Report | Kulturation 2018 | Dieter Kramer | Die Nutzung des Reichtums
Ein Essay
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anlässlich des Buches von Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte
der Renaissance. Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung.
München: C.H.Beck 3. Aufl.2018, 1304 S.
1. Einleitung
2. Niedergänge, Aufstiege und das evolutionistische Weltbild
3. Neue Akzentuierungen: Scholastik als Praeludium
4. Die „Diskursrevolution“
5. Die Aufwertung des Menschen: Lukrez, Valla und Mirandola
6. Die Horizontale und die Vertikale
7. Die einfachen Leute
8. Gemeinnutzen und Korporationen
9. Warum nicht in China?
10. Wozu Reichtum?
1. Einleitung
Was fange ich mit diesem Buch an? Das Thema Renaissance und der
Titel locken, ein gewaltiges Kompendium von Informationen wird
präsentiert, den verschiedensten Interessen Nahrung bietend, Anregungen
vieler Art vermittelnd. In diesem Essay ist notwendigerweise
Konzentration verlangt.
Zunächst zur Form: Über 1300 Seiten, mit wenigen, aber
bedacht ausgewählten, oft nicht alltäglichen Abbildungen im Text und
auf zwei Blöcken in Farbe. Anmerkungen, Quellen und Literatur,
Bildnachweis und Personenregister sind im Anhang. Es ist ein dickes
„Großbuch“ wie die sechs Bände zur „Geschichte der Welt“ der gleichen
Stiftung und des gleichen Verlages.
Über manche Strecken liest sich das Buch wie ein willkommener
Nachhilfeunterricht in Geschichte, freilich vergleichend und mit stark
gesamteuropäischer, teilweise globaler Akzentuierung. Ausführlich zum
Thema wird die ganze europäische Welt, für die in der „Geschichte der
Welt“ von Iriye/Osterhammel (aus dem gleichen Verlag, s. Rez. Dieter
Kramer in Kulturation) eher zu wenig Platz ist. Die Zeit vom Ende der
Antike bis zum Ausbruch des 30jährigen Krieges ist einbezogen.
2. Niedergänge, Aufstiege und das evolutionistische Weltbild
Kritik soll am Anfang erledigt werden, dann bleibt genügend
Aufmerksamkeit für die Anregungen. Der Titel signalisiert ein durchaus
evolutionistisches Weltbild. War das der (ein) „Morgen der Welt“?
(Welcher Welt? Einer Einzigen? Wird damit den anderen von vornherein
die Anerkennung verweigert?). Und wo sind wir dann jetzt? Am Mittag
oder am Abend? Woher kommt diese Euphorie des Beginns, wenn das Ende so
offen ist? Welche Versprechungen lagen in diesem Morgen? Könnte es
nicht sein, dass „Wir“ (im Westen, um die es immer geht) dabei sind,
die ganzen Versprechungen von Humanität und Lebensqualität dieses
Morgens (der Renaissance) zu verderben, weil die Grenzen und der humane
Kontext verloren gingen?
„Die Nachfolgestaaten des alten, vergangenen
Renaissance-Europa“, zwölf Prozent der Erdbevölkerung, „erwirtschaften
noch immer über die Hälfte des Bruttoweltprodukts“, wird gesagt (S.
1145), aber ist das positiv zu werten, wenn damit auch der größte
Beitrag zur Zerstörung der Lebenswelt geliefert wird? Warum wird
„Erfolg“ nur bezogen auf Ökonomie und „Fortschritt“?
Was würde der Fortschrittsskeptiker Ivan Illich im 20.
Jahrhundert dazu sagen? Das Interesse der Aufklärer an China und Japan
erinnert daran, dass die Europäer sich zeitweise der Grenzen ihrer
eigenen Lebensweise und Weltinterpretation durchaus bewusst waren. Noch
der Sozialreformer Baron Rumford (die gehaltvolle „Rumford-Suppe“ hat
er für die Armenanstalten entwickelt) preist im frühen 19. Jahrhundert
die sozialen Innovationen des Qing China (S. 1103), etwa am Beispiel
der Armenfürsorge. Sollte man heute nicht mehr Augenmerk auf soziale
(sozialkulturelle) Innovationen richten, mit denen Lebensqualität und
Enkelgerechtigkeit der Lebenswelt hergestellt wird? Sie erst
entscheiden über Zukunft und Frieden.
Fünfhundert Jahre wirkt das Denken der Stoa (S. 59), die kein
Wachstum braucht (S. 60). Sie wird in der offenen
Renaissance-Gesellschaft immer wieder aufgegriffen, trotz aller
Agonalität (die nicht nur verbal bleibt, denkt man an die vielen
kleinen Kriege dieser Zeit).
William Morris, der britische utopische Sozialist,
Lebensreformer und Künstler, entfaltet in 1890 seinem Buch „Letters
from Nowhere“ (Morris, William: Kunde von Nirgendwo. Ein utopischer
Roman, hg. v. Wilhelm Liebknecht, 2. Aufl. J.H.W.Dietz Nachf.,
Stuttgart 1914) eine sehr attraktive Utopie der Versöhnung von Kunst
und Leben, die deutlich von der Renaissance inspiriert ist. In seinem
aus einer Revolution hervorgegangenen britischen Zukunftsstaat leben
die Menschen nicht in einer technisch vervollkommneten Welt, sondern in
einer, in der handwerkliche und intellektuelle Arbeit gleich gewichtet
sind, der Straßenkehrer in Renaissancekleidern geht, die Menschen in
zentralen Bereichen bewusst zur Subsistenz- und Handwerksproduktion
zurückgekehrt. Beschrieben wird, wie die Menschen „die Künste des
Lebens, die ihnen abhanden gekommen waren, allmählich wiedereroberten.
So vollständig hatte man jene Künste verloren, daß es … nicht nur
unmöglich war, einen Schreiner oder einen Schmied in einem Dorfe oder
einem kleinen Landstädtchen zu finden, sondern daß auch die Leute an
diesen Orten vergessen hatten, wie man Brot backt“ (ebd. S. 134)
„Der frühmoderne europäische Staat und seine Keimzelle, die
Stadt, können gewiß nicht das Maß aller Dinge sein. Gerade der Blick
auf die ‚anderen‘ zeigt aber, wie fundamental die Bedeutung
‚verdichteter Staatlichkeit‘ für die Entfaltung ‚westlicher‘
Wissenschaft und Technologie gewesen ist.“ (S. 1096). Das mag
unbestritten sein, aber wohin führt es?
Anderswo gibt es in den Zeiten der Renaissance andere
Entwicklungen als in Lateineuropa (der vom lateinischen Christentum
geprägten Region), die vergleichend am Rande zur Kenntnis genommen
werden: In Afrika z. B. gibt es keine „Tintenstaaten“ wie in Europa,
aber zugestanden wird „Eigensinnigkeit“ mit interessanten Lösungen (S.
1091). Dazu gehört, könnte man sagen, zum Beispiel auch die „Campfire
Democracy“ mit dem „Palaver“, das zu einer von allen akzeptierten
Lösung führen will statt das Fallbeil von Mehrheitsentscheidungen
anzuwenden.
Gewiss fasziniert gerade dieser „Morgen“ (S. 30/31). Die
„Anfänge“ (S. 33) werden evolutionär interpretiert, und eine auf den
Fortschritt (S. 66) orientierte Teleologie ist nicht weit. Wenig
freilich erfährt man über die ökonomischen und sozialen
(gesellschaftlichen) Prozesse, die damit verbunden sind. Aber wie in
der Geschichte der Welt, so ist in der Europas das einzige Beständige,
dass auf jede Blüte ein Niedergang erfolgt. So viele Niedergänge gibt
es, dass jeder, der „ewige Dauer“ erwartet, enttäuscht werden muss. Das
ist der permanente Inhalt der Geschichte mit wenigen Ruhezeiten
dazwischen, die mühsam genug zu finden sind.
Die Mongolen (S. 264) unter Dschingis Khan versprechen wie so
viele andere ein Friedensreich auf Erden, verbreiten aber vorher Terror
und Tod. 1258 wird Bagdad erobert. Die mongolischen Flotten (auch die
gab es) werden in den Zeiten von Großkhan Khubilai (1259-1294) vor
China und Japan vom Taifun „Kamikaze“ (Götterwind, S. 266) zerstört.
Der Goldenen Horde wird 1335 das Schicksal des Zerfalls zuteil. „Der
kulturelle Graben zwischen Lateineuropa und der Rus“ wird damit tiefer
(S. 265) Auch die Mongolen sind eine expandierende Gesellschaft mit
Innovationen, insbesondere nach dem Übergang zum Islam (S. 268). Aber
sie verspielt ihre Zukunft. In China gibt es unter der
Mongolenherrschaft tolerierte „konfuzianische Haushalte“ als
„Freizeitklasse“ (S. 269). Sie bedeuten für China eine eingemauerte
Freiheit und damit eine Krise auch für die chinesische Wissenschaft –
Niedergang für China und die Mongolen.
Nicht viel anders geht es Spanien: Der Sieg von Lepanto 1571
gegen die osmanische Flotte ist der „Höhepunkt spanischer
Machtentfaltung. Bei Lepanto vor dem Golf von Patras schlägt „eine
Armada katholischer Mächte unter dem Kommando Don Juans de Austria
(1547-1578), ein Bastard Karls V., die osmanische Flotte.“ (S. 852/853)
Cervantes (1547-161) ist dabei (S. 856), bevor er 1605 Don Quichote
schreibt. „Die Versuche Karls V. und Philipps II., die Welt zu reinigen
und zu ordnen, erscheinen im Rückblick allein als Quijoterien.“ (S.
857) Probleme entstehen wegen der Kriegsfinanzierung, ein „imperial
Overstretch“ führt zu Spaniens Niedergang (S. 859/ 860). Es fehlte
politische und gesellschaftliche Offenheit, die es in der
republikanischen Umwelt der anderen Staaten gab. Diese „Niederlagen
waren für die weitere Entwicklung Europas allerdings nützlicher … als
ein Erfolg es gewesen wäre. Der Kontinent blieb politisch vielfältig.“
(S. 857) 1598 stirbt der kranke Philipp II. (S. 863), 1593 beginnt die
Zeit von Henry IV. (S. 854). Frankreich statt Spanien dominiert.
Blüte und Niedergang spielen immer eine Rolle. Einst
widersprach ich meinem Frankfurter Oberbürgermeister Walter Wallmann,
der zu Zeiten Ronald Reagans in den frühen 1980er Jahren meinte, man
müsse den Niedergang der Sowjetunion so organisieren, dass möglichst
wenig Schaden entsteht. So oft schon sei dieser Niedergang prophezeit
worden, mahnte ich. Dass ich ihn damals nicht ernst nahm, war mein
größter Irrtum in dieser Zeit. Sind wir heute in einer Situation, in
der der Niedergang der USA mit möglichst wenig Schaden organisiert
werden muss?
Auch Florenz erlebt seine kulturelle Niederlage. Die
Brüchigkeit seiner Ordnung wird mit Tod des Lorenzo Medici 1492
offensichtlich. „Mit ihm vergeht das Florenz der frühen Renaissance“,
er war der „Inbegriff des Mäzens“ (S. 574, 575). Savonarola (1452-1498)
erinnert an andere Dimensionen, Macchiavelli versucht angeregt durch
Lukrez (575) den „eiskalte(n)r Weltzugriff“.
Staaten oder Gemeinschaften mit einem lähmenden „Übermaß an
Pastoralmacht“ wie Byzanz, Spanien und das Judentum haben zu „den
entscheidenden Paradigmenwechseln der Wissenschaftlichen Revolution …
fast nichts beigetragen“ (S. 1074), nur die Vermittlung arabischer
Texte war ihr Verdienst. Im Italien der Renaissance entsteht ein
lebendiger „Diskursraum" (S. 342), während Byzanz nur noch regionale
Ordnungsmacht ist, keine Innovationen mehr zustande bringt und
„Wissenschaft im Weihrauchdunst“ (S. 273) stagniert. „Lateineuropa
dachte bald griechischer als die Griechen.“ (S. 277)
3. Neue Akzentuierungen: Scholastik als Praeludium
„Die ältere Vorstellung, die Renaissance sei als Aufstand gegen ein
verkrustetes scholastisches System zu begreifen, gehört auf den
Schuttplatz der Ideengeschichte, ebenso die Meinung, sie beginne nach
einem Präludium im 14. Jahrhundert mit dem italienischen Quattrocento,
dem 15. Lange zuvor schon herrschte zwischen Paris und Oxford, Padua
und Florenz in Literatur, Philosophie und Theologie ein intellektuelles
Treibhausklima.“ (S. 342/343)
„Kein tiefer Bruch scheidet die ‚große Renaissance‘ vom 12.
Jahrhundert. Die Wege, die später in die vier weltumstürzenden
neuzeitlichen Revolutionen münden würden – die Revolution der Medien,
die wissenschaftliche, die industrielle und die politische -, waren ein
gutes Stück weit beschritten.“ (S. 343) Papier, Brille, die Zahl Null,
Schießpulver, römisches Recht, Notare, Universitäten, Kompass sind
entscheidende Instrumente dieser Entwicklung (S. 341) der neuzeitlichen
„Tintenstaaten“ (und die durch die Renaissance ermöglichte
„Wissenschaftsrevolution“ ist wichtiger Teil des „Sonnenaufgangs im
Westen“, S. 973).
Im 14. Jahrhundert wird das Gespräch mit den Alten dichter
und bezieht auch die Laien ein; antikischer Habitus entsteht (S.345).
„Europa war um 1300 alles andere als ein Hort dumpfer Dunkelmänner, die
mit scholastischer Spitzfindigkeit theologische Nebensachen erörtert
hätten. Seine geistige Landschaft war von faszinierender Vielfalt.
Große Fragen blieben heftig umstritten“ (316) – zwischen Philosophie
und Theologie.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts wertet der liberale
Historiker Schlosser, zu seiner Zeit auch von Linken gern benutzt, noch
ganz anders. Er bekennt in seiner Vorrede: „Er dachte …, da er ein
Theolog und mit der scholastischen Litteratur des Mittelalters
befreundet sei, so nähme er mehr Antheil an der Litteratur des
sinkenden Reichs, als Gibbon…“ (Schlosser, Fr(iedrich) Chr(istian):
Weltgeschichte für das deutsche Volk. 2. Ausgabe 14. Unveränderte
Auflage. Mit Zugrundlegung der Bearbeitung von Dr. G. L. Kriegk,
besorgt von Dr. Oscar Jäger und Prof. Dr.Th Creizenach. Mit der
Fortsetzung bis auf die Gegenwart. Oberhausen und Leipzig: Ad.
Spaarmann. 1870 ff. Vierter Band 1873: Aus der Vorrede des Verfassers
von 1846, S. 3-12, S. 6). „Der Verfasser dagegen suchte in dem wüsten
Chaos der Kirchenschriftsteller die Elemente des künftigen
Fortschreitens und im Tode ein neues Leben. Nur wo Fortschritt ist,
kann Geschichte gedacht werden; an der chinesischen, türkischen,
byzantinischen wird auch ein Thucydides zu Schanden.“ (ebd. 6) Er
sucht, wo „aus dem Tode neues Leben, aus der Verwesung eine neue
Blüthe“ entstehen kann (ebd. 6). Das schreibt der Protestant Fr. Chr.
Schlosser in Heidelberg. „Als das römische Reich unterging, ward die
Cultur des Menschengeschlechts im Orient wiedergeboren, während der
Occident in Barbarei versank.“ Deshalb lässt er in seinem Text „die
Geschichte der Blüthe des von Mohammed aufgeregten Orients … der
früheren Geschichte der neuen christlichen Reiche und der römischen
Hierarchie vorangehen; dadurch wird dann das Wesen des Ritterthums, wie
es sich abgesehen von normannischer Feudalität gestaltete, und die
Bedeutung der Kreuzzüge ohne alle Weitläufigkeit oder gelehrte
Demonstration dem gesunden Verstande durch Geschichte und Thatsachen
anschaulich werden. Das Ritterthum war Heroismus, Poesie und
Begeisterung, so lange Christenthum und Islam kämpften, die Kreuzzüge
riefen also eine neue Civilisation hervor; später machte der Stolz des
Feudaladels aus Rittern rohe Räuber.“ (ebd. S. 8; er bezieht seine
Informationen über das Leben Mohammeds von Professor Weil aus
Heidelberg).
4. Die „Diskursrevolution“
Für Roeck dagegen entwickelt sich in der „ersten Renaissancen“ (S.
277) mit der Scholastik und mit der Revolution des Redens, Lesens und
Schreibens in den Städten ein „Diskursraum“, während in Byzanz
„Wissenschaft im Weihrauchdunst“ (S. 342, 273) keine Chance hat.
„Lateineuropa dachte bald griechischer als die Griechen.“ (S. 277) Die
„Diskursrevolution“ (S. 278) erfasst erst Kleriker, dann Laien.
Weltliche Stoffe, Latein als verbindende Sprache, das höfisches
Zeitalter mit Chrétien de Troyes und der Einbindung der Francia
schaffen im 12. Jahrhundert ein neues intellektuelles Klima. Ideen
werden nicht aus sich heraus erzeugt, sondern im Austausch (S. 44), im
Diskursraum in der Kommunikation (S. 34/35, S. 37).
Florenz ist eine Stadt mit Klientelnetzen und tendenzieller
Durchlässigkeit der Gesellschaft. In dieser Stadt hilft Leonardo Bruni
(1370-1444) dem „ciceronianischen Dialog, jenem großartigen Instrument
kritischer Vernunft, zur Renaissance“ (S. 468). Die Totenrede von Bruni
„für Nanni Strozzi“ „ist eine Eloge auf die Republik, auf die
Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und auf die Freiheit“ (S. 468).
Das Grabmal ist „marmorner Humanismus“ (S. 471)
„Der Humanismus stellte eine bürgerliche Moral bereit,
reflektierte die politische Praxis, wies Wege zu einem angenehmeren
Leben und wandte sich überhaupt entschieden der Welt zu mit ihren zur
Erforschung auffordernden Rätseln und Wundern.“ (S. 353)
Briefe schreiben wird zur gepflegten Kunst (500, 501), bei
der die Briefe über den unmittelbaren Adressaten hinaus ein
Zielpublikum haben.
In Urbino (S. 662) entwickelt Castiglione (1478-1529) im
„Cortegiano“ (Der Hofmann) vorbildlich Dialogkultur der Renaissance mit
ihrer sprezzatura (Maße). Das zeitgenössische Gegenbild ist nach dem
Sacco di Roma (1527), dem Einbruch der Barbarei in Gestalt einer von
allen Hemmungen befreiten Schar von Söldnern (S. 754). Es ist ein
Zivilisationsbruch, der später nur noch übertroffen wird durch die
Plünderung von Magdeburg im 30jährigen Krieg. Er ist strukturell am
ehesten zu vergleichen mit dem rücksichtslosen Umgang mit den Regeln
der internationalen Politik durch den US-Präsidenten nach 2016. Der
„Grobianus“ steht gegen die im „Cortegiano“ entwickelte Kunst der
Konversation (S. 664), dem Modell des aufgeklärten Diskurses von Gleich
zu Gleich (der kranke Herzog wird zu Bett geschickt, bevor die
Konversation im höfischen Kreis beginnt) (S. 666). Bei der Form des
Gesprächs ist Sokrates symbolisch immer präsent (S. 52/53). Es ist Teil
des „betörenden Begriffs ‚Freiheit‘“ (S. 44).
Die italienische Leitkultur wird in Urbino, Mantua, Ferrara
(Isabella d´Este) entwickelt (S. 679/680), aber auch Ariost mit
„Orlando furioso“ („einer der großen Verrückten der Weltliteratur“) und
das Volgare, die Umgangssprache, haben ihren Platz.
Die „rhetorische Revolution“ entwickelt nach dem Vorbild von
Cicero die Technik des Argumentierens und Erörterns nach beiden Seiten
hin (S. 502) (Wie hängt das mit den politischen und ökonomischen
Gepflogenheiten zusammen?).
Lorenzo Valla (1405/07 – 1457) gilt als Neubegründer der
Rhetorik und „erzählt, wie man sich in Orsinis Palazzo in Antike
Gewänder gehüllt versammelte, um klassisches Rom zu leben: Ein Stück
Humanistenromantik.“ Später sind es am Rhein die Prinzen von Preußen,
die in ihren geschenkten und erneuerten Raubritterburgen wie Friedrich
von Preußen in Rheinstein „im Mittelalter gehen“, wie C.G.Carus
schildert.
Valla beweist (wie später Cusanus), dass die Konstantinische
Schenkung eine Fälschung ist. Er orientiert sich an der analytischen
Methode des Thukydides. „Indem er die Rhetorik als ‚Königin der Dinge’
über die Philosophie stellte, wollte er dem freien, unbefangenen Blick
zu seinem Rechte verhelfen.“ (S. 503)
Auch wenn die Diskursrevolution ihre Kinder entlässt und
affirmativer wird und Moral und Tugend stärker gewichtet werden,
bleiben rhetorische Revolution und Textkritik erhalten. (S. 499)
Es mag sein, dass man mehr über die großen Künstler und ihre
Werke erfahren möchte. Aber da ist vieles Allgemeinwissen, das man
leicht abrufen kann. Vielleicht ist man auch als Leser, der Leonid
Batkin (Die italienische Renaissance. Versuch einer Charakterisierung
eines Kulturtyps. Frankfurt am Main/Basel: Stroemfeld/Roter Stern 1981,
Kap. „Der Dialog“ ebd. S. 265) kennt, voreingenommen und erwartet mehr
und intensiveres. Dort wird die Bedeutung des Diskurses stärker als
Gesamtcharakteristikum hervorgehoben. Aber die besondere Qualität von
Roeck besteht in dem weit ausgreifenden Zugriff vom Mittelalter bis zum
Barock, von Spanien (und der neuen Welt) bis China und Japan (die
australischen Aborigines als Wohlstandsgesellschaft mit hohem
ästhetischen Potential, aber ohne Wachstumszwang, hätten auch einen
schönen Kontrast geben können).
5. Die Aufwertung des Menschen: Lukrez, Valla und Mirandola
Die Renaissance begeistert wegen des Menschenbildes, das in Künsten
und Gedankenwelten sich entfaltet. „Gegen das niederschmetternde
Menschenbild des Papstes“ Innozenz III. (1198-1211) gab es neben
Nikolaus von Cues (1401-1464) (S. 511) zwei Humanisten, die ihre
Stimmen erhoben, Bartolomeo Fazio und Giannozzo Manetti (der Leonardo
Brunis Leichenrede hält). Sie leiten „Epikurs Rückkehr“ ein (S. 514).
„Manettis Schrift ‚Über die Würde und Erhabenheit des Menschen‘
antwortet Fazio, der dem kontemplativen gegenüber dem aktiven Lebenden
Vorzug gegeben hatte.“ Für ihn ist der Leib „ein wunderbares Kunstwerk
des Schöpfers und Krone von dessen Werk“. Der Mensch scheint „für ein
glückliches Leben in einer schönen Welt … bestimmt, nicht zu grauer
Pilgerschaft entlang dem Jakobsweg zum Tod“ (S. 514) – auch wenn er
„dem Willkürregiment der dunklen Macht des Schicksals unterworfen“ (S.
515) ist.
Wieso eigentlich erleben in einer Zeit, da in Mitteleuropa
die Reformation die Grundfesten der Herrschaft des Katholizismus
erschüttert, die Künste in Rom (und ganz Norditalien) ihre größte
Blüte? Darüber könnte man ausführlicher nachdenken. Julius II.
(1503-1513) ist entscheidend für Michelangelo (S. 641) und für die
Kunstpatronage zu St. Peter und die Sixtinische Kapelle, der Medici
Papst Leo X. 1515 -1521 gilt als „der“ Renaissance-Papst (gest. 1521).
(S. 641)
In Fulda entdeckt zur Zeit des Konstanzer Konzils, das drei
Päpste absetzt und Martin V. (S. 476) als neuen Papst einsetzt, der
„Handschriftenjäger“ Bracciolini 1414 den Text „Über die Natur der
Dinge“ von Lukrez (97-55 v.C.) (S. 515). Dieser „zeigt Epikur als
Überwinder der Religion, die das Leben der Menschen auf abscheuliche
Art unterdrückte“ (S. 516). Auch in der Hemmungslosigkeit der Liebe
sieht Lukrez das Sehnen nie endlich erfüllt, sondern immer wieder
angefeuert sieht (S. 517).
Unser Lateinlehrer versuchte uns Ende der 1950er Jahre in
Rüsselsheim am Main Lukrez und seine materialistische Interpretation
der Welt nahezubringen. Wundersam wirkte es dann für mich, als ich in
der Wende 1989/1990 in einem Zeitungskiosk in der S -Bahn in Berlin-DDR
den Band Lukrez des Leipziger Reclam-Verlags (Lukrez [d.i. Titus
Lucretius Carus]: Vom Wesen des Weltalls. Leipzig 1989), als
Neuerscheinung erwerben konnte: Ein Abgesang auf die Askese der
Arbeiterbewegung? Die Lukrez-Übersetzung von Dietrich Ebener, datiert
Rehbrücke Mai 1987 (ebd. S. 32), erinnert zwar an Bracciolini als den
Entdecker (S. 28) geht aber nicht näher auf die
Überlieferungsgeschichte ein.
Lorenzo Valla verbindet Epikur, Stoa und Christentum. Die
Lust „und keine blutleere ‚Tugend‘“ wie sie später in den
Auftragswerken der Renaissance auftaucht, „erscheint als mächtige
Triebkraft allen Strebens, es mag auf Geistiges oder Körperliches
zielen. Mehr als anderes veranlasse sie zur Selbsterhaltung. Falsche
Reinheit, Keuschheit, Märtyrertum oder gar Selbstmord im Dienst der
Tugend – das alles ist für Valla fragwürdig. Erst recht seien es die,
die andere aufforderten, für das Vaterland zu sterben. Die Toten hätten
schließlich nichts von ihrem Ruhm, wohl aber jene Lebenden, von denen
sie in den Tod geschickt wurden. Lust, die Freude am Angenehmen,
Schönen, Nützlichen darf nach Valla ihren Platz im Leben und so auch,
mit Epikur, im Körper haben. Das wahre Gute aber – nun mündet sein der
Dialog ins Religiöse – wird allein im Himmel zu gewinnen sein. …
Christliche Liebe, das Gute und die Lust, ‚freudige Bewegung des
Geistes und süßes Behagen des Leibes‘, sind ein und dasselbe.“ (S. 519)
Lebendige Vielfalt herrscht, und eines der Wunder der
Renaissance ist, dass über Stände- und Klassengrenzen es prinzipiell
(wenn auch selten faktisch) möglich ist, dass jeder anerkannt wird, der
sich die der Kenntnisse der Schriften und des Denkens der Antike
aneignet und in den entsprechenden Tugenden, vor allem der
Diskurskultur, lebt (Leonid Batkin, s.o., hat das besonders
hervorgehoben; er wird von Roeck nicht erwähnt).
Pier Paolo Vergerio (1370-1444) will gesunden Geist in
gesundem Körper. Er zielt auf „Menschen, die frei werden sollten durch
Philosophie und die ‚freien Künste‘“. Diese sollen auch „Quellen der
Freude“ sein, naturwissenschaftliche Kenntnisse eingeschlossen (S.
499). Leon Battista Alberti (1404 – 1472) zieht aus der Betrachtung der
Dinge Genuß und fragt „Quid tum“ (was jetzt) (S. 523).
Für Pico della Mirandola (1463-1494) (S. 571) (dem ich eine
größere Rolle zugedacht hätte) ist der Mensch geschaffen frei von allen
Beschränkungen, und da zeigt sich ein neuzeitlicher Subjektivismus (S.
794/795), aber das Ziel bleibt die „Vereinigung der Seele mit Gott“ (S.
795). „Sehr diesseitszugewandt ist das alles nicht. Picos Rede“ über
die Würde des Menschen ist so gesehen „nur vordergründig ein
humanistisches Manifest“ (S. 795).
Florenz, die anderen Stadtstaaten und die Universitäten geben
dem Optimismus der Renaissance Raum. Ein welthistorischer Solitär ist
die lateineuropäische Universität als Lehrstätte anstelle der Klöster
(251). Sie wird mit eigener Rechtsprechung ausgestattet (S. 254 S 252).
Zunächst nur bezogen auf Bologna ist die Urkunde von Barbarossa, die
den Schülern und Lehrern Schutz und eigenen Gerichtsstand, damit die
vielversprechende „akademische Freiheit“ zugesteht. Sie wird dann von
Philipp II. auf Paris, schließlich auf alle Universitäten übertragen.
Diese „Abgrenzung als Korporationen“ macht den entscheidenden
Unterschied zu muslimischen und anderen Hochschulen aus.
Universitätsangehörige werden den Klerikern gleichgestellt (S. 255).
Sie gliedern sich in „nationes“. Es ist ein wirkungsvolles
Denkkollektiv mit gemeinsamer Sprache. Erst 1755 gibt es die
vergleichbare Alma mater in Moskau (S. 256/ 257)).
6. Die Horizontale und die Vertikale
Eindrucksvoll und anregend ist, wie Roeck die Unterschiede und
Beziehungen zwischen der „Horizontalen“ und der „Vertikalen“
hervorhebt: Die Horizontale steht für die Bürgermacht, gegebenenfalls
auch für das „Volk“, die „Vertikale“ für die (mehr oder weniger
autokratische) Herrschaft. Die Niederlande und England sind es, die
zunächst neben den italienischen Städten eine ausgeprägte Horizontale
mit Bürgermacht entwickeln (S. 1143). Die „Mittleren“, die
Mittelschichten des Bürgertums in den Städten, stehen für die
Horizontale und deren Offenheit (S. 1139/1140). In England entstehen
1258 Vorformen horizontaler Parlamente (S. 329).
Die europäischen Städte sind wie die Universitäten „Solitäre“
(S. 1141, S. 1143 andere Beispiele). In ihnen repräsentieren
Korporationen wie die Zünfte (oft sind es Zwangskorporationen) die
Kraft der Horizontalen. Korporationen können politische Forderungen und
ökonomische Interessen wirkungsvoller gegen Monarchen vertreten als
Individuen. Sie gestatten, Demokratie einzuüben (S. 1144) (und die
Organisationen der Arbeiterbewegung, teilweise aus ihnen hervorgehend,
setzen das fort)
Erste Humanisten wie Brunetto Latini (1220/21 – 1294)
argumentieren mit Bürgerstolz republikanisch und plädieren dafür, aus
der eigenen Geschichte lernen, nicht aus Rittergeschichten (S. 349). In
den Niederlanden und in England entwickelt sich zeitweise eine
ausgeprägte Horizontale. (1143). Die Totenrede von Leonardo Bruni (um
1370 – 1444) auf Nanni Strozzi „ist eine Eloge auf die Republik, auf
die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und auf die Freiheit“ (S.
468). Erst die Fürstenherrschaft beendet in Italien, (wie in Japan die
Tokugawa-Zeit) die Chance der Horizontalen (S. 1109).
Reiche Textilregionen bringen vergleichsweise offene
Gesellschaften hervor. „Die Klüfte zwischen Reich und Arm waren
gleichwohl dramatisch. Das wohlhabendste Prozent der Florentiner
verfügte über ein Viertel des Reichtums, anderswo, etwa in Basel,
verhielt es sich ähnlich.“ (S. 366) Das aber ist gar nichts gegen die
noch viel dramatischeren Verhältnisse in der Gegenwart. Geld wird
investiert in Grundbesitz vor der Stadt. „Die Stadt gestaltete das
Land. Die unvergleichliche toskanische Landschaft mit ihren verstreuten
Gehöften, den ‚case sparse‘, ist ein Kunstwerk des Kapitalismus.“ (S.
367) Ähnlich sind später die Villen von Palladio in der „Terra Firma“
von Venedig zu werten. Erträge werden auch „ins Seelenheil.“
Investiert. „In ganz Europa errichtete man mächtige Hallenkirchen –
Denkmäler von Wirtschaftskraft und kommunaler Macht, Ausdruck der
Sehnsucht nach Seelenheil und Predigtwort.“ (S. 466)
7. Die einfachen Leute
„Was der ‚gemeine Mann‘ und die ‚gemeine Frau‘ … taten und dachten,
ist fast völlig unbekannt.“ (S. 620) Sie kommen freilich in dem Buch
ohnehin zu kurz, auch wenn man weiß: „Alle Kultur hing an ihrer
Arbeit“. (S. 231) Über ihre Lebensweise und über ihren Beitrag zur
Gesamtentwicklung, auch über die Verflechtungen der Milieus und den
Anteil von „Klassenflüchtlingen“ erfährt man wenig.
„Fern der Welten der Entdecker und Intellektuellen taten der
gemeine Mann und die gemeine Frau millionenfach ihr Tagwerk. Sie
beteten oder zechten zu Feierzeiten, um mit Sonnenuntergang aufs
Strohlager zu sinken, während die Nacht draußen den Sternen, Eulen und
Dämonen blieb. Von ihren Träumen ist wenig überkommen, kaum etwas von
ihren Alltagsgesprächen, nichts von ihren Bildern vom Kosmos und von
der Natur, die ihnen voller Geheimnisse und von Zauber durchwirkt
erschienen sein dürfte.“ (S. 620)
Das kann man relativieren, auch mit dem Beispiel des Müllers
Menocchio (Ginzburg, Carlo: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines
Müllers um 1600. Berlin: Wagenbach 1990) . Die Dämonen, Geister, Elfen
und Riesen, die Roeck als ihre Welt erwähnt, gehörten genau so zur
Vorstellungswelt der Intellektuellen. Eine Sagensammlung wie die von
Ignaz Vinzenz Zingerle (Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol.
Gesammelt und herausgegeben von - . Innbruck: Wagnersche Buchh. 1859)
aus Tirol zeugt für spätere Zeiten davon, ebenso tun dies Predigten und
Visionen der Mystiker, Kleriker, Mönche und Heiligen beiderlei
Geschlechts.
Bei Boccaccio begegnet man „kleine(n) Leute(n), die es
verstehen, Größere durch Freigebigkeit und schlaue Reden in
Verlegenheit zu bringen“ (S. 413). Der Anonymus Karsthans „stellt einen
einfachen Bauern als klugen, bibelkundigen Disputanten gegen den
reformationsfeindlichen Franziskaner Thomas Murner (1475-1537) ins
Feld“ (S. 744). Das sind verschiedene Zeiten und Gegenden, aber wohl
(fast) immer und überall gibt es „einfache Leute“, deren Denken und
Handeln auf mannigfaltige Weise verflochten sind mit den anderen
Milieus (natürlich auch als Dienstboten, Gesinde usf.).
„Volk“ und die Mittelschicht sind Akteure in Aufständen in
Frankreich, Deutschland, Italien: „‘Volk‘, das waren allerdings nicht
nur ‚les miserables‘, die Elenden und Ärmsten. Eine gehobene
Mittelschicht von Kaufleuten, Rittern, Honoratioren, die der Kämpfe
stadtrömischer Adelsclans überdrüssig waren, hatte Rienzo zur Macht
getragen, wohlhabende Bauern und städtische Handwerker, selbst
Amtsträger der Krone waren in der Jacquerie anzutreffen. Nicht einfach
‚schlechte Verhältnisse‘ pflegen die Menschen auf die Barrikaden zu
treiben – die halbe Welt wäre sonst auch heute in Aufruhr. Anderes muss
hinzukommen, etwa die Überzeugung, Ungerechtigkeit zu erleiden, oder
die Angst, alles zu verlieren, und umgekehrt die Aussicht auf Aufstieg
und Macht, gepaart mit Schwäche und Kontrollverlust der Herrscher.“ (S.
387/388, 390) Der Druck der Steuerlasten oder Forderung nach Gleichheit
(S. 389) sind wiederkehrende Motive.
8. Gemeinnutzen und Korporationen
Bei dem Versuch der Errichtung einer „katholischen
Universalmonarchie“, angeregt durch Großkanzler Mercurino Gatttinara,
gerät ein Kaiser wie Karl V. (1520-1556) schnell an Grenzen. „Überall
verfing sich der Herrscherwille in Gestrüppen von Gewohnheiten,
Privilegien, Exemtionen, fand Grenzen in der stillen Macht der
Financiers, der weniger stillen von Fürsten, Ständen und Kirche und
selbst in der Eigenwilligkeit spanischer Schafzüchter, die sich im
‘Ehrenwerten Rat der Mesta‘ organisiert hatten. Eine einheitliche
Verwaltung für das bunte Länderkonglomerat zu schaffen, war unmöglich.“
(S. 731)
Dieser Karl V. kritisiert beim Reichstag in Augsburg (1547,
in der gleichen Zeit wie das Konzil zu Trient 1545 und 1551ff.)
abtrünnige Reichsstädte und ordnet die Abschaffung der Zunftregimenter
von „Ochsen und Pöbeln“ (damit auch der Commons) an. Sie sollen durch
aristokratische Obrigkeiten ersetzt werden (S. 782). Das ist ein
Beispiel für die verbreitete Arroganz der Herrscher (und des Adels),
wie wir sie auch bei Liselotte von der Pfalz finden. Moritz von Sachsen
wagt damals den Aufstand gegen den Kaiser.
Thomas Müntzer schimpft: „Offen griff er die Fürsten an, die
‚Grundsuppe des Wuchers, der Räuberei und Dieberei‘“, die alles für
sich wollten, „die Fisch im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs
auf Erden ‘“ (S. 748). Die Memminger 12 Artikel des Bauernkriegs
beanspruchen die Beibehaltung der Gemeinnutzen von Wäldern, Gewässern
und Allmenden (S. 749).
Der Bauerkrieg ist die bedeutendste Erhebung der Horizontale
in Europa seit Menschengedenken (S. 749). Die Gegenbewegung bleibt
nicht aus (S. 401). Richard II (1377-1399) steht in England für den
Terror der vertikalen Macht. Als 1381 Tyler, einer der Begnadigten
eines Aufstandes, dem König die Hand schüttelt und ihn als „Bruder“
anspricht, wird er niedergemacht und geköpft (S. 389/390). Nachdem
Venedig sich gegen Genua behauptet hat (Chioggia-Krieg 1381), schottet
die Adelskaste sich ab, die Volksversammlung wird abgeschafft (S. 402).
Deutlich wird, dass in den Stadtrepubliken immer die Milieus von Besitz
und Tradition dominieren.
Im Denken von Macchiavell dominiert skeptisches Denken: „Die
Geschichte führt nicht vom Schlechten zum Guten. Vielmehr wiederholen
sich ihre Konstellationen in immerwährendem Kreislauf: Aus Ordnung wird
Chaos, aus Chaos Ordnung.“ (S. 644) Seine politische Theorie ist eine
Moral des Notstands. „Geht der Staat zugrunde, ist alles übrige
nichts.“ Ihn zu erhalten sind auch Untaten erlaubt.
9. Warum nicht in China?
Roeck fragt, weshalb es in Asien (oder anderswo) nicht auch Ansätze
für einen „Fortschritt“ gab wie in Europa. Ein Erklärungsansatz bezieht
sich darauf, dass es in Asien immer wieder große Katastrophen gibt und
deshalb ein Fortschritt wie in Europa nicht möglich ist (S. 1097).
China (S. 1121) ist mit seinen Bürokraten-Prüfungen eine „vermauerte
Gesellschaft“, auf andere Weise waren das auch Spanien und vorher
Byzanz.
Das Qing China von 1761 bis 1840 war das „chinesisches
Jahrhundert“, das für die Europäer (und Baron Rumford) eindrucksvoll
war. Es war aber von einem Durchbruch zur Industrialisierung weit
entfernt (S. 1103), wohl auch wegen der verfügbaren großen Menge
menschlicher Arbeitskraft. Das Indien von Mohammed Babu kannte keine
Bürgerfreiheit. Indische Wissenschaftstradition wurde abgebrochen (S.
1104). Nur in der Mogulzeit gab es Ansätze zu einer Mittelklasse.
Japan kennt Feuerwaffen seit 1543 (S. 1108), verzichtet aber
später weitgehend auf sie und agiert ab 1630 als geschlossener
Handelsstaat. Konfuzianisch geprägt, erlebt es eine lange Zeit des
äußeren Friedens (S. 1110) und der inneren Entwicklung. Es ist die am
meisten urbanisierte Region Asiens, aber ohne den 1854 aufgezwungenen
Freihandels hätte es sich eher nicht „fortschrittlich“ entwickelt.
Die Geschichte all dieser Regionen zeigt, was ihnen entgangen
ist und wovon sie verschont wurden, als sie keinen Weg des
„Fortschritts“ einschlugen.
10. Wozu Reichtum?
So gibt es in dem Buch von Bernd Roeck eine Fülle von Anregungen,
Erkenntnissen, Interpretationen: Man muss dieses Buch nicht so hymnisch
loben, wie es in manchen Rezensionen geschieht, aber lohnend sind die
1200 Seiten allemal. Und man kann ja wieder nachschlagen.
Ein Stichwort, unter dem man dieses Buch auch behandeln
könnte: Zeigen, was eine „kulturelle Blüte“ ist und wie sie mit
Gesellschaft zusammenhängt. Man hätte noch deutlicher fragen können:
Was fangen Gesellschaften mit ihrem Reichtum an? Und dann hätte man die
ganz andere Art der Nutzung des Reichtums hervorheben können, wie sie
sich unterscheidet von derjenigen Epochen, die Reichtum nur nutzen, um
noch mehr Reichtum zu schaffen, oft genug zuungunsten der
Lebensqualität, der Enkelgerechtigkeit ohnehin. Aber die Zusammenhänge
zwischen ökonomischer Entwicklung, Naturstoffwechsel,
Produktionsverhältnissen und Reichtumsverteilung werden in dem Buch
ohnehin nicht ausführlich thematisiert (nur die Klimaveränderungen
spielen eine Rolle).
In der Renaissance, wird immer wieder kulturgeleitet und von
einem lebensbejahenden Menschenbild geprägt, diskursiv und mit offenem
Ende ausgelotet, was menschliches Leben ausmacht, Muße und
Lebensqualität eingeschlossen. Von solchen Verhältnissen kann man
träumen, wie viele, von Jakob Burckhardt bis Bernd Roeck es tun. Und
Motivation zum Handeln kann auch daraus entspringen.
Dieter Kramer Dörscheid/Loreleykreis 13. Juli 2018 kramer.doerscheid@web.de
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