KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ReportKulturation 2017
Dieter Kramer
Lokaldemokratie mit Selbstorganisation als Perspektive
Essay zu D. Hoffmann-Axthelms Vorschlägen
Dieter Hoffmann-Axthelm, Lokaldemokratie und Europäisches Haus. Roadmap für eine geöffnete Republik.
Bielefeld: transcript 10/2016. 114 Seiten, kart. ISBN 978-3-8376-3642-0, Print 17,99 €.

Eine „auf Europa geöffnete Lokaldemokratie“ schlägt Dieter Hoffmann-Axthelm vor. Wenn der Staat eine „Agentur der Überregulierung“ wird, können nur auf der lokalen Ebene die Mängel des „Sozialetatismus“ überwunden werden. Die Nationalstaaten (Einzelstaaten) sind nicht in der Lage, mit den anstehenden globalen Problemen angemessen umzugehen. Die EU muss dort tätig werden, wo sie nicht ausreichend sind. Für weitreichende Veränderungen, für den „großen Schnitt“, einen „Einbruch im Großen“, eine „welthistorische Schwellenüberschreitung“ oder einen “tiefen Umbruch“ als „Grenzfall gesellschaftlicher Selbstorganisation“ gibt es keine Akteure. „Alternde Gesellschaften machen keine Revolutionen“. Näher liegt die Gefahr der Chaotisierung durch die diversen nationalen und religiösen Fundamentalismen und Bürgerbewegungen nach dem PEGIDA-Modell. Der Autor schlägt vor, in der Kombination von handlungsfähigen lokalen Demokratien und gesamteuropäischen Institutionen einen sozialökologischen Umbau einzuleiten. Die neuen Möglichkeiten von digitaler Produktion und Kommunikation sollen diesen Prozess erleichtern, Aber zu wenig erinnert er daran, dass die in früheren Zeiten dominierenden und vielfach in die Gegenwart hineinwirkenden Formen von „machtgestützter Selbstorganisation“ mit gemeinschaftsspezifischer Selbstorganisation in Korporationen, Genossenschaften und verwalteten Gemeinnutzen („Commons“) Teil eines solchen Prozesses sein können.


Themen:
Die Einzelnen
Die Einzelnen und das Überleben in Krisen
Die fragwürdige direkte Demokratie
Die Krise des Repräsentationssystems
Die EU als Garantiemacht
Machtgestützte Selbstorganisation und Lokalität
Gemeinnutzen und Geschichte
Übergänge und Nähe zu neoliberalem Denken

Die Einzelnen

Auf die „Wiederkehr begrenzter lokaler Selbstbestimmung“ setzt der Planer und Publizist Dieter Hoffmann-Axthelm in seinem neuen Buch (S. 7; alle Seitenzahlen beziehen sich darauf). Sie soll die Probleme und Motive der Bürger wieder behandelbar machen und in die Politik zurückbinden. Die EU muss dabei Garantiemacht werden und die globalen Probleme einbeziehen. Die Einzelstaaten (Nationalstaaten) bleiben wichtig, verlieren aber an Bedeutung.

Zunächst muss der Autor sich zur Präzisierung seiner Ideen mit der „Vereinzelung“ und der „Allegorie“ des Vertrages der Einzelnen zum Staat (S. 10) auseinandersetzen. Thomas Hobbes hat den „Einzelnen“ ins Zentrum seines staatspolitischen Programms gesetzt (S. 9 - sieht man sein Bild in der Londoner Portrait Gallery, hat man den Eindruck, dass er dabei gar nicht so glücklich war). Auch wenn es die Leibnizschen „Monade“ des isolierten Einzelnen nur in den Modellkonstruktionen der politischen Theorie und der Ökonomie gibt, sind doch die realen gesellschaftlichen Prozess der „Vereinzelung“ weitgehend irreversibel. Heute sind alle „in einer historisch neuen Weise für sich selbst Einzelne geworden, eine alles Institutionelle überrennende Wucht der Selbstanmeldung angesichts der Unverwechselbarkeit eines jeden Lebens“ (S. 11) ist eingetreten.

„Die Einzelnen treten keineswegs aus der Gesellschaft aus, aber sie setzen einen Vorbehalt“ gegenüber den Kräften von Wirtschaft, Politik und Kultur, „denen man sein Überleben verdankt“ (S. 12). Das ist keineswegs ein naturwüchsiger Prozess, sondern das Ergebnis der Freisetzung der Marktkräfte, die aus allen sozialen und kulturellen Fesseln der sozialökonomischen und sozialkulturellen Umgangsformen der „Vormoderne“ befreit („entbettet“) wurden (Karl Polanyi, „The great Transformation“ hat das beschrieben).

Schichtenmodelle der Soziologie sagen nichts mehr über „die konkreten Individuen aus, von denen jedes dieses und vieles andere aber auch“ ist (S. 11), weder „Standes- noch Klassenzugehörigkeiten“ (S. 12) sind noch hinreichend aussagekräftig. Gleichwohl erinnern die Sozioökonomie (Fischer, Andreas; Zurstrassen, Bettina [Hrsg. ]: Sozioökomische Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2014) ebenso wie Kommunikationswissenschaft und die Europäische Ethnologie als Kulturwissenschaft daran, dass Individuen nie als isolierte Monaden handeln, sondern immer im Verbund mit anderen. Damit werden „Milieus“ und handlungsleitende sozialkulturelle Normen, also kulturelle Faktoren, aufgewertet. Gern aber werden die größeren Zusammenhänge vergessen. Die „Selbstoptimierung auf Kosten anderer“ (S. 91) in der „Vereinzelung“ steht in den ökonomischen Modellen des homo oeconomicus im Zentrum. Auch die Menschenrechtsdeklaration der UN bezieht sich auf dieses tendenziell isolierte Individuum und seine Freiheit, ausgehend von dem Menschenbild der Renaissance und der Aufklärung. Aber diese Einzelnen, die bei auftretenden Problemen gern in Parallelwelten „desertieren“ (S. 91) sind „mit ihren privaten Entscheidungen … als Akteure in das Ergebnis verwickelt“ (ebd.). Mit dem Bild des „Gefangenendilemmas“ wird dies bei Fred Hirsch und anderen thematisiert: Einzelentscheidungen sind suboptimal, aber Absprachen zwischen den Vereinzelten sind nicht vorgesehen.

Der Staat als Dienstleister entwickelt sich von einer „Agentur der Mehrheitsinteressen“ (S. 92) zu einem „Apparat, der sich selbst zum Zweck ist“ (dem dann aber nicht einmal eine ethische Sinngebung zur Verfügung steht). Die neoliberalen Vorschläge, den allzu starken Staat über den Markt zu regulieren, sind „erst einmal widerlegt“, meint Dieter Hoffmann-Axthelm. Mit solchen Vorstellungen ist der „staatlichen Zähmung ökonomischer Gewalt“ keine Chance gegeben. Aber auch der „Sozialetatismus“ (wie er von vielen Teilen der Linken noch vertreten wird), hilft nicht weiter, noch weniger der Rekurs „auf eine Einheitsvorstellung von Staat und Gemeinwohl, die historisch obsolet ist“ (S. 94).

Die Einzelnen und das Überleben in Krisen

Hervorgehoben wird eine meist wenig beachtete, gleichwohl für Krisensituationen wichtige Dimension: „Wir sind, Dilemma moderner Individualisierung, als Einzelne in keiner Weise mehr der Fähigkeiten primären Überlebens mächtig.“ (S. 16) Angesichts der „multiplen Krisen“ und ihres Potentials von neuen Mauern, Kriegen und Migrationsbewegungen ist diese Frage notwendig zu stellen. Und dazu ist Fußnote 8 auf S. 17 wichtig: „Kritische Agrarexperten diskutieren das Problem derzeit als dass der mangelnden Resilienz – der Unfähigkeit des agrarindustriellen Komplexes, unter den aktuellen Bedingungen weltweiter Abhängigkeiten mit Schocks umzugehen.“

In diesem Zusammenhang wird „Urban Gardening“ kurz genannt. Im Niedergang der Sowjetunion hat sich gezeigt, wie schnell Fähigkeiten der Subsistenzwirtschaft mit Elementen der Selbstversorgung wieder entdeckt werden; im ersten Weltkrieg und nach dem Ende des Zweiten geschah ähnliches. Und der Autor weiß: Es „steckt in jeder Gesellschaft … viel an sich ständig reproduzierender Lebendigkeit“ (S. 19), eben weil der „Einzelne“ nie allein existiert. „Anders als die Vorstellung Revolution besagte, muss also nicht vernichtet und ein ganz Neues proklamiert werden, es wird vielmehr nebengeordnet, eine Entmachtung der hergebrachten Signifikanten“ (S. 19). Das gilt es auch im Zusammenhang mit den bei Hoffmann-Axthelm kaum berücksichtigten neuen und alten „Commons“ und Gemeinnutzen zu beachten.

Weshalb ein in Berlin lebender Autor bei dem Thema „lokal gestützte Reproduktion“ nicht die Schrebergärten erwähnt und Urban Gardening nur beiläufig vorkommt, weiß ich nicht. Immerhin wurden zu DDR-Zeiten bedeutende Teile des Gemüse- und Obstbedarfes der Bevölkerung im eigenen Garten erzeugt (Dietrich, Isolde: Hammer, Zirkel, Gartenzaun. Die Politik der SED gegenüber den Kleingärtnern. Berlin: I. Dietrich 2003; Norderstedt: BoD 2003; dies.: Hammer, Zirkel, Gartenzaun. Die Politik der SED gegenüber den Kleingärtnern. Berlin 2003 [Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 38]), und in ländlichen Gebieten ist das nicht nur in Deutschland immer noch so. In Krisen werden auch „belanglose Inseln der Weltverbesserung oder des Aussteigens“ (S. 59), die der Autor eher abwertend am Rande nennt, interessant.

Der Autor fragt: Wie weit kann ich mich „auf mich selber verlassen“ angesichts der „immensen Suchtpotentials der Einzelnen“? (S. 21) Offen ist, „ob in einer begrenzungsschwachen Realität noch die allgemeinen menschlichen Ressourcen ausreichen – Klugheit, Tatkraft, solidarisches Verhalten, Neugier, Gutwilligkeit usw.“? (S. 22) Er meint mit Blick auf die Erfahrungen der Vergangenheit: „In den Körpern stecken der Arbeitszwang und die Schläge von Jahrhunderten“ (S. 22) – aber, sei ergänzt - auch die positiven Erinnerungen an die Fähigkeit der Selbstorganisation und der Gemeinschaft. Der „Austritt aus den Verständigungszwang, der, mühsam genug, Gesellschaft ausmacht“ (S. 25) produziert „politische Fassungslosigkeit“. Das Private wird so auf neue Weise politisch. Negativ bewertet wird die soziale Kontrolle, dank derer der Einzelne eben nie völlig allein ist und dank deren Gemeinnutzen überhaupt erst möglich wird. Der durch Einsamkeit bestrafte „emanzipatorische Ausstieg aus allen hemmenden Bindungen“ (S. 23) findet selten wirklich so allgemein und konsequent statt (höchstens tentativ und temporär bei Intellektuellen), und „die Chance eines Lebens ohne den Druck patriarchalischer Zwänge und Schuldübertragungen“ (S. 23) wird zwar – vor allem in der (Groß-)Stadt - bezahlt durch den Verlust der Sicherheiten der Rollenzuweisungen, aber immer gibt es auch neue Zuordnungen.

Die fragwürdige direkte Demokratie

Verschiedene Auswege aus der Krise des Politischen werden diskutiert. Der „Widerstand gegen Entmündigung durch Verregelung und Bürokratisierung des Lebens“ (S. 95) ist ein „Widerstand letztlich gegen die Lebensferne politischer Steuerung“, die freilich auch vorangetrieben wird durch die „mentalen Lockerungen“ der „veränderten Lebensentwürfe“ (S. 96). „Es ist der mühsame Übergang von einer wider allen Augenschein als ethnisch homogen erlebten Gesellschaft in eine Gesellschaft der Koexistenz der Verschiedenen, in der alle entweder fremd oder zuhause sind.“ (S. 85/86)

Aber die „Herauslösung der Politik aus dem Gehäuse des Staates“ (S. 96) kann problemreich werden: „Die Direktdemokratie einiger Schweizer Kantone oder US-amerikanischer Communities, so suggestiv sie für den lokalen Bereich ist, versagt angesichts überlokaler [und schon gar globaler, wie Klimawandel oder internationale Gerechtigkeit] Probleme und einer ethnisch gemischten Gesellschaft.“ (S. 96) Möglich ist sie nur auf der „grünen Wiese der Politischen Theorie“ (S. 97).

Volksabstimmungen und andere Beteiligungsformen bilden keine „tragfähige Vermittlungsebene zwischen bindungsfreien Einzelnen und gegebener politischer Verfassung“ (S. 13): Die Abstimmenden gehen mit ihrer Stimmabgabe keine Verpflichtungen ein. „Die Inpflichtnahme der Wähler ist in der Konstruktion repräsentativer Willensbildung im Grunde ausgeschlossen (S. 108). Der „Holzweg“ Volksentscheid krankt daran, dass die „Selbstbindung der Entscheidenden “ fehlt und „mobile öffentlichkeitsfähige Gruppen sich Vorteile zuungunsten der Mehrheit verschaffen“ (S. 60) können. So kann man sagen: „… direkte Demokratie ist in Massengesellschaften zerstörerisch“, sie ist ohne Verantwortung für die materiellen Folgen der Entscheidung, und der Ruf zum allwissenden Diktatur ist nicht weit (S. 29/30).

„Das funktionale Defizit jeder Beteiligung ist, dass sie keine der beiden Seiten wirklich bindet“ (S. 106), so wie bei der Volksabstimmung in der direkten Demokratie niemand direkt die Konsequenzen tragen muss – im Gegensatz zu den (erzwungenen oder freien) Kooperationen auf der unteren Ebene. Die „Tyrannei der Mehrheitsinstinkte“, von der Tocqueville sprach, wird durch „checks and balances“ relativiert (S. 107).

„Das Parlament der Einzelnen stimmt im wesentlichen über Stimmungen ab.“ (S. 26) Das „Durcheinander kontinuierlicher Anmeldungen von Befindlichkeiten, Ängsten, Wünschen und Interessen aus den Tiefen der Gesellschaftsentwicklung“ (S. 26) ist noch keine Politik.

Ich-Politik braucht nicht darüber nachzudenken, inwieweit sie den Staat überfordert. „Es ist die Aufgabe der Repräsentation, zu den massenhaften individuellen Willensbildungen Distanz herzustellen und aus dem Chaos der Konfliktlagen und der resultierenden individuellen Präferenzen politikfähige Themen und Standpunkte zu bilden, die Entscheidbarkeit zulassen“ (S. 27) – etwa auch für größere Zusammenhänge wie globale Probleme. Das Grundgesetz schreibt deswegen den Parteien die Mitwirkung an der politischen Willensbildung zu.

Die Krise des Repräsentationssystems

Das Repräsentationssystem scheitert aus der Perspektive der Individuen zusehends daran, bei „den Fragen zwischen politischer Gleichheit und fortwährender Ungleichheit der Lebenschancen wohlfahrtsstaatlich zu vermitteln oder wenigstens sich und seine Wähler über Möglichkeiten und Grenzen ausreichend aufzuklären.“ (S. 108) Am ehesten wäre dies möglich durch das Einklagen der sozialen Grundrechte, als Gemeingut ausgehandelt und akzeptiert durch die Zustimmung der Staatsbürger (des Volkes) zu den Verfassungen, die der Staat zu gewährleisten verspricht: Grundwerte und Verfassungspatriotismus waren lange Zeit denkbare Integrationsmomente, um wie in der Polis gemeinsames Handeln in der offenen Pluralität zu ermöglichen. Es ist die „Existenz des Staates … der den einzigen noch vorhandenen Anker abgibt.“ (S. 105) Bewältigt werden muss dabei der „mühsame Übergang von einer wider allen Augenschein als ethnisch homogen erlebten Gesellschaft in eine Gesellschaft der Koexistenz der Verschiedenen, in der alle entweder fremd oder zuhause sind.“ (S. 85/86)

Es gilt weitgehend immer noch die Überzeugung, nur ein „Bündnis mit den Wachstumszwängen der Wirtschaft könne den Rückfall in eine massengestützte Diktatur verhindern: auf Wohlstand, nicht auf Freiheit gegründete Loyalität, als Realgrundlage inneren Friedens.“ (S. 106) „Die Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie beruhte ja gerade auf dem Grundsatz der Trennung von politischer Gleichheit und sozialer Ungleichheit.“ (S. 109).

In der Krise des Sozialstaates muss der Staat entweder „die umfassenden Versorgungs- und Garantieansprüche der Einzelnen“ aufnehmen (das wäre die Sicherung der sozialen Grundrechte) oder er „reduziert die gesellschaftliche Eingriffstiefe, senkt die Steuern und überwälzt die entsprechenden Lasten auf die Zivilgesellschaft“ (S. 81) (wie im Neoliberalismus und wie dies in den USA schon lange geschieht).

Die EU als Garantiemacht

Hoffmann-Axthelm weiß: Es „braucht jedwede Institutionalisierung von Basismacht eine um so stärkere Garantiemacht, für welche es zwingend oder immerhin nützlich ist, eine Ermächtigung der untersten Ebene zu fördern“ (S. 31) Das ist für alle historischen Formen der Selbstorganisation eine Selbstverständlichkeit – da waren es Grundherrschaften und übergeordnete Instanzen anderer Art (die von dem Autor angeführten Beispiele von Hanse und Heiligem Römischen Reich beziehen sich darauf; zur historischen Dimension siehe Kramer, Dieter: Machtgestützte Selbstorganisation. Eine Skizze zu Commons und Gemeinnutzen. In: Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung 107, Sept. 2016, S. 76-82). „Die Ebene lokaler Selbstverwaltung würde einen gesteigerten staatlichen Schutzbedarf aufrufen: Erstens: Es ist keine Lokalautonomie denkbar, die nicht ausreichend starke Aufsichtsmacht über sich bräuchte“, und: „Nur gesteigerte staatliche Regulierung von Marktmacht kann den Einschlag globaler Wirtschaftsinteressen, mithin die marktförmige Zerstörung des Lokalen begrenzen“ (S. 80). Die europäischen Staaten haben sich freilich „auf das Modell marktförmiger Steuerung genuin politischer Instrumente geöffnet, so in Verwaltungsreform, Sozial- und Kulturpolitik“ (S. 33), aber damit werden viele Probleme eher verstärkt als gelöst. Es besteht somit ein Dilemma: „Der reale demokratische Spielraum ist in einer Welt nie dagewesener wirtschaftlicher Zugriffsmacht und Wachstumskonkurrenz denkbar klein.“ (S. 109).

Die Atlantik-Charta von 1941 verspricht den Völkern das Recht, selbstbestimmt zu leben, gleichzeitig aber auch offenen Welthandel. Aber das Leben in der Würde der eigenen Kultur und freier Handel vertragen sich nicht immer. Im Dokument über vertrauensbildende Maßnahmen der KSZE-Schlussakte von Helsinki zwischen Ost und West (OSZE-Verträge) vom August 1975 vereinbaren die Staaten daher, „dass ihr Handel mit den verschiedenen Waren auf eine solche Weise erfolgen soll, dass auf den Inlandsmärkten für solche Waren und insbesondere den inländischen Erzeugern gleichartiger oder unmittelbar konkurrierender Waren keine ernstliche Schädigung – gegebenenfalls eine Marktstörung bzw. Marktzerrüttung – entsteht oder zu entstehen droht“. Die aktuell diskutierten Freihandelsverträge nehmen darauf keine Rücksicht, nur die „exception culturelle“ erkämpft mühsam ihre Berechtigung.

„Solange autonome Wirtschaftsmacht die Welt organisiert, ist ohne Staat keine Zähmung derselben möglich.“ (S. 97) Dagegen etwas zu tun wird nur möglich, wenn mehr und mehr Menschen sich vorstellen können, aus den Zwängen der Marktgesellschaft auszusteigen.

Aufgrund der aktuellen Entnationalisierung und globaler Probleme wie „Klimawandel und Ökosysteme, Kapitalnomadismus und Armutsmigration, Terrorismus, Korruption und Epidemien“ (S. 32) reicht der Nationalstaat nicht aus. „Solange autonome Wirtschaftsmacht die Welt organisiert, ist ohne Staat keine Zähmung derselben möglich.“ (S. 97)

Die noch nicht fertige EU ist da trotz aller Probleme alternativlos (S. 35) und nützlich: Sie hat „in spektakulären Streitfällen gegen globale Zugriffe Front gemacht [z. b. beim Freihandel in kulturellen Fragen, D.K.], und sie hat bei aller außenpolitischen Schwäche international einige moralische Autorität aufgebaut: nicht nur machtpolitisch laviert, sondern normativ gewirkt.“ (S. 36) – mit weniger Beschäftigten als die Landesverwaltung von NRW. Und die Kommission hat „das neuzeitliche Programm der Verstaatlichung: Angleichung von Chancen und Rechten, Angleichung der sozialen Normen und der Besteuerungsgrundlagen, Rechtseinheit, Einheitswährung, Freizügigkeit, Diskriminierungsverbot“ mindestens programmatisch zum Thema gemacht, und zwar praktisch unumkehrbar" (S. 43). Den „gesellschaftlichen Interessenpluralismus so weit zu bändigen, dass es weder zu Selbstzerstörung noch zu einseitiger Belastung der Schwächeren kommt“ (S. 45) ist Aufgabe auch der EU. Das alles geht nicht von heute auf morgen. Wie wichtig die Zeitdimension ist, zeigen die Beispiele von Hanse und Heiligem Römischen Reich (S. 41f.).

Kontraproduktiv sind im EU-Raum die deutsche Wirtschaftshegemonie oder die französische „Insistenz auf sinnwidrigen Agrarsubventionen“ (S. 46), die sinnwidrig sind vor allem wegen der „Folgeschäden europäischer Überproduktion in Afrika oder Südamerika“ (S. 47), aber auch wegen der Bodenzerstörung und –belastung. Der „technokratische Universalismus“ (S. 49) der EU wird nur wenig gebrochen durch regionale Förderprogramme, wobei man sich vor der Unterstützung von separatistischen Tendenzen hütet. Die „Verankerung von Autonomie und kultureller Identität auf unterster, lokaler Ebene“ wäre wichtiger (S. 50); Artikel I.47 des EU-Vertrages zusammen mit I-46 erlauben eine „von oben protegierte Konstruktionsaufgabe ganz unten“.

Die Öffnung nach oben, hin zu Europa, relativiert die Bedeutung der Nationalstaaten, aber deren Mehrheiten entscheiden über die Zukunft Europas. Damit sind die nationalen antieuropäischen Protestbewegungen vor allem des „unteren Mittelstands“ wichtig, die es eigentlich schon immer in irgendeiner Form gibt (von „Boutiquenbourgeoisie“ sprach man, als die NPD in das Stadtparlament von Frankfurt am Main einzog).

Europa wird „nicht weiterkommen ohne den Rückgewinn emphatischer Ziele und durch eine freigesetzte Teilungsbereitschaft“, es „braucht neue Großziele“ (S.87 - hier ist ein europäischen Populismus nicht weit!). Ein europäisches Solidarsystem gehören dazu, und das muss von allen akzeptierbar sein (S. 88).

Machtgestützte Selbstorganisation und Lokalität

Die „Selbstheilungskräfte der Gesellschaft“ (S. 109) sind gefragt – wo aber liegen die wenn nicht in der Selbstorganisation der vergesellschafteten Individuen? Der Weg der „Lokaldemokratie“ ist „grundsätzlich innerhalb der politischen Wirklichkeit der europäischen Gesellschaften gangbar“ (S. 53). Ansätze zu gemeinnutzenorientierten Institutionen gibt es mannigfaltig, und sie reichen aus der vorindustriellen Zeit in die Gegenwart. „Moderne“ und Marktwirtschaft können nicht existieren ohne Wertmaßstäbe und Strukturen aus vormarktwirtschaftlichen Lebenswelten. Zwangskörperschaften wie Innungen, berufsständische Ethiken wie die des „guten Kaufmannes“, oder die der Ärzte oder (schwindend) der Journalisten, gehören dazu. Eigenes formelles oder informelles Recht bestehen dabei nebeneinander (s. Kadelbach, Stefan; Günther, Klaus (Hg.): Recht ohne Staat. Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtssetzung. Frankfurt 2011, genannt S. 95). Die interkommunalen Zweckgemeinschaften und Zweckverbände existieren jenseits von Markt und Staat auf der Grundlage öffentlichen Rechts und geschützt durch es. Elinor Ostrom (1999) hat belegt, wie Gemeinnutzen auch in der Gegenwart funktionieren. Neue Formen sind entstanden: Die digitale „Netzgemeinde“ hat eine Menge von informellen Standards jenseits der marktwirtschaftlichen Zwänge aufrechterhalten – inzwischen geraten manche davon (wie die „Netzneutralität“) freilich immer mehr unter Druck.

„Die Gesamtmasse der Einzelnen ist nicht adressierbar, aber alle sind an irgendeinem Ort anwesend. Wenn auf irgendeinen Nenner die unabsehbaren Verschiedenheiten zu bündeln sind, dann über den lokaler Anwesenheit.“ (S. 54) Das gilt unbeschadet der nur punktuell verwirklichbaren Translokalität etwa in Bereichen der Künste (ein Medienkünstler und –theoretiker kann nur deshalb behaupten, er lebe dauernd in Hotels, weil er in Wien zuhause bei seiner Mutter noch seine Ressourcen hat).

Mit der Migration wird die „Distanz zwischen politischen Entscheidungsformen und Bewältigung vor Ort“ zum Tagesthema. „Die geeigneten Bedingungen der Integration können nur auf unterster, auf Alltags- und lokaler Ebene geschaffen werden.“ (S. 86) „Fördern und fordern“ ist auf dieser Ebene problemärmer zu realisieren. Machtteilung, ein „handhabbarer, verwaltungsfähiger Rahmen“ usf. (S. 55) sind in der Lokaldemokratie realisierbar; „territoriale Begrenzung“ (S. 56) ist möglich (vielleicht gar nicht zwingend), es wird „prinzipiell zwischen Verwaltern und Verwalteten nicht unterschieden“ (S. 57; beiläufig wird hier die mittelalterliche Stadtgemeinde erwähnt, sie wird aber zu wenig gewürdigt, denn dort hat all dies in konfliktfähiger Struktur bestanden). Fiskal- und Wirtschaftskompetenz (S. 57) sind erarbeitbar.

Wie soziales Kapital entsteht, hat André Habisch (Bericht Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft. Opladen: Leske + Budrich 2002,S. 729 – 741) erläutert, und die Kulturgeschichte kennt dafür die „machtgestützte Selbstorganisation“ der Allmenden und Gemeinnutzen. Man müsste zu diesem Thema die Auseinandersetzung der Marxisten mit den Commons und der Dorfgemeinde berücksichtigen (s. Wielenga, Bastiaan: Art. Dorfgemeinschaft. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus Sp. 825 – 830). Wer reflexartig negativ auf die damit notwendig verbundene soziale Kontrolle reagiert, wird wenig andere Chancen finden.

Gemeinnutzen und Geschichte

„Das Modell der Lokaldemokratie ist der Versuch, in Weiterdenken der repräsentativen Verfassung die zweite Wurzel europäischer Demokratie wieder zum Sprechen zu bringen, die genossenschaftlicher Selbstverwaltung.“ (S. 100) Aufgegeben, aber nie völlig beseitigt wurde sie mit scheinbarer Sachzwanglogik zugunsten repräsentativer Vertretungskörperschaften, ideen- und staatstheoretisch legitimiert als Entmachtung der „pouvoirs intermédiaires“ (S. 101) zwecks Durchsetzung der Freiheit des Marktes (in der Agrarpolitik seit dem Physiokratismus verbunden mit der Markt-Freiheit des Bodeneigentums mit allen Konsequenzen).

Bei der lokalen Einheit (s. Hoffmann-Axthelm, Dieter: Für eine Örtlichkeit der Politik. ÄuK 59/1985, S. 7-17) spielt die Größe eine Rolle. Als Beispiel werden die „räumlichen Einheiten neuzeitlicher substitutiver Selbstverwaltung“, die aus dem Armutsproblem resultieren, genannt (S. 62) – aber die vormoderne Stadt war in bedeutenden Aspekten (Zunftordnung, Brunnengemeinschaften usf.) mit Verantwortung tragenden oder freiwillig substitutiv tätigen Einheiten (Bruderschaften usf.) durchsetzt. Die Vorschläge von Dieter Hoffmann-Axthelm (64/65) wirken rezepthaft, weil sie nicht anknüpfen an früher existierende und in Restbeständen immer noch existierende bzw. wirkende oder aktivierbare Strukturen von Gemeinnutzen und Selbstorganisation.

Gesagt wird, dass es die Aufgabe der „modernen“ europäischen Nationalstaaten war, „das agrarische wie das industrielle Massenelend aufzuheben“ (S. 99) – das freilich erst mit und durch sie verursacht wurde. Sie sollten dies leisten durch die „Vernichtung der ständestaatlichen Autonomien und der sie tragenden ständischen Vermittlungsschichten des vorrevolutionären [eigentlich „vormodernen“ Europa, denn der Prozess setzt ja schon mit der Etablierung der Territorialstaaten des „aufgeklärten Absolutismus“ ein, dk.], andererseits des korrespondierenden Funktionswechsels der Repräsentation in der Klammer unvergleichlich gesteigerter staatlicher wie wirtschaftlicher Machtstrukturen“ (S. 99/100).

Bei der Bilanzierung der mit der bürgerlichen (marktliberalen) Gesellschaft entstandenen Gewinne und Verluste müssen auch die Zerstörungen der gemeinschaftlichen Selbstorganisation berücksichtigt werden, ebenso die Entfesselung eines kaum mehr kontrollierbaren selbstzweckhaften Wachstums. Welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, ist eine andere Frage. Dieter Hoffmann-Axthelm ist mit seinem Text ein Beitrag zu dieser Diskussion, ebenso wie die „Gemeinwohlökonomie“ mit ihren Gemeinwohlbilanzen oder die neue Genossenschaftsdiskussion.

Wenn man die sozialen Grundrechte, die in den zeitgenössischen Verfassungen neben den liberalen Grundrechten und den Teilhaberechten festgeschrieben sind, als vom „Staatsvolk“ vereinbarte Gemeinnutzen ernst nimmt, kann man deren Implementation gleichwohl nicht nur als direkte Aufgabe des Staates einfordern, sondern muss sie auch verstehen als Leitlinie der Organisation staatlichen (öffentlichen) Handelns in der Zusammenarbeit mit den intermediären Formen der „machtgestützten Gemeinnutzen“.

Mit Hilfe der Sozialgeschichte und der kulturwissenschaftlichen Europäischen Ethnologie (aber auch der außereuropäischen Ethnologie) lässt sich ein breites Feld von Formen der lokalen Selbstorganisation erschließen, das in die Gegenwart hineinragt. Der Autor bezieht sich nur rudimentär darauf und verschenkt damit wichtige Anknüpfungsmöglichkeiten für sein interessantes Programm.

Übergänge und Nähe zu neoliberalem Denken

Dieter Hoffmann-Axthelm fragt: „Gibt es die Chance eines Übergangs zu einer teilweise individuell und lokal gestützten Reproduktion?“ (S. 57) Er erinnert nicht an Schrebergärten und Allmende oder an die „molekularen Wandlungen“ (Dieter Klein: Das Morgen tanzt im Heute. Hamburg: VSA 2013), mit denen mehr und mehr Menschen sich aus den Selbstverständlichkeiten der Marktgesellschaft ausklinken, und durch die in der Politik Veränderungen angestoßen werden können. Die „Demokratisierung des Staates“ als offener Prozess durch die „Ermächtigung des Einzelnen“ (in seinen sozialen Bindungen?) wäre so eine „auf leisen Sohlen daherkommenden Entwicklung“ (S. 93).

Hoffmann-Axthelm ist eher beeindruckt von menschenleeren Fabriken: „Auf der einen Seite greifen die Konsumenten auf industrielle Billigwaren aller Art zu, die in globaler Ferne produziert sind und weltweit vertrieben werden, auf der anderen bilden sich lokale Szenen der Kleinproduktion für hochspezifische wie auch banale individuelle Bedarfe.“ (S. 57/58) Und er sieht in den durch globale Megaproduktion initiierten Trends zu „Digitalisierung, Nanotechnik, Miniaturisierung von Verfahren“ (S. 58) Chancen für lokales Produzieren wie zur privaten Erprobung des Übergangs zu „resilienten Lebens- wie Reproduktionsgemeinschaften.“ (S. 59). Mit Hilfe der Digitalisierung ist eine „Autonomie zweiter Ordnung“ möglich (S. 19), die neuen „digitalen Kompetenzen“ können „die angehäuften sozialen Selbständigkeitsverluste kompensieren“ (S. 20) – vorausgesetzt sie bleiben verfügbar und wirken nicht schon vorher kontraproduktiv.

Aber: „Wenn Arbeitsmarkt und Sozialpolitik die Einzelnen mit Vehemenz zum Wagnis der Selbständigkeit drängen, … führen unterschiedliche Entwicklungsstränge zu einer immer engeren Reglementierung sämtlicher überhaupt greifbarer Tätigkeiten, die den Selbständigen das Leben zur Qual machen.“ (S. 58) Das gilt auch für „von einer Fülle negativer Bedingungen eingeengtes Graswurzelwachsen“ (S. 58). Das erinnert an neoliberale Argumentationen, mit denen einfach mehr Freiheit für „Start up“-Innovationen gefordert werden, aber die Verantwortlichkeit für die Folgen entfesselten Wachstums nicht angemahnt wird. An die historischen und aktuellen Restbestände von Gemeinschaftlichkeit wird nicht erinnert.

„Die utopischen Blüten, die seit Jahrzehnten als belanglose Inseln der Weltverbesserung oder des Aussteigens dahinsegeln, könnten sich dann tatsächlich, technologisch gestützt, zu brauchbaren, Kapital bindenden Kernen eines anstehenden Umbaus gesellschaftlicher Reproduktion verbinden.“ (S. 59) Das ist nicht mehr als die auch von den Vertretern der Wachstumsideologie immer wieder angesprochene und anempfohlene Innovation mit wirtschaftlichen Nutzungen. Viel interessanter aber sind soziale und sozialkulturelle Innovationen wie die Neubelebung der Gemeinnutzenverpflichtungen des Genossenschaftswesens, die „Gemeinwohlbilanzen“ und ähnliches.

Bedingungsloses Grundeinkommen scheint für Hoffmann-Axthelm eher hinderlich, weil jegliches Engagement damit tendenziell überflüssig wird (S. 70f.) (dass dank seiner leichter Engagement übernommen werden kann, steht auf einem andren Blatt).

Die Serie „taz.meinland“ berichtet aus dem sozialkulturellen Leben kleiner Dörfer, in denen soziales Kapital aus Ehrenamt und dem Engagement vieler gewonnen wird, z. B. mit der „roten Bank“ in Dersau, Schleswig-Holstein: Da steht im Ort eine rote Bank, auf die man sich setzt, wenn man in das benachbarte Unterzentrum mitgenommen werden möchte (Oudray, Laila: Dersau könnte überall sein. Wie es so ist in kleinen Dörfern: Die Gemeinschaft funktioniert nur, wenn alle mitmachen. In: TAZ v. 13.März 2017). Solche Beispiele sind beliebig vermehrbar. Dorfläden und solidarisch organisierte Einkaufs- und Mitfahrgelegenheiten helfen nicht nur für die konkreten Anlässe, sondern bedeuten auch „soziales Kapital“ für andere Gelegenheiten (selbst wenn manche Gemeinde oder Nachbarschaft viel mit einem Haifischbecken zu tun haben mag).

„Nähevorteil“ und „Common sense“ sind nicht nur in dem „nichtsubventionierten Stadtteilverein“ (Fn. 15 S. 68), sondern in jedem Feuerwehr- und Sportverein wirksam, ebenso in den Assoziationen der verschiedenen religiösen Vereinigungen.

Damit können auch die von Dieter Hoffmann-Axthelm genannten Einsprüche entkräftet werden, die von Soziologen und Politologen gegen die lokale Demokratie erhoben werden: die Frage der sozialen Entfernungen (sowohl im Sportverein wie in der Bruderschaft werden sie relativiert), die störende Mobilität, die fehlende individuelle Bereitschaft oder die Ungleichheit der Personen (S. 66/67), die „wachsende Tendenz zur sozialen Segregation“ (S. 68, etwa in den geschützten segregierten Wohneinheiten der „gated communities“).

„Die Zeit“ lässt 2017 in einem Dossier einige „Ungehörte“ zu Wort kommenden: Eine Mittelständlerin, die bei den kommunalen Ausschreibungen nicht mithalten kann, weil immer der billigste Anbieter genommen wird, obwohl man sicher sein kann, dass er Sozialstandards nicht einhält. Oder der Staatsanwalt, der weiß, dass die niedrigen vom Gesetz vorgegebenen Strafen gegen kriminelle Banden nicht ausreichen. Oder der Leiharbeiter, der in die Arbeitslosigkeit entlassen wird, während Manager hohe Abfindungen kassieren. Oder die Flüchtlingshelferin, die damit fertig werden muss, dass ihre Arbeit auch von den Flüchtlingen nicht anerkannt wird. Oder die Alleinerziehende, der niemand hilft, ihre Rechte bei dem Kindsvater einzufordern. Alle leben im „toten Winkel der Politik“. „Unsere Gesellschaft spaltet sich inzwischen auf in viele kleine Gruppen, die nicht mehr miteinander auskommen.“ (Aisslinger, Moritz u.a.: Die Ungehörten. … Viele Menschen fühlen sich von der Politik verlassen. In: Die Zeit v. 2. März 2017 S. 15-17: ebd.) Einige dieser Probleme, die den Nährboden für demokratiefeindliche Trends bieten, könnten durch die „Wiederkehr begrenzter lokaler Selbstbestimmung“ (S. 7) relativiert werden. Auf jeden Fall fänden da diese Menschen Gehör.

„Die geöffnete Republik“ (S. 75) mit der „Implementierung lokaler Eigenmächtigkeit“ (S. 75) soll in der Krise der Demokratie auch die „historische Unruhe der Einzelnen“ und der „erodierenden Mittelschichten“ (S. 76/77) auffangen. Es sind die „kommunale Achse: Schnitt zwischen Stadt und Staat“ (S. 78) die „kommunale Ebene, von den Metropolen bis zur Dorfgemeinde, nach wie vor affektiv besetzt“. Die Städte haben aber „das Thema lokaler Selbstverwaltung allerdings historisch ausgewachsen“ und sind „strukturell verstaatlicht“ (S. 78/79; es gibt allerdings nicht nur die Stadt, und die Stadt selbst gliedert sich in viele Untereinheiten und Nachbarschaften!). Zwar sind lokale Einheiten „weder zulässig noch erwünscht“. Sie können aber eingefordert werden, und sie sind in Städten wie Frankfurt am Main auch längst politische Mitwirkungsgremien – zwar mit begrenzten, aber erweiterbaren Kompetenzen.

Es gibt auch den Finanzausgleich zwischen den Kommunen, aber „eine fiskalische Autonomie der Kommunen, die zugleich lokaldemokratisch legitimiert wäre, ergäbe zweifellos eine andere Republik.“ (S. 82). Das Steuermonopol des Staates ist Teil der neuzeitlichen Demokratie. Sozialkosten, Agenturen des Sozialkapitals, Stärkung des „Eigenverbrauchs der Staatsmaschinerie, im Kern der Egoismus des öffentlichen Dienstes“ (S. 83) werden als Probleme genannt (da fehlt nur noch die Beamtenschelte).

Hoffmann-Axthelm macht es dem Leser nicht leicht – manche Sätze muss man zweimal lesen. Aber die Gedanken sind allen Schnellschüssen und leichthin ausgesprochenen „Man müsste“- Überlegungen weit überlegen, und sie lohnen das Nach- und Weiterdenken. Insbesondere sind sie grundsätzlich erweiterungsfähig bezüglich der Referenzen und historischen Beispiele. Es wäre sinnvoll, wenn heutige politische Akteure sich davon inspirieren ließen: Neoliberale „Innovationen“, nur auf Wirtschaftswachstum bezogen, und Sozialetatismus genügen nicht – sozialkulturelle Innovationen stehen an. Und da spielen Gemeinnutzen eine Rolle.

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