine neue industrielle Basis Ostdeutschland(s).“ (S.
11). Den Totengräber zum Geburtshelfer umzudeuten, das hat schon was.
Doch auf solche Details soll hier nicht weiter eingegangen werden.
Die von den Verfassern zu erbringende Dienstleistung war in
der Ausschreibung wie folgt definiert: „Kern des Projektes ist eine
fachlich fundierte Darstellung der industriellen Entwicklung der neuen
Bundesländer einschließlich Berlins von der Wiedervereinigung bis heute
sowie die voraussichtliche Entwicklung in den nächsten 10 – 15 Jahren.
Bei diesem Projekt handelt es sich um eine wissenschaftliche
Untersuchung, bei der die Darstellung grundsätzlich bekannter Trends
und Entwicklungen mittels grafisch ansprechender Schaubilder im
Vordergrund steht.“ Die Laufzeit des Projekts betrug sechs Monate.
Die Autoren haben geliefert, was bestellt und bezahlt wurde
bzw. was in der Kürze der Zeit überhaupt zu leisten war. Inhaltlich ist
daher nichts auszumachen, was nicht schon an anderer Stelle zu lesen
war. Der Wert der vorliegenden Ausführungen besteht tatsächlich vor
allem in der Aufbereitung übernommener, sonst nur verstreut zu
findender Daten und Einschätzungen. Diese werden einerseits fünf großen
Kapiteln zugeordnet: 1. Entwicklung der Industrie vom Ende der DDR bis
heute, 2. Die ostdeutsche Industrie im internationalen Vergleich, 3.
Regionale Besonderheiten der einzelnen ostdeutschen Bundesländer, 4.
Entwicklung verschiedener Industrie- bzw. Wirtschaftsbranchen, 5.
Perspektiven. Nächste Aufgaben und Ziele.
Zum anderen – darauf weist das Stichwort Atlas im Titel hin –
werden wesentliche Aussagen visualisiert, d.h. in thematische Karten
und andere grafische Darstellungen übertragen. Solche Atlanten gehören
zum normalen Handwerkszeug aller Verwaltungen, ermöglichen sie doch auf
einen Blick, regionale und lokale Schwerpunkte der Arbeit zu erkennen
und Veränderungen zu verfolgen.
Auch Industrieatlanten haben eine lange Tradition, selbst
solche, die das Territorium der DDR einschließen. Erinnert sei hier nur
an „Ostdeutsche Wirtschaft“, eine Arbeit von Bruno Gleitze (DIW) aus
dem Jahre 1955. Diese Veröffentlichung enthielt eine Vielzahl
tabellarischer und grafischer Aussagen über die Kapazitäten und
Standorte der ungeteilten deutschen Volkswirtschaft (von 1936) in ihren
Teilbereichen bzw. neuen politischen Einheiten nach 1945/1949. Sie
zeigte die Einbußen der westdeutschen Wirtschaft nach dem ersten und
zweiten Weltkrieg. Ostdeutschland umfasste im damaligen bundesdeutschen
Sprachgebrauch das sogenannte Mitteldeutschland bzw. die SBZ (die DDR)
und die ehemaligen deutschen Ostprovinzen jenseits der Oder. Die
seinerzeit erarbeiteten Schaubilder können immer noch Modell stehen.
Vor allem liefern sie Vergleichsgrößen für die weitere Entwicklung.
Gleitze hatte ausdrücklich auf die Brisanz seines Materials verwiesen,
an dem die Auswirkungen künftiger politischer Entscheidungen über eine
Wiedervereinigung Deutschlands zu messen seien. Solche Entscheidungen
dürften „nicht fallen, ohne dass die Verantwortlichen sich dabei über
die ökonomischen und sozialen Konsequenzen klar werden (Gleitze 1955,
S. XIV) – eine Maßgabe, die in der Folge unbeachtet blieb.
Obwohl es seit 1949 ein eigenes „Bundesministerium für
gesamtdeutsche Fragen“ (1969 umbenannt in „Bundesministerium für
innerdeutsche Beziehungen“ mit 600 Mitarbeitern) gab, obwohl Georg
Mende in den 60er Jahren sogar von einem „Bundesminister für Fragen der
Wiedervereinigung“ sprach, obwohl es mit dem „Gesamtdeutschen Institut
– Bundesanstalt für gesamtdeutsche Fragen“ mit 260 Mitarbeitern,
diversen Osteuropa-Instituten und anderen Forschungseinrichtungen ein
gewaltiges Potential an Spezialisten gab, gehörten solche Überlegungen
offenbar nicht zu deren Aufgaben. Zumindest sind keine einschlägigen
Untersuchungen bekannt geworden, auch nicht aus dem Kanzleramt.
Wenn nun ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des geteilten
Deutschland eine Ostbeauftrage einen Atlas zur wirtschaftlichen
Entwicklung der neuen Bundesländer erarbeiten lässt, ist das einerseits
zu würdigen. Andererseits ist das ein Armutszeugnis für die bisherige
Wirtschaftspolitik, denn eine solche Bestandsaufnahme hätte schon zu
den Gründungsdokumenten der Einheit gehört. Die Folge der allgemeinen
Ahnungslosigkeit und des praktizierten ziel- und planlosen Vorgehens
formulierte Gerald Braun, der Leiter des Autorenteams vom „Atlas…“
recht drastisch: „80 Prozent der Förderpolitik können Sie in der Pfeife
rauchen.“ Seiner Meinung nach werde die Wirtschaftspolitik hierzulande
ohne hinreichende theoretische Basis betrieben.
Dieses Defizit kann nun nicht durch einen 6-Monats-Job
relativ unbekannter Wissenschaftler behoben werden. Selbst und gerade
für den praktischen wirtschaftspolitischen Gebrauch wären neben
zuverlässigem statistischem Grundlagenmaterial fundierte
Folgeabschätzungen nötig. Zum Vergleich: Bruno Gleitze standen
seinerzeit fünf Jahre und eine ganze Abteilung des DIW zu Verfügung. Er
hatte zudem umfangreiche Vorkenntnisse auf diesem Gebiet, denn er
leitete von 1945 bis 1949 das Ostberliner Statistische Zentralamt
(vormals Statistisches Reichsamt) mit 500 Mitarbeitern. Über den Status
der heutigen Ostbeauftragten muss kein Wort verloren werden. Offenbar
handelt es sich bei diesem Posten ohnehin um ein Placebo mit
Alibifunktion. Die bisherigen Beauftragten waren allesamt einfluss- und
glücklos in diesem Amte, agierten mehr im Verborgenen, ohne wirkliche
Kompetenzen und ohne angemessene öffentliche Aufmerksamkeit. Der kleine
mediale Rummel beim Vorstellen des jetzigen „Atlas“ war sicher eine
Eintagsfliege und eher dem Jubiläumsdatum geschuldet, zu dem
Vorzeigbares gebraucht wurde. Da musste Iris Gleicke für etwas
einstehen, was sie nicht zu verantworten hat.
Auf die einzelnen Kapitel oder Abschnitte der Ausarbeitung
kann nicht eingegangen werden, zumal den Leser meist nur „sein“
Bundesland und „seine“ Branche interessieren werden. Es kann hier also
nur um die Gesamtanlage und um die allgemeine Perspektive gehen. In
dieser Hinsicht werden mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Das
beginnt schon beim Begriff „Industrialisierung“ in der Überschrift, der
stutzig macht und im ersten Moment bei den neuen Ländern eher an eine
Art mongolischer Steppe als an eine Region mit jahrhundertealter
Industrietradition denken lässt. Der merkwürdige Titel dürfte aber
nicht auf das Konto der Autoren, sondern auf das des Auftraggebers
Beschaffungsamt gehen. Seltsamerweise existiert für kein westliches
Bundesland ein solcher Atlas, jedenfalls nicht unter dieser
Bezeichnung. Da gibt es diesen oder jenen Industrieatlas für einzelne
Verwaltungsbezirke, mitunter laufend aktualisiert und interaktiv, aber
keinen einzigen, der den Stand der „Industrialisierung“ anzeigt. Das
suggeriert die Vorstellung, der Westen sei industrialisiert, der Osten
begebe sich jetzt auf diesen Pfad, auch dort beginne nun die
industrielle Produktion heimisch zu werden.
Im Text selbst wird dieser Eindruck korrigiert und darauf
verwiesen, dass „Mitteldeutschland“ einst eine Kernregion der deutschen
Industrie war, dass noch 1945 die sowjetische Besatzungszone stärker
industrialisiert und durch Kampfhandlungen weniger in Mitleidenschaft
gezogen war als die westlichen Zonen. Erst die Demontagen durch die
Siegermacht Sowjetunion, die politische Trennung von Rohstoffquellen,
Zulieferern und Absatzmärkten sowie die Verlagerung zahlreicher
Firmenzentralen industrieller Großunternehmen samt
wissenschaftlich-technischer Unterlagen und Fachpersonal in den Westen
habe einen enormen Aderlass bewirkt. Vom Wieder- und Neuaufbau einer
leistungsfähigen Industrie in Ostdeutschland ist dann allerdings kaum
mehr die Rede. Ganz versteckt, häppchenweise und nebenbei wird zwar
eingeräumt: „Beide Teile Deutschlands waren in ihren jeweiligen
Systemen Prototyp fortgeschrittener Industriegesellschaften.“ (S. 12)
Die DDR gehörte „in den 1980er Jahren zu den zehn größten
Maschinenbauproduzenten der Welt“ (S. 76) Sogar ein „kleines
Wirtschaftswunder“ wird den Land bescheinigt, „welches allerdings im
Schatten des westdeutschen Wunders stand“ (S. 14). Solche Äußerungen
bilden aber die Ausnahme, die nichts am Grundtenor der Darstellung
ändern: „Die Wirtschaftsgeschichte der DDR ist die Geschichte eines…
Niedergangs.“ (S. 14)
Es ist dies eine Behauptung, die sich zwar mit der Sicht des
auftraggebenden Ministeriums decken dürfte, für die aber keinerlei
Kriterien geliefert werden. Niedergang von welcher Höhe? Was ist hier
die Vergleichsgröße? Der Vorkriegsstand von 1936, wie ihn Gleitze
dargestellt hatte, der von 1945 bei Kriegsende, der von 1949 bei der
Gründung der DDR, der von Mitte der 50er Jahre, als die Rekonstruktion
der ostdeutschen Industrie im Wesentlichen abgeschlossen war? Diese
Frage wird nur indirekt beantwortet, indem im Folgenden nur noch von
Rückstand und Aufholjagd die Rede ist. Alleiniger Maßstab ist das
vermeintlich erfolgreichere bundesdeutsche Modell. Kein Gedanke daran,
dass dieses Modell, diese Art zu wirtschaften und zu leben, schon in
der Welt von heute nicht mehrheitsfähig ist, viel weniger erst in
Zukunft sein wird.
Die industriellen Leistungen von 40 Jahren DDR werden nahezu
komplett ausgeblendet. Es ist keine Rede davon, dass sich das
produzierte Nationaleinkommen zwischen 1950 und 1985 verachtfachte,
woran die Industrie entscheidenden Anteil hatte. (Nebenbei: Man darf
gespannt darauf sein, welche Wachstumsraten nach 35 Jahren deutscher
Einheit aus dem Osten gemeldet werden.) Kurz, die Ausgangslage von
1989/90 wird unterschlagen. Stattdessen gelingt das Kunststück, die
Industrialisierung Ostdeutschlands nach 1990 wieder neu einsetzen zu
lassen – zum dritten Mal innerhalb von 200 Jahren. Man fühlt sich an
Sisyphos erinnert, jene Gestalt der griechischen Mythologie, die wegen
ihres renitenten Verhaltens dazu verurteilt war, einen Felsblock den
Berg hinauf zu wälzen. Immer wenn Sisyphos ihn fast oben hatte,
überwältigte ihn der gewaltige Stein und rollte an den Fuß des Berges
zurück. Es war vergebliche Mühe, der Held musste von neuem beginnen. So
haben offenbar Generationen Ostdeutscher nach 1840, nach 1945 und nach
1990 mehrmals von vorne angefangen, die Industrialisierung auf den Weg
zu bringen.
Der Atlas macht allerdings überdeutlich, was er verschweigt.
Er müsste darum korrekterweise „Atlas der Deindustrialisierung“ heißen.
Warum gibt es keine Angaben, keine Tabellen, keine Schaubilder zum
Stand bei der Wiedervereinigung? Laut Projektausschreibung war das doch
verlangt. Dann wäre das Ausmaß der Zerstörung der ostdeutschen
Industrie sofort sichtbar geworden und auch die thematischen Karten zur
gegenwärtigen Situation würden an Aussagekraft gewinnen. So bleibt es
bei der Suche nach Erklärungen, weshalb Ostdeutschlands Industrie auch
ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall nicht wieder auf die Beine
gekommen ist.
Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hatte 1992 in Schwerin
versprochen, er werde die Betriebe in den neuen Ländern „nicht absaufen
lassen“, sondern dafür sorgen, dass nach dem „Zusammenbruch“ weiter
Teile der ostdeutschen Industrie der Staat nun als Sanierer tätig und
beim Erschließen neuer Märkte helfen werde. Das Gegenteil trat ein. Der
Übergang von einer staatlichen Planwirtschaft zu einer Wirtschaft ohne
Plan führte zu einer beispiellosen und flächendeckenden Vernichtung
dieses Industriestandortes. Die industrielle Produktion kam nahezu zum
Erliegen. Wenn nun nach über zwei Jahrzehnten eine vereinzelte,
kleinteilige und zaghafte Reindustrialisierung konstatiert wird, ist
dies wahrlich kein Ruhmesblatt für eine Industriepolitik, die diesen
Namen verdient. Alle Berichte über Hoffnungsträger, Leuchtturmprojekte,
gar über heimliche Weltmarktführer und sonstige Erfolgsgeschichten
bleiben „Geschichten aus der Murkelei“.
Die Grundtendenz des „Atlas“ wird schon in der allerersten
Überschrift erkennbar. Es geht den Autoren darum, zu zeigen, wie
mittels der ostdeutschen Industrie der wirtschaftliche Abstand zu
Westdeutschland verringert werden kann. So sind dann auch die am
häufigsten verwendeten Begriffe, mit denen der Osten charakterisiert
wird: Rückstand, Abstand, Defizit, Mangel, Schwäche, Fehlen, gering,
klein, schwach, negativ usw. Geradezu fahrlässig wird mit Zahlen
umgegangen, etwa was die Arbeitsproduktivität und andere Kennziffern
angeht. Dies mag mit dem disparaten Basismaterial zusammenhängen, das
ausgewertet wurde. Und es ist von einer anhaltenden Aufholjagd die Rede
(S. 30). (Das DIW kommt zu einem anderen Ergebnis – der Aufholprozess
sei längst zum Stillstand gekommen bzw. er schleiche nur noch, sagen
die dortigen Experten.) Dabei wären vielleicht Innehalten und
Kurskorrektur angesagt. Wenn über zwei Jahrzehnte dem Westen erfolglos
hinterhergehechelt wurde, ist doch zu fragen, ob dies der richtige Weg
ist. Denn an den Koordinaten wird sich nichts ändern.
Stattdessen werden von neuem die altbekannten Losungen
ausgegeben: mehr Investitionen, mehr Export, mehr Innovationen, mehr
Forschung- und Entwicklung – überhaupt mehr Geld, mehr Ideen und vor
allem mehr Geduld! Aber wer sollte warum im Osten investieren? Welcher
Konzern sollte weshalb seine Zentrale dorthin verlagern? Wie sollten
kleine und mittlere Ostunternehmen neue Märkte erobern und nennenswerte
Exportquoten erreichen?
Die deutsche Wirtschaft boomt, aus dem Anschluss des Ostens
ist der Westindustrie kein Schaden entstanden. Im Gegenteil, es sind
ihr keine Konkurrenten, dafür aber millionenfach neue Fachkräfte und
neue Konsumenten zugewachsen. Kapazitäten konnten endlich voll
ausgelastet oder sogar noch erweitert werden, weil all die ostdeutschen
Zuwanderer und Pendler, die nicht einmal Sprachkurse und andere
Integrationsmaßnahmen brauchten, zur Verfügung standen und stehen, und
weil die neuen Märkte den Absatz sichern. Der Aufbau Ost sorgte für den
Ausbau West. Ein besseres Konjunkturprogramm hätte es für die
westdeutsche Wirtschaft gar nicht geben können. Wer solche Positionen
aufgäbe, würde gegen seine eigenen Interessen und gegen die
wirtschaftliche Vernunft handeln.
Eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung einschließlich einer
Kosten-Nutzen-Analyse der deutschen Einheit steht aus – sicher aus
gutem Grund. Das ehrenwerte Motiv der selbstlosen Hilfe für den Osten
könnte bezweifelt werden. Über die geschätzten Folgekosten der Einheit
in Höhe von zwei Billionen Euro wird allenthalben lamentiert. Über den
Gewinn hört man nichts. Angeblich sei er rein ideeller Natur, nicht zu
beziffern, da er in der Freiheit der Menschen und in der Einheit des
Vaterlandes bestehe. Die dürften sich aber längst auch „gerechnet“
haben. Wer aufmerksam die Veröffentlichungen des Statistischen
Bundesamtes liest, kann die Bewegung des Reichtums verfolgen.
Die von den Autoren des Atlas gegebenen Empfehlungen, wie die
Leistungsfähigkeit der Ostunternehmen zu steigern sei, bewegen sich
allgemein im bekannten Rahmen. Mitunter sind sie aber direkt
abenteuerlich. Da wird allen Ernstes der Rat gegeben, „einfache
Fertigungen mit niedrigen Wertschöpfungsstufen ins Ausland (zu)
verlagern und sich auf wertschöpfungsintensive Dienstleistungen und
Produktionsverfahren am Standort Deutschland (zu) spezialisieren“ (S.
42). Sicher ist die Konzentration auf wissensbasierte und innovative
Aufgaben der richtige Weg. Aber der Vorschlag, einfache
Massenproduktionen ins billigere Ausland zu verlagern, kommt wohl doch
etwas aus der Mottenkiste.
In einer Zeit, in der die vierte industrielle Revolution
eingeläutet wurde, in der alle Welt von Industrie 4.0 und von der
smarten Fabrik spricht, sollte auch im Osten nicht zurück, sondern nach
vorn geschaut werden. Osteuropa und Asien dürften die längste Zeit das
Billiglohnparadies gewesen sein, als das sie immer noch gelten. Auch
dort wird seit geraumer Zeit die Fabrik der Zukunft vorbereitet, in der
Maschinen mit Maschinen kommunizieren, in der intelligente Bauteile und
Maschinen selbst wissen, welche Fertigungsprozesse wann wo zu
durchlaufen sind, in der nicht gleichartige Massenproduktion, sondern
auf die individuellen Ansprüche der jeweiligen Kunden zugeschnittene
Fertigung im Vordergrund steht. Takt und Band haben dann ausgedient,
damit auch die ach so billigen Bandarbeiter. Darauf heute noch ein
wirtschaftspolitisches Konzept zu bauen, könnte bedeuten, den
technischen Fortschritt zu verschlafen.
Ein Wort noch zu den Grundlinien der künftigen
Wirtschaftspolitik für Ostdeutschland, wie sie von den Autoren des
Atlas skizziert werden. Es war schon auf die Kritik Gerald Brauns
verwiesen worden, dass wirtschaftspolitischen Maßnahmen oft der nötige
theoretische Unterbau fehle. Eine bloße Beschreibung der ostdeutschen
Bedingungen könne dies nicht wettmachen. Da müsse eine gute Theorie
her. Als Kronzeugen für eine solche wissenschaftliche Fundierung werden
von Braun vor allem zwei US-amerikanische Ökonomen herangezogen:
Michael Porter und Richard Florida. Den vorgestellten Modellen kann man
gedanklich folgen. Sie liefern Beiträge, um in die Diskussion zu kommen
und die beklagte Theorielosigkeit zu beheben. Das Nonplusultra stellen
sie gewiss nicht dar. Zumindest wäre anzumerken, dass die Positionen
beider Wissenschaftler höchst umstritten sind. Porters Ansatz, mit dem
die Wettbewerbsfähigkeit einer Region auszumachen und zu verbessern
sei, wird wegen seiner Banalität kritisiert. Er lasse sich nur für
einfache, stabile Märkte anwenden, sei aber ungeeignet für die heutigen
komplexen und dynamischen Märkte. Florida wird vorgehalten, seine
unrealistische Politikberatung (die Betonung der „kreativen Klasse“)
sei mit dafür verantwortlich, dass Großbritanniens Industriesektor in
den letzten 30 Jahren um zwei Drittel geschrumpft sei. Ob dies
zutreffend ist, sei dahingestellt. Auch in Deutschland wird die
Tertiarisierung der Volkswirtschaft weiter voranschreiten – nicht wegen
falscher Politikberatung, sondern infolge des technischen Fortschritts.
Dabei wird die Industrie ihre Funktion als Motor der Entwicklung
behalten, zumal die Grenzen zwischen klassischer Industrie und
industriellen bzw. industrienahen Dienstleistungen bereits seit
längerem im Schwinden begriffen sind.
Negative Folgen der vorgestellten theoretischen Konzepte
werden hierzulande nicht zu befürchten sein. Jedenfalls dürften sie
nicht von dem vorgelegten Atlas ausgehen. Die Praktiker aus Politik und
Wirtschaft werden weder aus „Porters Diamantmodell“ noch aus Floridas
Thesen voreilige Schlüsse für die Förderpolitik ziehen. Spätestens wenn
sie lesen, dass in Frankfurt am Main die größte Konzentration der
vielzitierten „kreativen Köpfe“ lebt, weil hier die meisten Banken und
Banker ansässig sind, werden sie abwinken. Das ist bedauerlich, weil
die Überlegungen durchaus Bedenkenswertes enthalten.
Was bleibt nach der Lektüre? Insider werden sicher wichtige
Informationen gefunden haben. Dem Laien wird sich vor allem eines
eingeprägt haben: die gute alte, fast schon vergessene DDR-Karte, die
hier fröhliche Urständ feiert. Richtig vergessen konnte man sie auch
bisher nicht. Schließlich haben die Medien mittels solcher Karten den
Ostdeutschen seit über zwei Jahrzehnten vorgeführt, was sie für
Mängelwesen sind. Ganz gleich, ob es um Ausländerfeinde, Nichtwähler,
Nichtsparer, Arbeitslose, Niedriglöhner, Aufstocker, Abwanderer,
Pendler, Mieter, Plattenbaubewohner, Konfessionslose, Alte, in „wilder
Ehe“ Lebende, Rabenmütter, Alleinerziehende, uneheliche Kinder,
Abtreibende, Übergewichtige, Raucher, Alkoholtote, anonym Bestattete
oder ähnliche Problemgruppen ging – die neuen Bundesländer erreichten
überall Spitzenwerte. Die ostdeutschen Landstriche waren stets in
alarmierendem Tiefrot eingefärbt. Das hat die Wahrnehmung geprägt, so
dass beim Anblick solcher Karten inzwischen von vornherein ein
Negativbefund erwartet wird. Nach der Lektüre des vorliegenden Atlas
wissen wir nun auch, dass Ostdeutschland kein Industriemagnet ist, dass
es dort die niedrigste Arbeitsproduktivität, die wenigsten
Unternehmensgründungen, die geringsten Investitions-, Innovations- und
Exportquoten, die wenigsten Patentanmeldungen usw. gibt. Die Autoren
haben zwar in den Text immer wieder aufmunternde, lobende, tröstende
und Zuversicht spendende Worte für die ach so gut ausgebildeten,
leistungsbereiten und hochmotivierten Ostdeutschen eingeflochten. Die
haben das Gesamtbild aber nur noch schärfer konturiert: Die sogenannten
neuen Länder sind abgehängt und bleiben es.
Vielleicht ist das Ganze nur eine Frage der Perspektive. Wenn
man den Ostdeutschen zum 25. Jahrestag des Mauerfalls oder der
deutschen Einheit etwas sagen will, das sie aufbaut und mit ihrem
Schicksal versöhnt, sollte man nicht mit Wirtschaftsdaten, nicht mit
schnöden Zahlen kommen. Man könnte sie doch einfach – in Anlehnung an
Albert Camus – zu glücklichen Menschen erklären. Der meinte nämlich vor
über 70 Jahren: “Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz
auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen
vorstellen.“ Die Analogie zu den Ostdeutschen drängt sich geradezu auf.
Viele haben das Gefühl, sich in ihrem Leben sinnlos angestrengt,
aufgerieben und abgerackert zu haben und dies immer noch zu tun, eine
wahre Sisyphosarbeit auf sich geladen zu haben, am Ende aber doch
erfolglos zu sein und mit leeren Händen da zu stehen, und dies seit
Generationen.
Denen könnte man sagen, ihr Glück bestand in der Anstrengung
selbst, im beharrlichen Ringen mit Widerständen und Schwierigkeiten. Es
bestand darin, einer Tätigkeit nachgegangen zu sein, worin sie sich
inmitten von Sorgen und Problemen bejaht und bestätigt fühlen konnten,
darin, Ziele gehabt zu haben, die der Anstrengung wert waren, Dinge
geschafft zu haben, die man unbedingt erreichen wollte oder die einfach
getan werden mussten. Nicht zufällig spann der Lyriker Günter Kunert
1992 den antiken Mythos weiter. Bei ihm bleibt der Stein schließlich
auf dem Gipfel liegen, worauf Sisyphos nur kurz triumphiert und seinen
Sieg genießt, den Stein dann aber selbst wieder in die Tiefe
hinabstößt, weil er das Nichtstun nicht aushält, ihm sonst aber keiner
Arbeit zu geben vermag. Die Kunertsche Wende ist vielleicht angesichts
des Arbeitslosenheeres in den neuen Bundesländern für eine
Jubiläumsrede nicht so geeignet, aber mit den „glücklichen
Ostdeutschen“ à la Camus könnte man es zum 25. Jahrestag des Mauerfalls
doch einmal versuchen.
Der "Atlas" ist über das Büro der Bundesbeauftragten für die Neuen Länder als PDF abrufbar
http://www.beauftragte-neue-laender.de/BNL/Redaktion/DE/Standardartikel/atlas_der_industrialisierung_der_neuen_bundeslaender.html
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