Report | Kulturation 2018 | Wolfgang Kaschuba | Beheimatung in der Migrationsgesellschaft?
Vier Annäherungen an ein Heimatverständnis
| Vorgetragen
auf dem 2. Seminar des Arbeitskreises Kultur der
Rosa-Luxemburg-Stiftung "Heimat in der regressiven Moderne" am 07.
Dezember 2018.
Diskurshistorisch betrachtet ist dies hierzulande in der Tat
ein fast schon ewiges und jedenfalls sehr „deutsches“ Thema: die Frage
nach Heimatwelten unter den Bedingungen von Migration und
Globalisierung. Und sie ist auch jetzt wieder hochaktuell, weil zum
einen gegenwärtig ein politisch-medialer Diskurs dominiert, der die
vergangenen drei Jahre als „Flüchtlingskrise“ charakterisiert und
markiert. Und zum anderen und gleichzeitig beschreiben die Trumps,
Gaulands und Seehofers die Globalisierung vor allem als eine
dramatische nationale Kultur- und Identitätskrise, um ihre Strategie
der politischen Re-Nationalisierung und der sozialen Desintegration
begründen und betreiben zu können. Dies macht den Heimatstoff natürlich
zum Dauerthema und zeitigt offenbar auch die entsprechenden Wirkungen:
Der SPIEGEL meldete von der Meinungsforschungsfront am 7.11.2018, dass
nur 5 % der Bevölkerung in Deutschland mit dem Begriff Heimat nichts
anfangen könnten. Ob sich darin aktives Heimatsbewusstsein ausdrückt
oder ein medial erzwungener Diskurseffekt blieb dabei allerdings offen.
Ich will hier nun nicht die lange Geschichte der
Heimatbegriffe und der Beheimatungsstrategien in Deutschland
rekapitulieren, in der es ja zunächst um Heimat als Rechtsinstitut
ging, also um das jahrhundertelang gültige und ganz prosaische
Heimatrecht der Ortsbürger und der feudalen Untertanen; dann um die
emotionale und soziale Konstruktion einer Heimatidylle zwischen
Aufklärung und Romantik; gefolgt von deren nationaler und ethnischer
Aufladung im 19. und 20. Jahrhundert, also vom jenem Heimat- und
Vaterland, das dann in der NS-Terror-Heimat von Volksgemeinschaft und
Holocaust gipfelte; und schließlich um die unterschiedlichsten
Heimatsdebatten in den Nachkriegsjahren und in den beiden deutschen
Nachkriegsgesellschaften. Vielmehr will ich hier nur vier knappe
Annäherungen versuchen an ein Heimatsverständnis, aus und in der
Perspektive der Migrationsgesellschaft – vier Annäherungen, die aus
ganz unterschiedlichen Gründen alle mit einem Fragezeichen versehen
sind – jedenfalls aber auch aus dem gemeinsamen Grund, dass sie damit
zur Diskussion auffordern wollen.
1. Migration als die Mutter all unserer Probleme?
Horst Seehofer, unser Mann aus Ingolstadt, hat kürzlich jenes
zweifelhafte Bonmot produziert, Migration sei die Mutter all unserer
Probleme. Ein Bonmot, das man eigentlich ein Malmot nennen muss: ein
schlechtes Wort, ein Unwort und – zivilisationsgeschichtlich betrachtet
- ein selten unhistorischer und törichter Satz, zumal in einem
historischen Einwanderungsland wie Deutschland. Denn gerade das
deutsche Beispiel zeigt, dass es sich genau umgekehrt verhält.
Migration ist keineswegs die Mutter alle unsere Probleme. Migration ist
vielmehr die Mutter von Gesellschaft!
So sind in der deutschen Geschichte der letzten drei- bis
vierhundert Jahre Einwanderung und Auswanderung, Migration und Flucht
nie das „Problem“ deutscher Geschichte und Gesellschaft gewesen,
sondern stets Teil seiner „Lösung“. Das zeigt schon ein flüchtiger
Blick zurück auf die wichtigsten Stationen unserer
Migrationsgeschichte:
--- auf das Ende des 17. Jahrhunderts etwa mit der
massenhaften Einwanderung der französischen Hugenotten nach Preußen,
die als protestantische Religionsflüchtlinge in Berlin zeitweise bis zu
30 % der Bevölkerung ausmachten,
--- auf das gesamte 19. Jahrhundert, in dem mehr als 7
Millionen Deutsche in die USA auswanderten, nach Seehofer´schem
Sprachgebrauch fast alle „Wirtschaftsflüchtlinge“,
--- auf die Zeit um 1900, als mehr als 1 Million polnische Bergarbeiter sich Ruhrgebiet niederließen,
--- auf die Zeit um 1918, als fast eine halbe Million russische
Revolutionsflüchtlinge vorzugsweise nach Berlin kamen, wo
Charlottenburg vorübergehend zu Charlottengrad umfirmierte,
--- auf die Jahre zwischen 1933-1945, als viel zu wenigen die
Flucht aus Deutschland vor dem Holocaust und der Verfolgung
Andersdenkender gelang,
--- auf die unmittelbare Nachkriegszeit, als 14 Millionen
Flüchtlinge, Heimatvertriebene und Displaced Persons, also KZ-Häftlinge
und Zwangsarbeiter beiderlei Geschlechts, durch Deutschland irrten,
trotz „Volkszugehörigkeit“ weder in der späteren BRD noch DDR
willkommen,
--- auf die 1960er bis 1980er Jahre, als von 12 Millionen
Gastarbeitern aus der Türkei, Italien, Spanien und anderen Ländern sich
schließlich 4 Millionen nicht an das vereinbarte Rotationsprinzip
hielten, sondern einfach im kalten Germanien blieben,
--- auf die Zeit seit 2000, in der fast unbemerkt mehr als eineinhalb Millionen Menschen aus Polen zu uns gekommen sind,
--- oder nun eben auf die Jahre seit 2015 mit rund 1 Million
Geflüchteter vor allem aus Syrien, Afghanistan und aus afrikanischen
Krisenstaaten.
In jedem dieser historischen Fälle bedeutete die massenhafte
Einwanderung oder Auswanderung die Lösung oder jedenfalls die Milderung
einer politischen oder ökonomischen Krise, weil dadurch stets Kriegs-
wie Krisenfolgen abgemildert, weil Arbeitskräftemangel wie
demographische Engpässe ausgeglichen werden konnten. All dies machte
Deutschland längst zum Einwanderungsland und prägte eigentlich auch
seine kollektiven Erfahrungen. Aber es machte Deutschland eben doch
nicht zur Einwanderungsgesellschaft, die also bewusst und aktiv aus
dieser langen Migrationsgeschichte gelernt hätte. Denn es gehört neben
der langen Verdrängung des Holocaust auch zu den Lebenslügen der
deutschen Nachkriegsgesellschaft, dass sie diese vielfältige Ein- und
Auswanderungsgeschichte nie als ein ihr eigenes und krisenhaftes
historisches Faktum akzeptieren wollte.
Deshalb also Horst Seehofer und anderen nochmals ins
Stammbuch, dass gerade in Deutschland die Migration keineswegs die
Mutter all unserer Probleme, sondern vielmehr die Mutter von
Gesellschaft ist. Sonst wäre eben nicht nur die CSU, sondern während
wir alle immer noch mit Steinzeitkonflikten zwischen bayerischen und
fränkischen Horden beschäftigt. Oder etwas seriöser formuliert: Der
Erkenntnisschritt vom Einwanderungsland zur Einwanderungsgesellschaft
in Deutschland war und ist sowohl im Blick auf die nationalen wie
globalen Migrations- und Fluchtbewegungen als auch auf die kulturellen
wie politischen Entwicklungen in unseren gesellschaftlichen Gegenwarten
längst überfällig. Doch wird auch dieser Schritt jetzt nur sehr
zögerlich getan. Nicht umsonst reden wir gerade wieder einmal
verklausuliert zunächst über ein „Fachkräftezuwanderungsgesetz“, das
der Bundestag beschließen soll und das nun immerhin wohl
„Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ heißen wird, aber eben noch immer nicht
klar und deutlich einfach „Einwanderungsgesetz“.
Und erst wenn dieser doppelte Schritt hin zu einem
vollwertigen Einwanderungsgesetz wie zu einer seriösen Debatte um die
Einwanderungsgesellschaft tatsächlich getan ist, können wir dann auch
in neuer und vernünftiger Weise über Integrationspolitik in Deutschland
sprechen. Über eine Politik nämlich – und das wäre meine kurze und
knappe und zentrale These –, die in unserer späten Moderne die
wichtigste gesellschaftspolitische Aufgabe verkörpert:
Integrationspolitik konzipiert als gesamtgesellschaftliches Konzept! -
Als ein Konzept, das Integration und Inklusion also keineswegs nur
verengt auf Flucht und Migration, wie dies aktuell in vielen
europäischen Ländern und auch in der deutschen Debatte zumeist
geschieht, sondern vielmehr verstanden als die große
gesamtgesellschaftliche, gesellschaftspolitische Aufgabe der Gegenwart,
die angesichts der wachsenden Fliehkräfte in den nationalen
Gesellschaften wie in den globalen wirtschaftlichen und kulturellen
Prozessen ganz oben auf unserer Agenda stehen muss.
2. Die Stadt: Beheimatungsort der Minderheiten?
Ich beginne diese zweite Perspektive mit einem Blick zurück auf
die Klassiker. Karl Marx und Friedrich Engels sprechen in den
umstürzenden 1840er Jahren von einer systematischen
Stadt-Land-Dichotomie, in der sich gleichsam noch Kapitalismus und
Feudalismus frontal gegenüberstünden. Im Kommunistischen Manifest
findet sich bekanntlich die berühmte Formulierung von der „Idiotie des
Landlebens“, die dem bäuerlichen Dorf quasi genetisch eigen sei. Nicht
etwa weil Bauern und Landbevölkerung dumm wären, sondern weil das
traditionelle und feudale System statischer Besitzverhältnisse,
repetitiver Wirtschaftsweisen, begrenzter Ressourcen und
bäuerlich-hierarchischer Familienverhältnisse und Dorfkulturen
zwangsläufig zur „Isolierung und Verdummung“ führe. Originalton im
Kommunistischen Manifest: „Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft
der Stadt unterworfen.“ Damit scheint historisch quasi ein koloniales
Verhältnis geschaffen.
Max Weber entwirft dazu als das große Gegenüber das Bild der
modernen städtischen Gesellschaft im Sinne wachsender Bevölkerungen,
industriekapitalistischer Produktion und sich vermischen der sozialer
Milieus. Und die Städte der Neuzeit entstehen in der Tat durch die fast
ungehinderte Zuwanderung von Menschen, von Ideen und von Waren, also
ganz wesentlich durch Migration und Markt. Deshalb bezeichnet Weber die
moderne Stadt auch explizit als „den Ort der Zusammengesiedelten“, eben
nicht mehr nur der Hineingeborenen und der Einheimischen. Wegen dieser
immer neuen Mischung, dieser permanenten Prozessualität städtischer
Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sieht Weber die Stadt als den
zentralen gesellschaftlichen „Raum des Aufstiegs aus der Unfreiheit in
die Freiheit“. Denn erst dort, in der Stadt, kann sich tatsächlich
„Weltfreude“ – wie er es nennt – als kognitive wie emotionale Fähigkeit
tatsächlich entwickeln, also „urbane“ Mentalität, Offenheit und
Toleranz. Und Georg Simmel nimmt diesen Gedanken wiederum kreativ auf,
wenn er in diesem Prozess der Urbanisierung die besonders wichtige und
innovative Rolle des „Fremden“ hervorhebt, der in der Stadt bleiben
darf, weil dort eben auch „Bedarf“ an Neuen und Neuem besteht.
All diese Bilder von Marx über Weber bis Simmel zeichnen in
die Stadträume und in die Stadtkulturen vor allem auch deren
spezifische Eigenschaft ein als Fluchtpunkt und Heimat der
Minderheiten. Denn zivilisationsgeschichtlich betrachtet, verkörpert
die Stadt und vor allem die große Stadt jenen Ort, an dem sich soziale
Minderheiten überhaupt erst finden, formieren und organisieren können.
Nur hier erreichen sie jene Größe der „kritischen Masse“, die es ihnen
ermöglicht, eigene und abweichende Lebensstile öffentlich zu
demonstrieren und zu etablieren. Nur hier können sie eigene kulturelle
Ausdrucksformen entwickeln, in denen sie sich dann nicht nur identitär
wieder finden, sondern sich auch politisch emanzipieren und ganz
praktisch ihre Rechts- und Lebenssituation verbessern können. Insofern
gilt, dass die moderne Stadt ebenso der Geburtsort minoritärer Gruppen
und Kulturen ist, wie umgekehrt die Minderheiten seit Generationen die
Stadtkultur ganz entscheidend mit prägen.
Dies gilt in unterschiedlichen Zeiten und in verschiedensten
Kontexten: für Arbeiterkulturen wie Migrantengruppen, für jüdische
Gemeinden wie Freidenker, für die Frauenbewegungen wie politische
Protestbewegungen, für Schwulenbewegungen wie künstlerische
Subkulturen, für ökologische Initiativen wie vegetarische Milieus. Ihre
Werte und Ideen, ihre Praktiken und Rituale, ihrer literarischen und
musikalischen Manifestationen, ihre körperpolitischen wie
partnerschaftlichen Performanzen prägen die Stadtkultur heute längst
mehr und nachhaltiger mit als viele einheimische Traditionen à la „Mir
san mir“ oder „America first“. Gerade die urbanen Lebensstile der
Moderne verkörpern in hohem Maße minoritäre soziale und kulturelle
Traditionen.
Dabei stehen die Minderheiten auch in den Augen der
Mehrheitsgesellschaft vielfach für das Außergewöhnliche, das Exotische,
eben wie eine Art Indie-Kultur, die sich die Mainstream entgegen
stellt. Denn prominent vertreten sind darin eben auch Vorstellungen von
persönlicher Autonomie und Freiheit, wie sie heutigen Jugendkulturen
und Stadtkulturen als Vision vorschweben. Und dies erklärt letztlich
auch den Erfolg vieler urbaner Stilelemente in Gestalt etwa von Clubs
wie Stadtstränden, von Word-Musik wie CSD-Paraden, von Food-Festivals
wie Boccia-Bahnen, von karnevalistischen wie subkulturellen
Veranstaltungsformaten, also von einem spezifischen Typus von
kulturellen Locations und Events, wie wir sie heute in fast allen
großen europäischen wie außereuropäischen Städten vorfinden.
Und weil sich diese kulturellen Orte, Szenen und Praktiken der
Minderheiten oft nur sehr langsam und mühsam etablieren ließen, werden
sie stets auch in besonderer Weise fortgeführt und gepflegt. Denn in
der hoch kompetitiven Stadtkultur müssen erobertes Terrain und
besetzter Raum immer aktiv verteidigt werden. Davon hängt gerade für
die Minderheiten existenziell ab, ob und wie sie öffentlich auftreten
und wie sie privat leben können. Auch deshalb ist ihr kultureller
Einfluss in den Städten so groß, so nachhaltig und so wichtig.
Gerade deshalb wird an ihnen aber auch die Kehrseite dieses
neuen Urban Hype besonders gut sichtbar. Was wir nämlich als neue
Diversität der Stadtgesellschaft loben und als kosmopolitische
Stadtkultur feiern, also die Stadt als Ort der gegenseitigen Akzeptanz
und Toleranz von Mehrheiten und Minderheiten, von alten und neuen
Einheimischen wie von alten und neuen Migranten – das scheint für
andere ganz im Gegenteil ein rotes (oder regenbogenfarbiges) Tuch zu
sein. Dies meint auch Alexander Gaulands jüngste Formulierung etwa von
den „globalen Klassen“ und den „heimatlosen Eliten“, die unsere großen
Städte angeblich bevölkern und beherrschen. Und er meint damit
natürlich uns!
Denn die Politik der Rechten ist systematisch auf die
Bekämpfung dieser besonderen Beheimatungsqualität der großen Städte
ausgerichtet. Es ist in der Tat unsere Vielfalt und Freiheit, die von
ihnen ganz aktuell bedroht und angegriffen wird, wenn in zahllosen
Stadträten und in den Landesparlamenten wie im Bundestag etwa jene
Politik der „Kleinen Anfrage“ eingesetzt wird, die nun überall zu
beobachten ist. Wie etwa im Falle des Kinder- und Jugendtheaters
Rostock, wo die AfD im Stadtrat um detaillierte Auskunft darüber bat,
welchem Konzept dieses Theater folge, wie seine Finanzierung aussehe
und ob es überhaupt benötigt werde. Damit geraten Kultureinrichtungen
wie städtische Gruppen wie migrantische Minderheiten automatisch in
eine defensive Position. Weil sich Politik und Öffentlichkeit oft nicht
gleich vor sie stellen und auch weil Stadt- oder Länderverwaltungen
dann oft ungehaltener gegenüber solchen Kultureinrichtungen reagieren -
wegen der damit verbundenen Mehrarbeit - als gegenüber den
Fragestellern. Wie schnell diese defensive Position denn auch zu
politischem Fehlverhalten und zu Feigheit führen kann, haben wir leider
erst kürzlich im Beispiele des Dessauer Bauhauses im Umgang mit dem
Konzert der Band „Feine Sahne Fischfilet“ beobachten müssen.
3. Einheimisch- statt Heimisch-Sein - oder: Die Rache der Dörfer?
Denn die sich gegenwärtig vertiefende soziale Spaltung in den
westlichen Gesellschaften wird von den Rechtspopulisten ganz
unmittelbar mit diesem Aufstieg der Minderheiten in den Städten und
nach 1968 verbunden und mit der dadurch verursachten Auflösung der
autoritären Nachkriegsgesellschaften. Sie argumentieren, dass diese
„völkische Spaltung“ wesentlich erst durch jenen Sündenfall entstanden
sei, also durch den Anti-Nationalismus und den Pluralismus der 68er
Generation: als Folge einerseits der sozialen und politischen
Etablierung von Protest- und Ökoinitiativen, von Frauen- und
Schwulenbewegungen, wie als Folge andererseits der Zuwanderung von
„Gastarbeitern“, Migranten und Flüchtlingen. All dies zusammen habe zu
einer schleichenden kulturellen und mentalen „Überfremdung“ unserer
Gesellschaften geführt. Deshalb suggerieren sie vor allem den
Angehörigen der älteren Generationen und der eher
ländlich-kleinstädtischen sozialen Milieus, dass ihre eigenen
Lebensstile und ihre Zukunft dadurch bedroht seien, dass sie von
Fremden überrannt würden, dass sie nicht mehr Herr im eigenen Hause
seien, sondern zu den Vergessenen und Vernachlässigten gehörten.
So hat sich vor wenigen Wochen die Jugendorganisation der FPÖ,
die Jungen Freiheitlichen, in einem Jahreskalender an die
bio-österreichischen Jugendlichen gewandt mit der Warnung, dass die
vielen Fremden im Alpenland die Traditionen und die Lebensentwürfe der
einheimischen Jugendlichen beschneiden und verdrängen würden. In
grotesker Umkehrung der Realität, in der die Jugendlichen vor
ländlicher Konvention und familiärer Hierarchie in die Städte als die
Orte beruflicher, lebensstilbezogener, beziehungsmäßiger und sexueller
Freiheit fliehen, wird diese Flucht in Verdrängung umgedeutet. Und es
wird in hysterischem Grundton und provokativer Absicht die Furcht
geschürt, dass all diese Anderen und Fremden nun die lokale
Gesellschaft übernehmen. So wird Bedrohung insinuiert und Besorgnis
geschürt, um sich dann selbst als Retter der Unterdrückten inszenieren
zu können. Als Ausweg wird ein Cultural Backlash vorgeschlagen, der wie
eine gesellschaftliche Reset-Taste wieder die sozialen Kulissen und die
kulturellen Werte der 1950er Jahre auf die Bühne bringen soll, also die
autoritäre Konsensgesellschaft der Nachkriegsmoderne statt die
hedonistische Lebensstil-Gesellschaft der Postmoderne.
Implizit wie expliziter fordert dieser Backlash damit aber
auch dazu auf, die Minderheitenkulturen der Städte zurückzudrängen.
Denn wer brauche Kopftuchmädchen und Messerstecher, wachsende
Gleichberechtigung und gleichgeschlechtliche Ehe,
Schwangerschaftsabbruch und Anti-Diskriminierungsverbot? Doch nur jene
Anderen, die sich frech breitmachen, nicht die Einheimischen, die
dadurch an die Wand gedrückt würden. Wie dies dann medial und politisch
klingt, lässt sich ganz aktuell ebenfalls in der österreichischen
Politik beobachten, wo Vorschläge etwa zur Rückabwicklung von
„Gender-Wahnsinn“ wie „Asyl-Tourismus“, von Homo-Ehe wie Deutschkursen,
auch von ökologischen Konzepten im Umfeld von Rauchverboten und
Geschwindigkeitsbegrenzungen längst salonfähig sind. Denn dies sind
Vorschläge, die inzwischen vielfach auch aus der sogenannten
bürgerlichen Mitte kommen. Diese Mitte hat oft eben ihre eigenen Kinder
gleichsam an die Großstädte und an die Minderheiten verloren, weil
diese dort eigenen und anderen Lebensentwürfen folgen können als immer
nur denen der Elterngeneration. Deshalb stehen die einheimischen weißen
älteren Männer und auch viele weiße ältere Frauen ohne sich dessen
bewusst zu sein oft in einer Reihe mit türkisch- und arabischstämmigen
Vätern und mit muslimischen Predigern, die ihren Frauen und Töchtern
ebenfalls wenig Raum zur selbstständigen Entfaltung lassen wollen.
In dieser Hinsicht zumindest äußert sich darin auch eine
Koalition der Gestrigen, die sich gegen das Heute richtet. Und dieses
Heute verkörpern vor allem die Städte und die Minderheiten, die nun
ihrerseits bedroht und bekämpft werden müssen. So klingt es wie eine
Art späte „Rache der Dörfer“, die hier konkret adressiert: „Ihr habt
uns das Einfache, das Eindeutige, das Versichernde genommen: unsere
heile Welt der Dorffeste und der Schützenvereine, sogar unsere Zukunft
und unserer Kinder! Nun nehmen wir Euch die Freiheiten!“
Ich denke daher, dass es an diesem Punkt keineswegs nur um
Nostalgie und Folklore geht, sondern tatsächlich um die neuen
„Freiheiten“: als Chance wie als Zumutung. Und gerade in der Geschichte
der Stadt haben wir gelernt, dass nur mit der Verteidigung auch der
Freiheit der jeweils Anderen, der anderen Minderheiten und Interessen,
auch unsere eigenen und jeweils auch „minoritären“ Freiheiten
verteidigt werden können. Denn die Rechte betreibt ihre Politik der
Ausgrenzung auch als eine Politik der moralischen Disqualifizierung und
der sozialen Beschämung. Wenn Flüchtlinge als „Asyltouristen“,
alleinerziehende Mütter als der (männlichen) Vormundschaft Bedürftige
und Obdachlose als „Sozialversager“ beschimpft werden, dann sollen
damit auch Gruppenidentitäten wie individuelle Selbstbilder beschädigt
und zerstört werden und damit letztlich auch moralisch-ethische
Fundamente der Gesellschaft. Dies ist der eigentliche kriminelle Kern
der rechten Politik der Gaulands und der Trumps.
Deshalb ist meine Formulierung von der „Rache der Dörfer“
natürlich auch nur eine Metapher, keineswegs ein diagnostischer oder
analytischer Befund. Doch soll das Bild zumindest darauf hinweisen,
dass auch in der aktuellen Heimatdebatte mindestens zwei völlig
konträre Gesellschaftsentwürfe unterwegs sind: die einer offenen und
die einer geschlossenen Heimat. Und dieser Konflikt wird in der
Gesellschaft heute ganz aktiv im Blick gerade auf Mobilität und
Migration ausgetragen. Das zeigt sich vor allem auch in den viel
weniger beachteten Prozessen der nationalen wie der europäischen
Binnenmigration. Denn dort zeichnet sich eine noch anwachsende Tendenz
ab zum ländlichen „Brain-Drain“ wie „Youth-Drain“. Sichtbar wird dies
etwa in der massenhaften Abwanderung von Jugendlichen und jungen
Erwachsenen, vor allem aber von jungen Frauen aus ländlichen Regionen
in die Städte. Das geschieht regional in den neuen Bundesländern ebenso
wie in Bayern oder in Schleswig Holstein. Und dies vollzieht sich im
europäischen Raum von Moskau bis Schottland und von Palermo bis
Helsinki. Aus guten Gründen, denn die Strukturschwäche des Landes
drückt sich in oft flächig schlechten Angeboten aus, vom Bildungssystem
bis zur Berufsausbildung, von den Jobs bis zu den Löhnen, von der
starren Sozialstruktur bis zur kulturellen Traditionalität.
Demgegenüber wird in den Städten neben den besseren Möglichkeiten in
Ausbildung und Beruf vor allem das Angebot an Lebensstilen und die
Freiheit der Lebensentwürfe gesucht und gefunden: von der Musik bis zur
Mode, vom Konsum bis zum Geschmack, von Sport bis Sexualität, von
Esskultur bis Event – kurz: Identität und Autonomie jedenfalls als Idee
und als Versprechen.
Damit jedoch verlieren die Dorfgesellschaften auch ihre
Jungen, veränderungswilligen und kreativen Potenziale. Um Georg Simmel
nochmals zu variieren, der immer die besondere innovative Rolle des
Fremden betonte: Im Dorf bilden die Jungen quasi die eigenen Fremden,
die in dieser ländlichen Gemeinschaft aber wegen deren Ordnungssinn und
Konventionstreue eben nicht anders als die Eltern, nicht „fremd“ sein
dürfen und die deswegen auch nicht bleiben. Diese Abwanderung hat
erhebliche gesellschaftliche wie politische Konsequenzen, weil sie vor
Ort deutlich weniger Zivilgesellschaft und deutlich mehr konservative
Politik bedeutet. Und dieser damit verbundene mentalitäre Wandel ist
teilweise wirklich dramatisch, wenn man sich allein den europäischen
Horizont betrachtet: etwa Ungarn, wo hunderttausende junger Erwachsener
in den letzten Jahren nach Westen gezogen sind, die als Gegenpart zu
Orbans Anhängern nun fehlen. Budapest wird gewissermaßen längst von der
Puszta aus regiert. Oder Polen, wo es Warschau ganz ähnlich ergeht,
denn fast 3 Millionen junger Polinnen und Polen sind vor allem in
Deutschland und England unterwegs und damit faktisch aus der
gesellschaftlichen Politik Polens ausgewandert. Das schlägt sich
wiederum positiv auf den Konten der Kaczynskis und der katholischen
Kirche nieder. Ähnliche Tendenzen lassen sich auch in Rumänien,
Russland oder in der Türkei beobachten. Und auch Trump konnte bei den
Midterms ja sämtliche großen Städte in den USA eben nicht gewinnen.
So ergibt sich in den letzten Jahren vor allem auch durch
eine im einzelnen zunächst unauffällige Binnenmigration der Jungen in
die Städte eine unübersehbare Konservierung und Konservativierung des
Landes, die durch Abwanderung und gleichzeitige Alterung der
Einheimischen noch beschleunigt wird. Deshalb wird es auch so wichtig
sein, die Blicke nun auf Italien und Spanien zu richten, wo hohe
Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit ebenfalls vielfach den
regionalen Exodus aus ländlichen Räumen bedeutet und wo die Politik
eines Salvini intellektuell wie habituell die Jungen eher abstößt als
zurückhält. Überspitzt formuliert: Die Jugend flieht vielfach offenbar
aus der Heimat in die Freiheit, weil die Stadtparty dem Dorffriedhof
deutlich vorgezogen wird.
4. Beheimatung in Lebensstilen?
Eine neue amerikanische Studie zu Trumps Strategie des „America
First“, die überall in den Medien zitiert wurde, trägt den Titel
„Hidden Tribes“. Sie fragt damit nach den wirklichen Machern und
Antreibern der sozialen Spaltung in der amerikanischen Gesellschaft.
Und sie sieht die extremen Akteure beider Seiten vor allem in den
Reihen der Reichen, der Akademiker und der gehobenen Mittelschichten.
Tenor: Diese Gruppen trügen im Themenspektrum von Migration über
Geschlecht bis Toleranz gegenwärtig ihre moralischen Gefechte
gegeneinander aus im Sinne eines Kampfes um Gesellschafts- und
Deutungsmacht von oben. Das Sinus-Institut wiederum bezeichnet die
entsprechende soziale Gemengelage in Deutschland als das
„gesellschaftliche Leitmilieu“, dem kaum 20 % der Bevölkerung
angehörten und das bei uns dennoch die politischen Debatten führe und
präge.
Diese Befunde erscheinen mir richtig und falsch zugleich.
Richtig etwa im Blick auf Deutschland und auf die abgehobene Sphäre der
Leitmedien von der ZEIT bis zur Talkshow, in der die Diskursivierung
der gesellschaftliche Themen und Konflikte durch die benannten Akteure
deutlich weiter reicht und schärfer geführt wird als im Alltag und in
der sozialen Praxis der Bevölkerung. Deshalb „talken“ unsere medialen
Oberlehrerinnen und Oberlehrer auch an der großen Mehrheit der
Bevölkerung vorbei. Falsch im Blick auf die gesellschaftliche Haltung
und Rolle der Restgesellschaft, insbesondere der jüngeren Generationen.
Denn die nehmen meist weder ZEIT noch Anne Will überhaupt war, nehmen
daher auch keinen Einfluss auf diese Eliten-Diskurse und haben auch
keinerlei Interesse daran. Sie orientieren sich in ihren eigenen
individuellen wie kollektiven Lebensentwürfen jedoch sehr wohl an
übergreifenden Werten und Vorstellungen etwa von offener Gesellschaft
und Welt, von unbegrenzter Mobilität und Teilhabe, von persönlicher
Autonomie und Freiheit. Weil dies längst reale und nicht mehr nur
diskursive Bedingungen ihrer eigenen Lebensführung und ihrer
Lebensentwürfe sind: grenzenloses Reisen und viele kleine Migrationen
wegen Ausbildung, Job und Liebe, Freundschaften und soziale Netzwerke
der Zukunft statt der Herkunft, kulturelle Einstellungen Praktiken der
Konvergenz statt der Differenz im Alltag. Damit dominieren in ihren
Vorstellungen auch Bilder einer eher fluiden als festen Welt, also
einer Gesellschaft, die gemischt und lieber kosmopolitisch als
lokalistisch daherkommt. Auch wenn das manchmal mehr Stress im Alltag
und immer höhere Mieten bedeutet...
Natürlich bedeutet solch ein Lebensentwurf angesichts
individueller wie familiärer Ressourcen für viele zunächst eher eine
Utopie. Dennoch ist es oft eben eine durchaus konstruktive und konkrete
Utopie, wie sich jüngst bei einer Umfrage in Berlin unter Jugendlichen
mit migrantischem Hintergrund zeigte. Diese, gefragt nach ihrem
persönlichen und idealen Wohntraum, nannten in der weit überwiegenden
Mehrheit: Maisonette-Wohnung mit Dachterrasse in der City! Also kein
Wohnen in Familienidylle und Naturnähe, sondern tatsächlich im
baulichen Prototypen urbaner Lebensstile und individueller Freiheit.
Und in diesem individuellen Lebensentwurf treffen sich im Übrigen die
Biografien von Einheimischen mit denen von Migranten wie Geflüchteten:
Die einen wollen unbedingt, die anderen müssen um jeden Preis ihr Leben
selbst und neu entwerfen.
Jedenfalls haben wir die Grenzen der Vergemeinschaftung in den
dunklen Kapitel der deutschen Geschichte bereits auf recht dramatische
Weise kennen gelernt. Die Grenzen der Individualität hingegen müssen
wir heute wohl noch weiter erkunden und austesten. Doch wenn nicht
alles täuscht, steht diese Idee der Individualität und Autonomie oft,
wenn nicht sogar meist in enger Korrespondenz zu Vorstellungen von
Teilhabe und Verantwortung. Etwa im Sinne eines neuen Kommunitarismus,
dessen Ideen vor allem Jugendliche und junge Erwachsene von der
Sozialpolitik über die Zivilgesellschaft bis in die Ökologie hinein
beschäftigen. Dafür spricht auch die neue Rolle von Nachbarschaften,
von Kiezen, von Vierteln im zivilgesellschaftlichen Leben der Städte,
durch die neue urbane Kontaktformen und Kontaktzonen aufgebaut und von
denen die Stadtlandschaft wie Stadtgesellschaft als gemeinsame
Ressourcen neu definiert und beansprucht wird. Und dies zeigt sich auch
in der zunehmenden Öffnung des Privates hin zum Öffentlichen, wenn es
um konkrete soziale Bedürfnisse und Initiativen geht, wenn also vor Ort
konkrete Beheimatung in soziale Nahwelten betrieben wird.
Deshalb ist die Fixierung unserer Diskurse auf Migration und
Flucht in der Tat eben nur ein gefährliches Scheingefecht oder
zumindest nutzlose Symbolpolitik. Denn die Neuen und die Fremden sind
lediglich eine willkommene Projektionsfläche für diffuse Ängste,
Vorteile und Unsicherheiten, die allesamt jedoch eher lebensweltlichen
als migrationspolitischen Ursprung sind, auch wenn diese Lebenswelten
natürlich längst im Sog des globalen Stroms liegen. Der Salzburger
Schriftsteller Clemens Reynolds hatte ganz in diesem Sinne am 01. 11.
2017 im Berliner Tagesspiegel zum Wahlsieg der Österreichischen
Volkspartei geschrieben: „Der Erfolg kam zu Stande, weil sich Sebastian
Kurz ein Thema vom rechten Rand holte und es auf adrette Weise im
bürgerlichen Wohnzimmer präsentierte: den Hass auf Ausländer. Kurz ist
es gelungen, den Rassismus in der Mitte der Gesellschaft salonfähig zu
machen. Das ist der eigentliche Skandal. Er hat alle politisch
relevanten Fragen mit dem Thema Flüchtlinge verbunden, gerne auch mit
islamischen Terroristen, die bekanntlich den Berufstätigen in
Österreich den Weg zum Arbeitsplatz versperren, Kinder am Schulbesuch
hindern und uns im Kaffeehaus die Butter vom Brot stehlen.“
Diese Strategie war und ist also durchaus erfolgreich –
keineswegs nur in Österreich, sondern auch in Deutschland. Und dies,
obwohl doch die weit überwiegende Mehrheit unserer Gesellschaften mit
Kultur im Sinne ethnischer Zugehörigkeiten wenig mehr anfangen kann.
Das zeigen sowohl die Umfragen wie die kulturellen Praktiken im Alltag.
Denn für gesellschaftliche Mehrheiten meint Kultur längst jenes weite
Feld der Lebensentwürfe und der Lebensstile, welches in den einzelnen
Lebensabschnitten ganz unterschiedliche Formen von Autonomie wie von
Bindung ermöglicht. Das also auch ein weites Feld eröffnet, indem die
Idee und das Ethos einer offenen Gesellschaft bereits existiert und
praktiziert wird und in dem die Visionen wie die Erfahrungen einer
jüngeren, eher postraditionalen und postnationalen Generation
dominieren. Dabei mag diese Idee von Individualität und Autonomie als
Identitätskonzept ja durchaus eine Schimäre sein, angesichts von
stylischem Konsumsterror, von veganem Moralismus und von
denunziatorischem Facebook. Aber wie es scheint eine überaus
wirkmächtige Schimäre, die zu unserem gemeinsamen Glück von jüngeren
Mehrheiten dem älteren Retro-Alptraum bayerischer oder sächsischer
Nachkriegsheimaten offenbar deutlich vorgezogen wird.
Damit jedoch – und darauf kommt es mir hier an – stehen dem
Bild von der bedrohten eigenen Kultur eben nicht primär die
Geflüchteten und Migranten als die Anderen, Bedrohenden, Zerstörenden
gegenüber. Vielmehr sind es mindestens ebenso sehr die „anderen“
Eigenen, also die städtischen Regionen und die jüngeren Generationen
und oft eben auch die eigenen Kinder, die nunmehr „anders“ leben. Die
eben auch die Erbschaft der Eltern in sozialer wie kultureller,
ethnischer wie religiöser Hinsicht oft nicht mehr antreten wollen.
Dahinter stehen ganz offensichtlich unterschiedliche Wahrnehmungen
gesellschaftlicher Prozesse und unterschiedliche Vorstellungen darüber,
in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Nochmals sehr zugespitzt: im
Reich individueller Freiheit und kultureller Autonomie oder im Reich
konventioneller Werte und kollektiver Bindung? Man könnte im Blick auf
Lebensentwürfe auch fragen: in einer Lebenswelt mit höherem sozialem
Risiko oder mit mehr kultureller Sicherheit? Oder auch sozial räumlich
kontrastiert: in metropolitanen Stadtwelten oder in lokalen
Face-to-Face-Communities?
Gleichgültig jedoch, wie man die Phänomene nun sortiert und
formuliert, für mich steht dahinter die große und pathetische Frage
nach dem Maß an individueller Freiheit und gesellschaftlicher
Verantwortung, dass wir uns zutrauen wollen – oder eben auch nicht. Und
ich fürchte, die bisherigen Antworten auf diese Frage aus den
unterschiedlichsten Richtungen unserer Einstellungs-, Milieu- und
Politikforschung sind bislang noch wenig solide und valide. Aus
vielerlei Gründen: weil Reden und Handeln heute offenbar besonders weit
auseinander liegen und weil Einstellungen im Zeichen der politischen
Korrektheit offenbar fast nur mehr Echoeffekte abbilden, also mehr über
Legitimität als über Wirklichkeit verraten; weil viele unserer
empirischen und diagnostischen Instrumente methodisch wie kategorial
noch eher dem Nachkrieg nachhängen als das Heute spiegeln – etwa im
Blick auf Milieu- oder Gesellschafts- oder Nationskonzepte; weil im
Hinterkopf auch immer noch statische Kategorien dominieren, die sich an
Reinheit und Differenz orientieren statt an der tatsächlichen
Hybridisierung und Prozessualisierung unserer lebensweltlichen
Horizonte.
Über die Integration und Inklusion von Individuen in unsere
gemeinsamen Lebensstile jedenfalls, also über die Integration von
Gesellschaft insgesamt und nicht nur von Geflüchteten, habe ich in
diesem Jahr in der Donaustraße in Neukölln oder im Strandbad Plötzensee
in Tegel jedenfalls mehr gelernt als bei der Lektüre vieler kultur- und
sozialwissenschaftlicher Aufsätze. Nur in drei Bildern ausgedrückt: das
ältere muslimische Paar, das Händchen haltend durch die Donaustraße
geht und nicht mehr in drei Schritten Abstand wie noch vor 15 Jahren;
der Kreuzberger Altrocker, der wacker schwarzen Hoodie und viel Metall
trägt, im Übrigen aber vergnügt mit seinem Rollator unterwegs ist; oder
die beiden Freundinnen im Strandbad, ebenfalls Hand in Hand, die eine
im Bikini die andere im Burkini. Dies alles sind Bilder nicht einer
Gutmenschenromantik, sondern der sozialen Praxis in offenen
Gesellschaften, die es gewiss nicht nur so gibt, aber eben auch: immer
wieder so. Und die sich eben auch längst nicht mehr in getrennten,
parallelen, homogenen Lebenswelten abspielen, sondern in vielen kleinen
Erscheinungsformen, die neue Mischungen und Symptome eines sozialen und
kulturellen „Dazwischen“ dokumentieren. Eines Dazwischen, dass
permanent wächst in den Räumen und Gestalten der
Einwanderungsgesellschaft wie der Lebensstilgesellschaft. Und in diese
Zwischenräume, in diese Mischungen, in diese hybriden Konstellationen
sind wir wissenschaftlich noch viel zu wenig vorgestoßen.
Natürlich hat vieles davon mit Migration und Flucht, mit
Kulturalisierung und Globalisierung zu tun. Entscheidend dabei aber ist
gerade in der deutschen Situation die historisch fundierte
Ausgangsperspektive: eben nicht jene populistische eines zunehmend
erratischen Innenminister Seehofer, sondern die historisch und
wissenschaftlich aufgeklärte, in der Migration in der Tat die „Mutter
von Gesellschaft“ verkörpert: nicht immer geliebt, aber jedenfalls
unverzichtbar.
Die damit verbundenen sozialen Bewegungen und kulturellen
Prozesse, die globalen und lokalen Konflikte genauer zu beobachten und
besser zu verstehen, die unsere Gesellschaften in ihrem
Selbstverständnis heute so dramatisch beeinflussen und verändern: Das
wäre und ist dann auch die Hauptaufgabe, das sind die wichtigen und
lohnenden Ziele einer Gesellschaftspolitik wie einer kultur- und
sozialwissenschaftlichen Forschung. Heimat nicht mehr einfach als die
„Ordnung der Welt“ festzuschreiben, sondern sie als „Prozessualität der
Welt“ zu verstehen und zu erklären, das ist das Ziel. Dann vollzieht
sich Beheimatung auch nicht mehr nur in Orten, sondern in
Lebensentwürfen und nicht mehr nur mit Verweis auf Herkünfte, sondern
auf Zukünfte!
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