Report | Kulturation 2017 | Dieter Kramer | Lokaldemokratie mit Selbstorganisation als Perspektive
Essay zu D. Hoffmann-Axthelms Vorschlägen
| Dieter Hoffmann-Axthelm, Lokaldemokratie und Europäisches Haus. Roadmap für eine geöffnete Republik.
Bielefeld: transcript 10/2016. 114 Seiten, kart. ISBN 978-3-8376-3642-0, Print 17,99 €.
Eine „auf Europa geöffnete Lokaldemokratie“ schlägt Dieter
Hoffmann-Axthelm vor. Wenn der Staat eine „Agentur der Überregulierung“
wird, können nur auf der lokalen Ebene die Mängel des „Sozialetatismus“
überwunden werden. Die Nationalstaaten (Einzelstaaten) sind nicht in
der Lage, mit den anstehenden globalen Problemen angemessen umzugehen.
Die EU muss dort tätig werden, wo sie nicht ausreichend sind. Für
weitreichende Veränderungen, für den „großen Schnitt“, einen „Einbruch
im Großen“, eine „welthistorische Schwellenüberschreitung“ oder einen
“tiefen Umbruch“ als „Grenzfall gesellschaftlicher Selbstorganisation“
gibt es keine Akteure. „Alternde Gesellschaften machen keine
Revolutionen“. Näher liegt die Gefahr der Chaotisierung durch die
diversen nationalen und religiösen Fundamentalismen und
Bürgerbewegungen nach dem PEGIDA-Modell. Der Autor schlägt vor, in der
Kombination von handlungsfähigen lokalen Demokratien und
gesamteuropäischen Institutionen einen sozialökologischen Umbau
einzuleiten. Die neuen Möglichkeiten von digitaler Produktion und
Kommunikation sollen diesen Prozess erleichtern, Aber zu wenig erinnert
er daran, dass die in früheren Zeiten dominierenden und vielfach in die
Gegenwart hineinwirkenden Formen von „machtgestützter
Selbstorganisation“ mit gemeinschaftsspezifischer Selbstorganisation in
Korporationen, Genossenschaften und verwalteten Gemeinnutzen
(„Commons“) Teil eines solchen Prozesses sein können.
Themen:
Die Einzelnen
Die Einzelnen und das Überleben in Krisen
Die fragwürdige direkte Demokratie
Die Krise des Repräsentationssystems
Die EU als Garantiemacht
Machtgestützte Selbstorganisation und Lokalität
Gemeinnutzen und Geschichte
Übergänge und Nähe zu neoliberalem Denken
Die Einzelnen
Auf die „Wiederkehr begrenzter lokaler Selbstbestimmung“ setzt
der Planer und Publizist Dieter Hoffmann-Axthelm in seinem neuen Buch
(S. 7; alle Seitenzahlen beziehen sich darauf). Sie soll die Probleme
und Motive der Bürger wieder behandelbar machen und in die Politik
zurückbinden. Die EU muss dabei Garantiemacht werden und die globalen
Probleme einbeziehen. Die Einzelstaaten (Nationalstaaten) bleiben
wichtig, verlieren aber an Bedeutung.
Zunächst muss der Autor sich zur Präzisierung seiner Ideen
mit der „Vereinzelung“ und der „Allegorie“ des Vertrages der Einzelnen
zum Staat (S. 10) auseinandersetzen. Thomas Hobbes hat den „Einzelnen“
ins Zentrum seines staatspolitischen Programms gesetzt (S. 9 - sieht
man sein Bild in der Londoner Portrait Gallery, hat man den Eindruck,
dass er dabei gar nicht so glücklich war). Auch wenn es die
Leibnizschen „Monade“ des isolierten Einzelnen nur in den
Modellkonstruktionen der politischen Theorie und der Ökonomie gibt,
sind doch die realen gesellschaftlichen Prozess der „Vereinzelung“
weitgehend irreversibel. Heute sind alle „in einer historisch neuen
Weise für sich selbst Einzelne geworden, eine alles Institutionelle
überrennende Wucht der Selbstanmeldung angesichts der
Unverwechselbarkeit eines jeden Lebens“ (S. 11) ist eingetreten.
„Die Einzelnen treten keineswegs aus der Gesellschaft aus,
aber sie setzen einen Vorbehalt“ gegenüber den Kräften von Wirtschaft,
Politik und Kultur, „denen man sein Überleben verdankt“ (S. 12). Das
ist keineswegs ein naturwüchsiger Prozess, sondern das Ergebnis der
Freisetzung der Marktkräfte, die aus allen sozialen und kulturellen
Fesseln der sozialökonomischen und sozialkulturellen Umgangsformen der
„Vormoderne“ befreit („entbettet“) wurden (Karl Polanyi, „The great
Transformation“ hat das beschrieben).
Schichtenmodelle der Soziologie sagen nichts mehr über „die
konkreten Individuen aus, von denen jedes dieses und vieles andere aber
auch“ ist (S. 11), weder „Standes- noch Klassenzugehörigkeiten“ (S. 12)
sind noch hinreichend aussagekräftig. Gleichwohl erinnern die
Sozioökonomie (Fischer, Andreas; Zurstrassen, Bettina [Hrsg. ]:
Sozioökomische Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung
2014) ebenso wie Kommunikationswissenschaft und die Europäische
Ethnologie als Kulturwissenschaft daran, dass Individuen nie als
isolierte Monaden handeln, sondern immer im Verbund mit anderen. Damit
werden „Milieus“ und handlungsleitende sozialkulturelle Normen, also
kulturelle Faktoren, aufgewertet. Gern aber werden die größeren
Zusammenhänge vergessen. Die „Selbstoptimierung auf Kosten anderer“ (S.
91) in der „Vereinzelung“ steht in den ökonomischen Modellen des homo oeconomicus
im Zentrum. Auch die Menschenrechtsdeklaration der UN bezieht sich auf
dieses tendenziell isolierte Individuum und seine Freiheit, ausgehend
von dem Menschenbild der Renaissance und der Aufklärung. Aber diese
Einzelnen, die bei auftretenden Problemen gern in Parallelwelten
„desertieren“ (S. 91) sind „mit ihren privaten Entscheidungen … als
Akteure in das Ergebnis verwickelt“ (ebd.). Mit dem Bild des
„Gefangenendilemmas“ wird dies bei Fred Hirsch und anderen
thematisiert: Einzelentscheidungen sind suboptimal, aber Absprachen
zwischen den Vereinzelten sind nicht vorgesehen.
Der Staat als Dienstleister entwickelt sich von einer
„Agentur der Mehrheitsinteressen“ (S. 92) zu einem „Apparat, der sich
selbst zum Zweck ist“ (dem dann aber nicht einmal eine ethische
Sinngebung zur Verfügung steht). Die neoliberalen Vorschläge, den allzu
starken Staat über den Markt zu regulieren, sind „erst einmal
widerlegt“, meint Dieter Hoffmann-Axthelm. Mit solchen Vorstellungen
ist der „staatlichen Zähmung ökonomischer Gewalt“ keine Chance gegeben.
Aber auch der „Sozialetatismus“ (wie er von vielen Teilen der Linken
noch vertreten wird), hilft nicht weiter, noch weniger der Rekurs „auf
eine Einheitsvorstellung von Staat und Gemeinwohl, die historisch
obsolet ist“ (S. 94).
Die Einzelnen und das Überleben in Krisen
Hervorgehoben wird eine meist wenig beachtete, gleichwohl für
Krisensituationen wichtige Dimension: „Wir sind, Dilemma moderner
Individualisierung, als Einzelne in keiner Weise mehr der Fähigkeiten
primären Überlebens mächtig.“ (S. 16) Angesichts der „multiplen Krisen“
und ihres Potentials von neuen Mauern, Kriegen und Migrationsbewegungen
ist diese Frage notwendig zu stellen. Und dazu ist Fußnote 8 auf S. 17
wichtig: „Kritische Agrarexperten diskutieren das Problem derzeit als
dass der mangelnden Resilienz – der Unfähigkeit des agrarindustriellen
Komplexes, unter den aktuellen Bedingungen weltweiter Abhängigkeiten
mit Schocks umzugehen.“
In diesem Zusammenhang wird „Urban Gardening“ kurz genannt. Im
Niedergang der Sowjetunion hat sich gezeigt, wie schnell Fähigkeiten
der Subsistenzwirtschaft mit Elementen der Selbstversorgung wieder
entdeckt werden; im ersten Weltkrieg und nach dem Ende des Zweiten
geschah ähnliches. Und der Autor weiß: Es „steckt in jeder Gesellschaft
… viel an sich ständig reproduzierender Lebendigkeit“ (S. 19), eben
weil der „Einzelne“ nie allein existiert. „Anders als die Vorstellung
Revolution besagte, muss also nicht vernichtet und ein ganz Neues
proklamiert werden, es wird vielmehr nebengeordnet, eine Entmachtung
der hergebrachten Signifikanten“ (S. 19). Das gilt es auch im
Zusammenhang mit den bei Hoffmann-Axthelm kaum berücksichtigten neuen
und alten „Commons“ und Gemeinnutzen zu beachten.
Weshalb ein in Berlin lebender Autor bei dem Thema „lokal
gestützte Reproduktion“ nicht die Schrebergärten erwähnt und Urban
Gardening nur beiläufig vorkommt, weiß ich nicht. Immerhin wurden zu
DDR-Zeiten bedeutende Teile des Gemüse- und Obstbedarfes der
Bevölkerung im eigenen Garten erzeugt (Dietrich, Isolde: Hammer,
Zirkel, Gartenzaun. Die Politik der SED gegenüber den Kleingärtnern.
Berlin: I. Dietrich 2003; Norderstedt: BoD 2003; dies.: Hammer, Zirkel,
Gartenzaun. Die Politik der SED gegenüber den Kleingärtnern. Berlin
2003 [Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 38]), und
in ländlichen Gebieten ist das nicht nur in Deutschland immer noch so.
In Krisen werden auch „belanglose Inseln der Weltverbesserung oder des
Aussteigens“ (S. 59), die der Autor eher abwertend am Rande nennt,
interessant.
Der Autor fragt: Wie weit kann ich mich „auf mich selber
verlassen“ angesichts der „immensen Suchtpotentials der Einzelnen“? (S.
21) Offen ist, „ob in einer begrenzungsschwachen Realität noch die
allgemeinen menschlichen Ressourcen ausreichen – Klugheit, Tatkraft,
solidarisches Verhalten, Neugier, Gutwilligkeit usw.“? (S. 22) Er meint
mit Blick auf die Erfahrungen der Vergangenheit: „In den Körpern
stecken der Arbeitszwang und die Schläge von Jahrhunderten“ (S. 22) –
aber, sei ergänzt - auch die positiven Erinnerungen an die Fähigkeit
der Selbstorganisation und der Gemeinschaft. Der „Austritt aus den
Verständigungszwang, der, mühsam genug, Gesellschaft ausmacht“ (S. 25)
produziert „politische Fassungslosigkeit“. Das Private wird so auf neue
Weise politisch. Negativ bewertet wird die soziale Kontrolle, dank
derer der Einzelne eben nie völlig allein ist und dank deren
Gemeinnutzen überhaupt erst möglich wird. Der durch Einsamkeit
bestrafte „emanzipatorische Ausstieg aus allen hemmenden Bindungen“ (S.
23) findet selten wirklich so allgemein und konsequent statt (höchstens
tentativ und temporär bei Intellektuellen), und „die Chance eines
Lebens ohne den Druck patriarchalischer Zwänge und Schuldübertragungen“
(S. 23) wird zwar – vor allem in der (Groß-)Stadt - bezahlt durch den
Verlust der Sicherheiten der Rollenzuweisungen, aber immer gibt es auch
neue Zuordnungen.
Die fragwürdige direkte Demokratie
Verschiedene Auswege aus der Krise des Politischen werden
diskutiert. Der „Widerstand gegen Entmündigung durch Verregelung und
Bürokratisierung des Lebens“ (S. 95) ist ein „Widerstand letztlich
gegen die Lebensferne politischer Steuerung“, die freilich auch
vorangetrieben wird durch die „mentalen Lockerungen“ der „veränderten
Lebensentwürfe“ (S. 96). „Es ist der mühsame Übergang von einer wider
allen Augenschein als ethnisch homogen erlebten Gesellschaft in eine
Gesellschaft der Koexistenz der Verschiedenen, in der alle entweder
fremd oder zuhause sind.“ (S. 85/86)
Aber die „Herauslösung der Politik aus dem Gehäuse des
Staates“ (S. 96) kann problemreich werden: „Die Direktdemokratie
einiger Schweizer Kantone oder US-amerikanischer Communities, so
suggestiv sie für den lokalen Bereich ist, versagt angesichts
überlokaler [und schon gar globaler, wie Klimawandel oder
internationale Gerechtigkeit] Probleme und einer ethnisch gemischten
Gesellschaft.“ (S. 96) Möglich ist sie nur auf der „grünen Wiese der
Politischen Theorie“ (S. 97).
Volksabstimmungen und andere Beteiligungsformen bilden keine
„tragfähige Vermittlungsebene zwischen bindungsfreien Einzelnen und
gegebener politischer Verfassung“ (S. 13): Die Abstimmenden gehen mit
ihrer Stimmabgabe keine Verpflichtungen ein. „Die Inpflichtnahme der
Wähler ist in der Konstruktion repräsentativer Willensbildung im Grunde
ausgeschlossen (S. 108). Der „Holzweg“ Volksentscheid krankt daran,
dass die „Selbstbindung der Entscheidenden “ fehlt und „mobile
öffentlichkeitsfähige Gruppen sich Vorteile zuungunsten der Mehrheit
verschaffen“ (S. 60) können. So kann man sagen: „… direkte Demokratie
ist in Massengesellschaften zerstörerisch“, sie ist ohne Verantwortung
für die materiellen Folgen der Entscheidung, und der Ruf zum
allwissenden Diktatur ist nicht weit (S. 29/30).
„Das funktionale Defizit jeder Beteiligung ist, dass sie keine
der beiden Seiten wirklich bindet“ (S. 106), so wie bei der
Volksabstimmung in der direkten Demokratie niemand direkt die
Konsequenzen tragen muss – im Gegensatz zu den (erzwungenen oder
freien) Kooperationen auf der unteren Ebene. Die „Tyrannei der
Mehrheitsinstinkte“, von der Tocqueville sprach, wird durch „checks and
balances“ relativiert (S. 107).
„Das Parlament der Einzelnen stimmt im wesentlichen über
Stimmungen ab.“ (S. 26) Das „Durcheinander kontinuierlicher Anmeldungen
von Befindlichkeiten, Ängsten, Wünschen und Interessen aus den Tiefen
der Gesellschaftsentwicklung“ (S. 26) ist noch keine Politik.
Ich-Politik braucht nicht darüber nachzudenken, inwieweit sie
den Staat überfordert. „Es ist die Aufgabe der Repräsentation, zu den
massenhaften individuellen Willensbildungen Distanz herzustellen und
aus dem Chaos der Konfliktlagen und der resultierenden individuellen
Präferenzen politikfähige Themen und Standpunkte zu bilden, die
Entscheidbarkeit zulassen“ (S. 27) – etwa auch für größere
Zusammenhänge wie globale Probleme. Das Grundgesetz schreibt deswegen
den Parteien die Mitwirkung an der politischen Willensbildung zu.
Die Krise des Repräsentationssystems
Das Repräsentationssystem scheitert aus der Perspektive der
Individuen zusehends daran, bei „den Fragen zwischen politischer
Gleichheit und fortwährender Ungleichheit der Lebenschancen
wohlfahrtsstaatlich zu vermitteln oder wenigstens sich und seine Wähler
über Möglichkeiten und Grenzen ausreichend aufzuklären.“ (S. 108) Am
ehesten wäre dies möglich durch das Einklagen der sozialen Grundrechte,
als Gemeingut ausgehandelt und akzeptiert durch die Zustimmung der Staatsbürger (des Volkes)
zu den Verfassungen, die der Staat zu gewährleisten verspricht:
Grundwerte und Verfassungspatriotismus waren lange Zeit denkbare
Integrationsmomente, um wie in der Polis gemeinsames Handeln in der
offenen Pluralität zu ermöglichen. Es ist die „Existenz des Staates …
der den einzigen noch vorhandenen Anker abgibt.“ (S. 105) Bewältigt
werden muss dabei der „mühsame Übergang von einer wider allen
Augenschein als ethnisch homogen erlebten Gesellschaft in eine
Gesellschaft der Koexistenz der Verschiedenen, in der alle entweder
fremd oder zuhause sind.“ (S. 85/86)
Es gilt weitgehend immer noch die Überzeugung, nur ein
„Bündnis mit den Wachstumszwängen der Wirtschaft könne den Rückfall in
eine massengestützte Diktatur verhindern: auf Wohlstand, nicht auf
Freiheit gegründete Loyalität, als Realgrundlage inneren Friedens.“ (S.
106) „Die Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie beruhte ja
gerade auf dem Grundsatz der Trennung von politischer Gleichheit und
sozialer Ungleichheit.“ (S. 109).
In der Krise des Sozialstaates muss der Staat entweder „die
umfassenden Versorgungs- und Garantieansprüche der Einzelnen“ aufnehmen
(das wäre die Sicherung der sozialen Grundrechte) oder er „reduziert
die gesellschaftliche Eingriffstiefe, senkt die Steuern und überwälzt
die entsprechenden Lasten auf die Zivilgesellschaft“ (S. 81) (wie im
Neoliberalismus und wie dies in den USA schon lange geschieht).
Die EU als Garantiemacht
Hoffmann-Axthelm weiß: Es „braucht jedwede
Institutionalisierung von Basismacht eine um so stärkere Garantiemacht,
für welche es zwingend oder immerhin nützlich ist, eine Ermächtigung
der untersten Ebene zu fördern“ (S. 31) Das ist für alle historischen
Formen der Selbstorganisation eine Selbstverständlichkeit – da waren es
Grundherrschaften und übergeordnete Instanzen anderer Art (die von dem
Autor angeführten Beispiele von Hanse und Heiligem Römischen Reich
beziehen sich darauf; zur historischen Dimension siehe Kramer, Dieter:
Machtgestützte Selbstorganisation. Eine Skizze zu Commons und
Gemeinnutzen. In: Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung 107, Sept.
2016, S. 76-82). „Die Ebene lokaler Selbstverwaltung würde einen
gesteigerten staatlichen Schutzbedarf aufrufen: Erstens: Es ist keine
Lokalautonomie denkbar, die nicht ausreichend starke Aufsichtsmacht
über sich bräuchte“, und: „Nur gesteigerte staatliche Regulierung von
Marktmacht kann den Einschlag globaler Wirtschaftsinteressen, mithin
die marktförmige Zerstörung des Lokalen begrenzen“ (S. 80). Die
europäischen Staaten haben sich freilich „auf das Modell marktförmiger
Steuerung genuin politischer Instrumente geöffnet, so in
Verwaltungsreform, Sozial- und Kulturpolitik“ (S. 33), aber damit
werden viele Probleme eher verstärkt als gelöst. Es besteht somit ein
Dilemma: „Der reale demokratische Spielraum ist in einer Welt nie
dagewesener wirtschaftlicher Zugriffsmacht und Wachstumskonkurrenz
denkbar klein.“ (S. 109).
Die Atlantik-Charta von 1941 verspricht den Völkern das
Recht, selbstbestimmt zu leben, gleichzeitig aber auch offenen
Welthandel. Aber das Leben in der Würde der eigenen Kultur und freier
Handel vertragen sich nicht immer. Im Dokument über vertrauensbildende
Maßnahmen der KSZE-Schlussakte von Helsinki zwischen Ost und West
(OSZE-Verträge) vom August 1975 vereinbaren die Staaten daher, „dass
ihr Handel mit den verschiedenen Waren auf eine solche Weise erfolgen
soll, dass auf den Inlandsmärkten für solche Waren und insbesondere den
inländischen Erzeugern gleichartiger oder unmittelbar konkurrierender
Waren keine ernstliche Schädigung – gegebenenfalls eine Marktstörung
bzw. Marktzerrüttung – entsteht oder zu entstehen droht“. Die aktuell
diskutierten Freihandelsverträge nehmen darauf keine Rücksicht, nur die
„exception culturelle“ erkämpft mühsam ihre Berechtigung.
„Solange autonome Wirtschaftsmacht die Welt organisiert, ist
ohne Staat keine Zähmung derselben möglich.“ (S. 97) Dagegen etwas zu
tun wird nur möglich, wenn mehr und mehr Menschen sich vorstellen
können, aus den Zwängen der Marktgesellschaft auszusteigen.
Aufgrund der aktuellen Entnationalisierung und globaler
Probleme wie „Klimawandel und Ökosysteme, Kapitalnomadismus und
Armutsmigration, Terrorismus, Korruption und Epidemien“ (S. 32) reicht
der Nationalstaat nicht aus. „Solange autonome Wirtschaftsmacht die
Welt organisiert, ist ohne Staat keine Zähmung derselben möglich.“ (S.
97)
Die noch nicht fertige EU ist da trotz aller Probleme
alternativlos (S. 35) und nützlich: Sie hat „in spektakulären
Streitfällen gegen globale Zugriffe Front gemacht [z. b. beim
Freihandel in kulturellen Fragen, D.K.], und sie hat bei aller
außenpolitischen Schwäche international einige moralische Autorität
aufgebaut: nicht nur machtpolitisch laviert, sondern normativ gewirkt.“
(S. 36) – mit weniger Beschäftigten als die Landesverwaltung von NRW.
Und die Kommission hat „das neuzeitliche Programm der Verstaatlichung:
Angleichung von Chancen und Rechten, Angleichung der sozialen Normen
und der Besteuerungsgrundlagen, Rechtseinheit, Einheitswährung,
Freizügigkeit, Diskriminierungsverbot“ mindestens programmatisch zum
Thema gemacht, und zwar praktisch unumkehrbar" (S. 43). Den
„gesellschaftlichen Interessenpluralismus so weit zu bändigen, dass es
weder zu Selbstzerstörung noch zu einseitiger Belastung der Schwächeren
kommt“ (S. 45) ist Aufgabe auch der EU. Das alles geht nicht von heute
auf morgen. Wie wichtig die Zeitdimension ist, zeigen die Beispiele von
Hanse und Heiligem Römischen Reich (S. 41f.).
Kontraproduktiv sind im EU-Raum die deutsche
Wirtschaftshegemonie oder die französische „Insistenz auf sinnwidrigen
Agrarsubventionen“ (S. 46), die sinnwidrig sind vor allem wegen der
„Folgeschäden europäischer Überproduktion in Afrika oder Südamerika“
(S. 47), aber auch wegen der Bodenzerstörung und –belastung. Der
„technokratische Universalismus“ (S. 49) der EU wird nur wenig
gebrochen durch regionale Förderprogramme, wobei man sich vor der
Unterstützung von separatistischen Tendenzen hütet. Die „Verankerung
von Autonomie und kultureller Identität auf unterster, lokaler Ebene“
wäre wichtiger (S. 50); Artikel I.47 des EU-Vertrages zusammen mit I-46
erlauben eine „von oben protegierte Konstruktionsaufgabe ganz unten“.
Die Öffnung nach oben, hin zu Europa, relativiert die
Bedeutung der Nationalstaaten, aber deren Mehrheiten entscheiden über
die Zukunft Europas. Damit sind die nationalen antieuropäischen
Protestbewegungen vor allem des „unteren Mittelstands“ wichtig, die es
eigentlich schon immer in irgendeiner Form gibt (von
„Boutiquenbourgeoisie“ sprach man, als die NPD in das Stadtparlament
von Frankfurt am Main einzog).
Europa wird „nicht weiterkommen ohne den Rückgewinn
emphatischer Ziele und durch eine freigesetzte Teilungsbereitschaft“,
es „braucht neue Großziele“ (S.87 - hier ist ein europäischen
Populismus nicht weit!). Ein europäisches Solidarsystem gehören dazu,
und das muss von allen akzeptierbar sein (S. 88).
Machtgestützte Selbstorganisation und Lokalität
Die „Selbstheilungskräfte der Gesellschaft“ (S. 109) sind
gefragt – wo aber liegen die wenn nicht in der Selbstorganisation der
vergesellschafteten Individuen? Der Weg der „Lokaldemokratie“ ist
„grundsätzlich innerhalb der politischen Wirklichkeit der europäischen
Gesellschaften gangbar“ (S. 53). Ansätze zu gemeinnutzenorientierten
Institutionen gibt es mannigfaltig, und sie reichen aus der
vorindustriellen Zeit in die Gegenwart. „Moderne“ und Marktwirtschaft
können nicht existieren ohne Wertmaßstäbe und Strukturen aus
vormarktwirtschaftlichen Lebenswelten. Zwangskörperschaften wie
Innungen, berufsständische Ethiken wie die des „guten Kaufmannes“, oder
die der Ärzte oder (schwindend) der Journalisten, gehören dazu. Eigenes
formelles oder informelles Recht bestehen dabei nebeneinander (s.
Kadelbach, Stefan; Günther, Klaus (Hg.): Recht ohne Staat. Zur
Normativität nichtstaatlicher Rechtssetzung. Frankfurt 2011, genannt S.
95). Die interkommunalen Zweckgemeinschaften und Zweckverbände
existieren jenseits von Markt und Staat auf der Grundlage öffentlichen
Rechts und geschützt durch es. Elinor Ostrom (1999) hat belegt, wie
Gemeinnutzen auch in der Gegenwart funktionieren. Neue Formen sind
entstanden: Die digitale „Netzgemeinde“ hat eine Menge von informellen
Standards jenseits der marktwirtschaftlichen Zwänge aufrechterhalten –
inzwischen geraten manche davon (wie die „Netzneutralität“) freilich
immer mehr unter Druck.
„Die Gesamtmasse der Einzelnen ist nicht adressierbar, aber
alle sind an irgendeinem Ort anwesend. Wenn auf irgendeinen Nenner die
unabsehbaren Verschiedenheiten zu bündeln sind, dann über den lokaler
Anwesenheit.“ (S. 54) Das gilt unbeschadet der nur punktuell
verwirklichbaren Translokalität etwa in Bereichen der Künste (ein
Medienkünstler und –theoretiker kann nur deshalb behaupten, er lebe
dauernd in Hotels, weil er in Wien zuhause bei seiner Mutter noch seine
Ressourcen hat).
Mit der Migration wird die „Distanz zwischen politischen
Entscheidungsformen und Bewältigung vor Ort“ zum Tagesthema. „Die
geeigneten Bedingungen der Integration können nur auf unterster, auf
Alltags- und lokaler Ebene geschaffen werden.“ (S. 86) „Fördern und
fordern“ ist auf dieser Ebene problemärmer zu realisieren.
Machtteilung, ein „handhabbarer, verwaltungsfähiger Rahmen“ usf. (S.
55) sind in der Lokaldemokratie realisierbar; „territoriale Begrenzung“
(S. 56) ist möglich (vielleicht gar nicht zwingend), es wird
„prinzipiell zwischen Verwaltern und Verwalteten nicht unterschieden“
(S. 57; beiläufig wird hier die mittelalterliche Stadtgemeinde erwähnt,
sie wird aber zu wenig gewürdigt, denn dort hat all dies in
konfliktfähiger Struktur bestanden). Fiskal- und Wirtschaftskompetenz
(S. 57) sind erarbeitbar.
Wie soziales Kapital entsteht, hat André Habisch (Bericht
Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige
Bürgergesellschaft. Opladen: Leske + Budrich 2002,S. 729 – 741)
erläutert, und die Kulturgeschichte kennt dafür die „machtgestützte
Selbstorganisation“ der Allmenden und Gemeinnutzen. Man müsste zu
diesem Thema die Auseinandersetzung der Marxisten mit den Commons und
der Dorfgemeinde berücksichtigen (s. Wielenga, Bastiaan: Art.
Dorfgemeinschaft. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus
Sp. 825 – 830). Wer reflexartig negativ auf die damit notwendig
verbundene soziale Kontrolle reagiert, wird wenig andere Chancen
finden.
Gemeinnutzen und Geschichte
„Das Modell der Lokaldemokratie ist der Versuch, in
Weiterdenken der repräsentativen Verfassung die zweite Wurzel
europäischer Demokratie wieder zum Sprechen zu bringen, die
genossenschaftlicher Selbstverwaltung.“ (S. 100) Aufgegeben, aber nie
völlig beseitigt wurde sie mit scheinbarer Sachzwanglogik zugunsten
repräsentativer Vertretungskörperschaften, ideen- und staatstheoretisch
legitimiert als Entmachtung der „pouvoirs intermédiaires“ (S. 101)
zwecks Durchsetzung der Freiheit des Marktes (in der Agrarpolitik seit
dem Physiokratismus verbunden mit der Markt-Freiheit des Bodeneigentums
mit allen Konsequenzen).
Bei der lokalen Einheit (s. Hoffmann-Axthelm, Dieter: Für
eine Örtlichkeit der Politik. ÄuK 59/1985, S. 7-17) spielt die Größe
eine Rolle. Als Beispiel werden die „räumlichen Einheiten neuzeitlicher
substitutiver Selbstverwaltung“, die aus dem Armutsproblem resultieren,
genannt (S. 62) – aber die vormoderne Stadt war in bedeutenden Aspekten
(Zunftordnung, Brunnengemeinschaften usf.) mit Verantwortung tragenden
oder freiwillig substitutiv tätigen Einheiten (Bruderschaften usf.)
durchsetzt. Die Vorschläge von Dieter Hoffmann-Axthelm (64/65) wirken
rezepthaft, weil sie nicht anknüpfen an früher existierende und in
Restbeständen immer noch existierende bzw. wirkende oder aktivierbare
Strukturen von Gemeinnutzen und Selbstorganisation.
Gesagt wird, dass es die Aufgabe der „modernen“ europäischen
Nationalstaaten war, „das agrarische wie das industrielle Massenelend
aufzuheben“ (S. 99) – das freilich erst mit und durch sie verursacht
wurde. Sie sollten dies leisten durch die „Vernichtung der
ständestaatlichen Autonomien und der sie tragenden ständischen
Vermittlungsschichten des vorrevolutionären [eigentlich „vormodernen“
Europa, denn der Prozess setzt ja schon mit der Etablierung der
Territorialstaaten des „aufgeklärten Absolutismus“ ein, dk.],
andererseits des korrespondierenden Funktionswechsels der
Repräsentation in der Klammer unvergleichlich gesteigerter staatlicher
wie wirtschaftlicher Machtstrukturen“ (S. 99/100).
Bei der Bilanzierung der mit der bürgerlichen
(marktliberalen) Gesellschaft entstandenen Gewinne und Verluste müssen
auch die Zerstörungen der gemeinschaftlichen Selbstorganisation
berücksichtigt werden, ebenso die Entfesselung eines kaum mehr
kontrollierbaren selbstzweckhaften Wachstums. Welche Konsequenzen
daraus zu ziehen sind, ist eine andere Frage. Dieter Hoffmann-Axthelm
ist mit seinem Text ein Beitrag zu dieser Diskussion, ebenso wie die
„Gemeinwohlökonomie“ mit ihren Gemeinwohlbilanzen oder die neue
Genossenschaftsdiskussion.
Wenn man die sozialen Grundrechte, die in den
zeitgenössischen Verfassungen neben den liberalen Grundrechten und den
Teilhaberechten festgeschrieben sind, als vom „Staatsvolk“ vereinbarte
Gemeinnutzen ernst nimmt, kann man deren Implementation gleichwohl
nicht nur als direkte Aufgabe des Staates einfordern, sondern
muss sie auch verstehen als Leitlinie der Organisation staatlichen
(öffentlichen) Handelns in der Zusammenarbeit mit den intermediären
Formen der „machtgestützten Gemeinnutzen“.
Mit Hilfe der Sozialgeschichte und der
kulturwissenschaftlichen Europäischen Ethnologie (aber auch der
außereuropäischen Ethnologie) lässt sich ein breites Feld von Formen
der lokalen Selbstorganisation erschließen, das in die Gegenwart
hineinragt. Der Autor bezieht sich nur rudimentär darauf und verschenkt
damit wichtige Anknüpfungsmöglichkeiten für sein interessantes
Programm.
Übergänge und Nähe zu neoliberalem Denken
Dieter Hoffmann-Axthelm fragt: „Gibt es die Chance eines
Übergangs zu einer teilweise individuell und lokal gestützten
Reproduktion?“ (S. 57) Er erinnert nicht an Schrebergärten und Allmende
oder an die „molekularen Wandlungen“ (Dieter Klein: Das Morgen tanzt im
Heute. Hamburg: VSA 2013), mit denen mehr und mehr Menschen sich aus
den Selbstverständlichkeiten der Marktgesellschaft ausklinken, und
durch die in der Politik Veränderungen angestoßen werden können. Die
„Demokratisierung des Staates“ als offener Prozess durch die
„Ermächtigung des Einzelnen“ (in seinen sozialen Bindungen?) wäre so
eine „auf leisen Sohlen daherkommenden Entwicklung“ (S. 93).
Hoffmann-Axthelm ist eher beeindruckt von menschenleeren
Fabriken: „Auf der einen Seite greifen die Konsumenten auf industrielle
Billigwaren aller Art zu, die in globaler Ferne produziert sind und
weltweit vertrieben werden, auf der anderen bilden sich lokale Szenen
der Kleinproduktion für hochspezifische wie auch banale individuelle
Bedarfe.“ (S. 57/58) Und er sieht in den durch globale Megaproduktion
initiierten Trends zu „Digitalisierung, Nanotechnik, Miniaturisierung
von Verfahren“ (S. 58) Chancen für lokales Produzieren wie zur privaten
Erprobung des Übergangs zu „resilienten Lebens- wie
Reproduktionsgemeinschaften.“ (S. 59). Mit Hilfe der Digitalisierung
ist eine „Autonomie zweiter Ordnung“ möglich (S. 19), die neuen
„digitalen Kompetenzen“ können „die angehäuften sozialen
Selbständigkeitsverluste kompensieren“ (S. 20) – vorausgesetzt sie
bleiben verfügbar und wirken nicht schon vorher kontraproduktiv.
Aber: „Wenn Arbeitsmarkt und Sozialpolitik die Einzelnen mit
Vehemenz zum Wagnis der Selbständigkeit drängen, … führen
unterschiedliche Entwicklungsstränge zu einer immer engeren
Reglementierung sämtlicher überhaupt greifbarer Tätigkeiten, die den
Selbständigen das Leben zur Qual machen.“ (S. 58) Das gilt auch für
„von einer Fülle negativer Bedingungen eingeengtes Graswurzelwachsen“
(S. 58). Das erinnert an neoliberale Argumentationen, mit denen einfach
mehr Freiheit für „Start up“-Innovationen gefordert werden, aber die
Verantwortlichkeit für die Folgen entfesselten Wachstums nicht
angemahnt wird. An die historischen und aktuellen Restbestände von
Gemeinschaftlichkeit wird nicht erinnert.
„Die utopischen Blüten, die seit Jahrzehnten als belanglose
Inseln der Weltverbesserung oder des Aussteigens dahinsegeln, könnten
sich dann tatsächlich, technologisch gestützt, zu brauchbaren, Kapital
bindenden Kernen eines anstehenden Umbaus gesellschaftlicher
Reproduktion verbinden.“ (S. 59) Das ist nicht mehr als die auch von
den Vertretern der Wachstumsideologie immer wieder angesprochene und
anempfohlene Innovation mit wirtschaftlichen Nutzungen. Viel
interessanter aber sind soziale und sozialkulturelle Innovationen wie
die Neubelebung der Gemeinnutzenverpflichtungen des
Genossenschaftswesens, die „Gemeinwohlbilanzen“ und ähnliches.
Bedingungsloses Grundeinkommen scheint für Hoffmann-Axthelm
eher hinderlich, weil jegliches Engagement damit tendenziell
überflüssig wird (S. 70f.) (dass dank seiner leichter Engagement
übernommen werden kann, steht auf einem andren Blatt).
Die Serie „taz.meinland“ berichtet aus dem sozialkulturellen
Leben kleiner Dörfer, in denen soziales Kapital aus Ehrenamt und dem
Engagement vieler gewonnen wird, z. B. mit der „roten Bank“ in Dersau,
Schleswig-Holstein: Da steht im Ort eine rote Bank, auf die man sich
setzt, wenn man in das benachbarte Unterzentrum mitgenommen werden
möchte (Oudray, Laila: Dersau könnte überall sein. Wie es so ist in
kleinen Dörfern: Die Gemeinschaft funktioniert nur, wenn alle
mitmachen. In: TAZ v. 13.März 2017). Solche Beispiele sind beliebig
vermehrbar. Dorfläden und solidarisch organisierte Einkaufs- und
Mitfahrgelegenheiten helfen nicht nur für die konkreten Anlässe,
sondern bedeuten auch „soziales Kapital“ für andere Gelegenheiten
(selbst wenn manche Gemeinde oder Nachbarschaft viel mit einem
Haifischbecken zu tun haben mag).
„Nähevorteil“ und „Common sense“ sind nicht nur in dem
„nichtsubventionierten Stadtteilverein“ (Fn. 15 S. 68), sondern in
jedem Feuerwehr- und Sportverein wirksam, ebenso in den Assoziationen
der verschiedenen religiösen Vereinigungen.
Damit können auch die von Dieter Hoffmann-Axthelm genannten
Einsprüche entkräftet werden, die von Soziologen und Politologen gegen
die lokale Demokratie erhoben werden: die Frage der sozialen
Entfernungen (sowohl im Sportverein wie in der Bruderschaft werden sie
relativiert), die störende Mobilität, die fehlende individuelle
Bereitschaft oder die Ungleichheit der Personen (S. 66/67), die
„wachsende Tendenz zur sozialen Segregation“ (S. 68, etwa in den
geschützten segregierten Wohneinheiten der „gated communities“).
„Die Zeit“ lässt 2017 in einem Dossier einige „Ungehörte“ zu
Wort kommenden: Eine Mittelständlerin, die bei den kommunalen
Ausschreibungen nicht mithalten kann, weil immer der billigste Anbieter
genommen wird, obwohl man sicher sein kann, dass er Sozialstandards
nicht einhält. Oder der Staatsanwalt, der weiß, dass die niedrigen vom
Gesetz vorgegebenen Strafen gegen kriminelle Banden nicht ausreichen.
Oder der Leiharbeiter, der in die Arbeitslosigkeit entlassen wird,
während Manager hohe Abfindungen kassieren. Oder die
Flüchtlingshelferin, die damit fertig werden muss, dass ihre Arbeit
auch von den Flüchtlingen nicht anerkannt wird. Oder die
Alleinerziehende, der niemand hilft, ihre Rechte bei dem Kindsvater
einzufordern. Alle leben im „toten Winkel der Politik“. „Unsere
Gesellschaft spaltet sich inzwischen auf in viele kleine Gruppen, die
nicht mehr miteinander auskommen.“ (Aisslinger, Moritz u.a.: Die
Ungehörten. … Viele Menschen fühlen sich von der Politik verlassen. In:
Die Zeit v. 2. März 2017 S. 15-17: ebd.) Einige dieser Probleme, die
den Nährboden für demokratiefeindliche Trends bieten, könnten durch die
„Wiederkehr begrenzter lokaler Selbstbestimmung“ (S. 7) relativiert
werden. Auf jeden Fall fänden da diese Menschen Gehör.
„Die geöffnete Republik“ (S. 75) mit der „Implementierung
lokaler Eigenmächtigkeit“ (S. 75) soll in der Krise der Demokratie auch
die „historische Unruhe der Einzelnen“ und der „erodierenden
Mittelschichten“ (S. 76/77) auffangen. Es sind die „kommunale Achse:
Schnitt zwischen Stadt und Staat“ (S. 78) die „kommunale Ebene, von den
Metropolen bis zur Dorfgemeinde, nach wie vor affektiv besetzt“. Die
Städte haben aber „das Thema lokaler Selbstverwaltung allerdings
historisch ausgewachsen“ und sind „strukturell verstaatlicht“ (S.
78/79; es gibt allerdings nicht nur die Stadt, und die Stadt selbst
gliedert sich in viele Untereinheiten und Nachbarschaften!). Zwar sind
lokale Einheiten „weder zulässig noch erwünscht“. Sie können aber
eingefordert werden, und sie sind in Städten wie Frankfurt am Main auch
längst politische Mitwirkungsgremien – zwar mit begrenzten, aber
erweiterbaren Kompetenzen.
Es gibt auch den Finanzausgleich zwischen den Kommunen, aber
„eine fiskalische Autonomie der Kommunen, die zugleich
lokaldemokratisch legitimiert wäre, ergäbe zweifellos eine andere
Republik.“ (S. 82). Das Steuermonopol des Staates ist Teil der
neuzeitlichen Demokratie. Sozialkosten, Agenturen des Sozialkapitals,
Stärkung des „Eigenverbrauchs der Staatsmaschinerie, im Kern der
Egoismus des öffentlichen Dienstes“ (S. 83) werden als Probleme genannt
(da fehlt nur noch die Beamtenschelte).
Hoffmann-Axthelm macht es dem Leser nicht leicht – manche
Sätze muss man zweimal lesen. Aber die Gedanken sind allen
Schnellschüssen und leichthin ausgesprochenen „Man müsste“-
Überlegungen weit überlegen, und sie lohnen das Nach- und Weiterdenken.
Insbesondere sind sie grundsätzlich erweiterungsfähig bezüglich der
Referenzen und historischen Beispiele. Es wäre sinnvoll, wenn heutige
politische Akteure sich davon inspirieren ließen: Neoliberale
„Innovationen“, nur auf Wirtschaftswachstum bezogen, und
Sozialetatismus genügen nicht – sozialkulturelle Innovationen stehen
an. Und da spielen Gemeinnutzen eine Rolle.
kramer.doerscheid@web.de
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