KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ReportKulturation 2018
Dieter Kramer
Die Nutzung des Reichtums
Ein Essay
- anlässlich des Buches von Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance. Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung. München: C.H.Beck 3. Aufl.2018, 1304 S.


1. Einleitung
2. Niedergänge, Aufstiege und das evolutionistische Weltbild
3. Neue Akzentuierungen: Scholastik als Praeludium
4. Die „Diskursrevolution“
5. Die Aufwertung des Menschen: Lukrez, Valla und Mirandola
6. Die Horizontale und die Vertikale
7. Die einfachen Leute
8. Gemeinnutzen und Korporationen
9. Warum nicht in China?
10. Wozu Reichtum?

1. Einleitung
Was fange ich mit diesem Buch an? Das Thema Renaissance und der Titel locken, ein gewaltiges Kompendium von Informationen wird präsentiert, den verschiedensten Interessen Nahrung bietend, Anregungen vieler Art vermittelnd. In diesem Essay ist notwendigerweise Konzentration verlangt.

Zunächst zur Form: Über 1300 Seiten, mit wenigen, aber bedacht ausgewählten, oft nicht alltäglichen Abbildungen im Text und auf zwei Blöcken in Farbe. Anmerkungen, Quellen und Literatur, Bildnachweis und Personenregister sind im Anhang. Es ist ein dickes „Großbuch“ wie die sechs Bände zur „Geschichte der Welt“ der gleichen Stiftung und des gleichen Verlages.

Über manche Strecken liest sich das Buch wie ein willkommener Nachhilfeunterricht in Geschichte, freilich vergleichend und mit stark gesamteuropäischer, teilweise globaler Akzentuierung. Ausführlich zum Thema wird die ganze europäische Welt, für die in der „Geschichte der Welt“ von Iriye/Osterhammel (aus dem gleichen Verlag, s. Rez. Dieter Kramer in Kulturation) eher zu wenig Platz ist. Die Zeit vom Ende der Antike bis zum Ausbruch des 30jährigen Krieges ist einbezogen.

2. Niedergänge, Aufstiege und das evolutionistische Weltbild
Kritik soll am Anfang erledigt werden, dann bleibt genügend Aufmerksamkeit für die Anregungen. Der Titel signalisiert ein durchaus evolutionistisches Weltbild. War das der (ein) „Morgen der Welt“? (Welcher Welt? Einer Einzigen? Wird damit den anderen von vornherein die Anerkennung verweigert?). Und wo sind wir dann jetzt? Am Mittag oder am Abend? Woher kommt diese Euphorie des Beginns, wenn das Ende so offen ist? Welche Versprechungen lagen in diesem Morgen? Könnte es nicht sein, dass „Wir“ (im Westen, um die es immer geht) dabei sind, die ganzen Versprechungen von Humanität und Lebensqualität dieses Morgens (der Renaissance) zu verderben, weil die Grenzen und der humane Kontext verloren gingen?

„Die Nachfolgestaaten des alten, vergangenen Renaissance-Europa“, zwölf Prozent der Erdbevölkerung, „erwirtschaften noch immer über die Hälfte des Bruttoweltprodukts“, wird gesagt (S. 1145), aber ist das positiv zu werten, wenn damit auch der größte Beitrag zur Zerstörung der Lebenswelt geliefert wird? Warum wird „Erfolg“ nur bezogen auf Ökonomie und „Fortschritt“?

Was würde der Fortschrittsskeptiker Ivan Illich im 20. Jahrhundert dazu sagen? Das Interesse der Aufklärer an China und Japan erinnert daran, dass die Europäer sich zeitweise der Grenzen ihrer eigenen Lebensweise und Weltinterpretation durchaus bewusst waren. Noch der Sozialreformer Baron Rumford (die gehaltvolle „Rumford-Suppe“ hat er für die Armenanstalten entwickelt) preist im frühen 19. Jahrhundert die sozialen Innovationen des Qing China (S. 1103), etwa am Beispiel der Armenfürsorge. Sollte man heute nicht mehr Augenmerk auf soziale (sozialkulturelle) Innovationen richten, mit denen Lebensqualität und Enkelgerechtigkeit der Lebenswelt hergestellt wird? Sie erst entscheiden über Zukunft und Frieden.

Fünfhundert Jahre wirkt das Denken der Stoa (S. 59), die kein Wachstum braucht (S. 60). Sie wird in der offenen Renaissance-Gesellschaft immer wieder aufgegriffen, trotz aller Agonalität (die nicht nur verbal bleibt, denkt man an die vielen kleinen Kriege dieser Zeit).

William Morris, der britische utopische Sozialist, Lebensreformer und Künstler, entfaltet in 1890 seinem Buch „Letters from Nowhere“ (Morris, William: Kunde von Nirgendwo. Ein utopischer Roman, hg. v. Wilhelm Liebknecht, 2. Aufl. J.H.W.Dietz Nachf., Stuttgart 1914) eine sehr attraktive Utopie der Versöhnung von Kunst und Leben, die deutlich von der Renaissance inspiriert ist. In seinem aus einer Revolution hervorgegangenen britischen Zukunftsstaat leben die Menschen nicht in einer technisch vervollkommneten Welt, sondern in einer, in der handwerkliche und intellektuelle Arbeit gleich gewichtet sind, der Straßenkehrer in Renaissancekleidern geht, die Menschen in zentralen Bereichen bewusst zur Subsistenz- und Handwerksproduktion zurückgekehrt. Beschrieben wird, wie die Menschen „die Künste des Lebens, die ihnen abhanden gekommen waren, allmählich wiedereroberten. So vollständig hatte man jene Künste verloren, daß es … nicht nur unmöglich war, einen Schreiner oder einen Schmied in einem Dorfe oder einem kleinen Landstädtchen zu finden, sondern daß auch die Leute an diesen Orten vergessen hatten, wie man Brot backt“ (ebd. S. 134)

„Der frühmoderne europäische Staat und seine Keimzelle, die Stadt, können gewiß nicht das Maß aller Dinge sein. Gerade der Blick auf die ‚anderen‘ zeigt aber, wie fundamental die Bedeutung ‚verdichteter Staatlichkeit‘ für die Entfaltung ‚westlicher‘ Wissenschaft und Technologie gewesen ist.“ (S. 1096). Das mag unbestritten sein, aber wohin führt es?

Anderswo gibt es in den Zeiten der Renaissance andere Entwicklungen als in Lateineuropa (der vom lateinischen Christentum geprägten Region), die vergleichend am Rande zur Kenntnis genommen werden: In Afrika z. B. gibt es keine „Tintenstaaten“ wie in Europa, aber zugestanden wird „Eigensinnigkeit“ mit interessanten Lösungen (S. 1091). Dazu gehört, könnte man sagen, zum Beispiel auch die „Campfire Democracy“ mit dem „Palaver“, das zu einer von allen akzeptierten Lösung führen will statt das Fallbeil von Mehrheitsentscheidungen anzuwenden.

Gewiss fasziniert gerade dieser „Morgen“ (S. 30/31). Die „Anfänge“ (S. 33) werden evolutionär interpretiert, und eine auf den Fortschritt (S. 66) orientierte Teleologie ist nicht weit. Wenig freilich erfährt man über die ökonomischen und sozialen (gesellschaftlichen) Prozesse, die damit verbunden sind. Aber wie in der Geschichte der Welt, so ist in der Europas das einzige Beständige, dass auf jede Blüte ein Niedergang erfolgt. So viele Niedergänge gibt es, dass jeder, der „ewige Dauer“ erwartet, enttäuscht werden muss. Das ist der permanente Inhalt der Geschichte mit wenigen Ruhezeiten dazwischen, die mühsam genug zu finden sind.

Die Mongolen (S. 264) unter Dschingis Khan versprechen wie so viele andere ein Friedensreich auf Erden, verbreiten aber vorher Terror und Tod. 1258 wird Bagdad erobert. Die mongolischen Flotten (auch die gab es) werden in den Zeiten von Großkhan Khubilai (1259-1294) vor China und Japan vom Taifun „Kamikaze“ (Götterwind, S. 266) zerstört. Der Goldenen Horde wird 1335 das Schicksal des Zerfalls zuteil. „Der kulturelle Graben zwischen Lateineuropa und der Rus“ wird damit tiefer (S. 265) Auch die Mongolen sind eine expandierende Gesellschaft mit Innovationen, insbesondere nach dem Übergang zum Islam (S. 268). Aber sie verspielt ihre Zukunft. In China gibt es unter der Mongolenherrschaft tolerierte „konfuzianische Haushalte“ als „Freizeitklasse“ (S. 269). Sie bedeuten für China eine eingemauerte Freiheit und damit eine Krise auch für die chinesische Wissenschaft – Niedergang für China und die Mongolen.

Nicht viel anders geht es Spanien: Der Sieg von Lepanto 1571 gegen die osmanische Flotte ist der „Höhepunkt spanischer Machtentfaltung. Bei Lepanto vor dem Golf von Patras schlägt „eine Armada katholischer Mächte unter dem Kommando Don Juans de Austria (1547-1578), ein Bastard Karls V., die osmanische Flotte.“ (S. 852/853) Cervantes (1547-161) ist dabei (S. 856), bevor er 1605 Don Quichote schreibt. „Die Versuche Karls V. und Philipps II., die Welt zu reinigen und zu ordnen, erscheinen im Rückblick allein als Quijoterien.“ (S. 857) Probleme entstehen wegen der Kriegsfinanzierung, ein „imperial Overstretch“ führt zu Spaniens Niedergang (S. 859/ 860). Es fehlte politische und gesellschaftliche Offenheit, die es in der republikanischen Umwelt der anderen Staaten gab. Diese „Niederlagen waren für die weitere Entwicklung Europas allerdings nützlicher … als ein Erfolg es gewesen wäre. Der Kontinent blieb politisch vielfältig.“ (S. 857) 1598 stirbt der kranke Philipp II. (S. 863), 1593 beginnt die Zeit von Henry IV. (S. 854). Frankreich statt Spanien dominiert.

Blüte und Niedergang spielen immer eine Rolle. Einst widersprach ich meinem Frankfurter Oberbürgermeister Walter Wallmann, der zu Zeiten Ronald Reagans in den frühen 1980er Jahren meinte, man müsse den Niedergang der Sowjetunion so organisieren, dass möglichst wenig Schaden entsteht. So oft schon sei dieser Niedergang prophezeit worden, mahnte ich. Dass ich ihn damals nicht ernst nahm, war mein größter Irrtum in dieser Zeit. Sind wir heute in einer Situation, in der der Niedergang der USA mit möglichst wenig Schaden organisiert werden muss?

Auch Florenz erlebt seine kulturelle Niederlage. Die Brüchigkeit seiner Ordnung wird mit Tod des Lorenzo Medici 1492 offensichtlich. „Mit ihm vergeht das Florenz der frühen Renaissance“, er war der „Inbegriff des Mäzens“ (S. 574, 575). Savonarola (1452-1498) erinnert an andere Dimensionen, Macchiavelli versucht angeregt durch Lukrez (575) den „eiskalte(n)r Weltzugriff“.

Staaten oder Gemeinschaften mit einem lähmenden „Übermaß an Pastoralmacht“ wie Byzanz, Spanien und das Judentum haben zu „den entscheidenden Paradigmenwechseln der Wissenschaftlichen Revolution … fast nichts beigetragen“ (S. 1074), nur die Vermittlung arabischer Texte war ihr Verdienst. Im Italien der Renaissance entsteht ein lebendiger „Diskursraum" (S. 342), während Byzanz nur noch regionale Ordnungsmacht ist, keine Innovationen mehr zustande bringt und „Wissenschaft im Weihrauchdunst“ (S. 273) stagniert. „Lateineuropa dachte bald griechischer als die Griechen.“ (S. 277)

3. Neue Akzentuierungen: Scholastik als Praeludium
„Die ältere Vorstellung, die Renaissance sei als Aufstand gegen ein verkrustetes scholastisches System zu begreifen, gehört auf den Schuttplatz der Ideengeschichte, ebenso die Meinung, sie beginne nach einem Präludium im 14. Jahrhundert mit dem italienischen Quattrocento, dem 15. Lange zuvor schon herrschte zwischen Paris und Oxford, Padua und Florenz in Literatur, Philosophie und Theologie ein intellektuelles Treibhausklima.“ (S. 342/343)

„Kein tiefer Bruch scheidet die ‚große Renaissance‘ vom 12. Jahrhundert. Die Wege, die später in die vier weltumstürzenden neuzeitlichen Revolutionen münden würden – die Revolution der Medien, die wissenschaftliche, die industrielle und die politische -, waren ein gutes Stück weit beschritten.“ (S. 343) Papier, Brille, die Zahl Null, Schießpulver, römisches Recht, Notare, Universitäten, Kompass sind entscheidende Instrumente dieser Entwicklung (S. 341) der neuzeitlichen „Tintenstaaten“ (und die durch die Renaissance ermöglichte „Wissenschaftsrevolution“ ist wichtiger Teil des „Sonnenaufgangs im Westen“, S. 973).

Im 14. Jahrhundert wird das Gespräch mit den Alten dichter und bezieht auch die Laien ein; antikischer Habitus entsteht (S.345). „Europa war um 1300 alles andere als ein Hort dumpfer Dunkelmänner, die mit scholastischer Spitzfindigkeit theologische Nebensachen erörtert hätten. Seine geistige Landschaft war von faszinierender Vielfalt. Große Fragen blieben heftig umstritten“ (316) – zwischen Philosophie und Theologie.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts wertet der liberale Historiker Schlosser, zu seiner Zeit auch von Linken gern benutzt, noch ganz anders. Er bekennt in seiner Vorrede: „Er dachte …, da er ein Theolog und mit der scholastischen Litteratur des Mittelalters befreundet sei, so nähme er mehr Antheil an der Litteratur des sinkenden Reichs, als Gibbon…“ (Schlosser, Fr(iedrich) Chr(istian): Weltgeschichte für das deutsche Volk. 2. Ausgabe 14. Unveränderte Auflage. Mit Zugrundlegung der Bearbeitung von Dr. G. L. Kriegk, besorgt von Dr. Oscar Jäger und Prof. Dr.Th Creizenach. Mit der Fortsetzung bis auf die Gegenwart. Oberhausen und Leipzig: Ad. Spaarmann. 1870 ff. Vierter Band 1873: Aus der Vorrede des Verfassers von 1846, S. 3-12, S. 6). „Der Verfasser dagegen suchte in dem wüsten Chaos der Kirchenschriftsteller die Elemente des künftigen Fortschreitens und im Tode ein neues Leben. Nur wo Fortschritt ist, kann Geschichte gedacht werden; an der chinesischen, türkischen, byzantinischen wird auch ein Thucydides zu Schanden.“ (ebd. 6) Er sucht, wo „aus dem Tode neues Leben, aus der Verwesung eine neue Blüthe“ entstehen kann (ebd. 6). Das schreibt der Protestant Fr. Chr. Schlosser in Heidelberg. „Als das römische Reich unterging, ward die Cultur des Menschengeschlechts im Orient wiedergeboren, während der Occident in Barbarei versank.“ Deshalb lässt er in seinem Text „die Geschichte der Blüthe des von Mohammed aufgeregten Orients … der früheren Geschichte der neuen christlichen Reiche und der römischen Hierarchie vorangehen; dadurch wird dann das Wesen des Ritterthums, wie es sich abgesehen von normannischer Feudalität gestaltete, und die Bedeutung der Kreuzzüge ohne alle Weitläufigkeit oder gelehrte Demonstration dem gesunden Verstande durch Geschichte und Thatsachen anschaulich werden. Das Ritterthum war Heroismus, Poesie und Begeisterung, so lange Christenthum und Islam kämpften, die Kreuzzüge riefen also eine neue Civilisation hervor; später machte der Stolz des Feudaladels aus Rittern rohe Räuber.“ (ebd. S. 8; er bezieht seine Informationen über das Leben Mohammeds von Professor Weil aus Heidelberg).

4. Die „Diskursrevolution“
Für Roeck dagegen entwickelt sich in der „ersten Renaissancen“ (S. 277) mit der Scholastik und mit der Revolution des Redens, Lesens und Schreibens in den Städten ein „Diskursraum“, während in Byzanz „Wissenschaft im Weihrauchdunst“ (S. 342, 273) keine Chance hat. „Lateineuropa dachte bald griechischer als die Griechen.“ (S. 277) Die „Diskursrevolution“ (S. 278) erfasst erst Kleriker, dann Laien. Weltliche Stoffe, Latein als verbindende Sprache, das höfisches Zeitalter mit Chrétien de Troyes und der Einbindung der Francia schaffen im 12. Jahrhundert ein neues intellektuelles Klima. Ideen werden nicht aus sich heraus erzeugt, sondern im Austausch (S. 44), im Diskursraum in der Kommunikation (S. 34/35, S. 37).

Florenz ist eine Stadt mit Klientelnetzen und tendenzieller Durchlässigkeit der Gesellschaft. In dieser Stadt hilft Leonardo Bruni (1370-1444) dem „ciceronianischen Dialog, jenem großartigen Instrument kritischer Vernunft, zur Renaissance“ (S. 468). Die Totenrede von Bruni „für Nanni Strozzi“ „ist eine Eloge auf die Republik, auf die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und auf die Freiheit“ (S. 468). Das Grabmal ist „marmorner Humanismus“ (S. 471)

„Der Humanismus stellte eine bürgerliche Moral bereit, reflektierte die politische Praxis, wies Wege zu einem angenehmeren Leben und wandte sich überhaupt entschieden der Welt zu mit ihren zur Erforschung auffordernden Rätseln und Wundern.“ (S. 353)

Briefe schreiben wird zur gepflegten Kunst (500, 501), bei der die Briefe über den unmittelbaren Adressaten hinaus ein Zielpublikum haben.

In Urbino (S. 662) entwickelt Castiglione (1478-1529) im „Cortegiano“ (Der Hofmann) vorbildlich Dialogkultur der Renaissance mit ihrer sprezzatura (Maße). Das zeitgenössische Gegenbild ist nach dem Sacco di Roma (1527), dem Einbruch der Barbarei in Gestalt einer von allen Hemmungen befreiten Schar von Söldnern (S. 754). Es ist ein Zivilisationsbruch, der später nur noch übertroffen wird durch die Plünderung von Magdeburg im 30jährigen Krieg. Er ist strukturell am ehesten zu vergleichen mit dem rücksichtslosen Umgang mit den Regeln der internationalen Politik durch den US-Präsidenten nach 2016. Der „Grobianus“ steht gegen die im „Cortegiano“ entwickelte Kunst der Konversation (S. 664), dem Modell des aufgeklärten Diskurses von Gleich zu Gleich (der kranke Herzog wird zu Bett geschickt, bevor die Konversation im höfischen Kreis beginnt) (S. 666). Bei der Form des Gesprächs ist Sokrates symbolisch immer präsent (S. 52/53). Es ist Teil des „betörenden Begriffs ‚Freiheit‘“ (S. 44).

Die italienische Leitkultur wird in Urbino, Mantua, Ferrara (Isabella d´Este) entwickelt (S. 679/680), aber auch Ariost mit „Orlando furioso“ („einer der großen Verrückten der Weltliteratur“) und das Volgare, die Umgangssprache, haben ihren Platz.

Die „rhetorische Revolution“ entwickelt nach dem Vorbild von Cicero die Technik des Argumentierens und Erörterns nach beiden Seiten hin (S. 502) (Wie hängt das mit den politischen und ökonomischen Gepflogenheiten zusammen?).

Lorenzo Valla (1405/07 – 1457) gilt als Neubegründer der Rhetorik und „erzählt, wie man sich in Orsinis Palazzo in Antike Gewänder gehüllt versammelte, um klassisches Rom zu leben: Ein Stück Humanistenromantik.“ Später sind es am Rhein die Prinzen von Preußen, die in ihren geschenkten und erneuerten Raubritterburgen wie Friedrich von Preußen in Rheinstein „im Mittelalter gehen“, wie C.G.Carus schildert.

Valla beweist (wie später Cusanus), dass die Konstantinische Schenkung eine Fälschung ist. Er orientiert sich an der analytischen Methode des Thukydides. „Indem er die Rhetorik als ‚Königin der Dinge’ über die Philosophie stellte, wollte er dem freien, unbefangenen Blick zu seinem Rechte verhelfen.“ (S. 503)

Auch wenn die Diskursrevolution ihre Kinder entlässt und affirmativer wird und Moral und Tugend stärker gewichtet werden, bleiben rhetorische Revolution und Textkritik erhalten. (S. 499)

Es mag sein, dass man mehr über die großen Künstler und ihre Werke erfahren möchte. Aber da ist vieles Allgemeinwissen, das man leicht abrufen kann. Vielleicht ist man auch als Leser, der Leonid Batkin (Die italienische Renaissance. Versuch einer Charakterisierung eines Kulturtyps. Frankfurt am Main/Basel: Stroemfeld/Roter Stern 1981, Kap. „Der Dialog“ ebd. S. 265) kennt, voreingenommen und erwartet mehr und intensiveres. Dort wird die Bedeutung des Diskurses stärker als Gesamtcharakteristikum hervorgehoben. Aber die besondere Qualität von Roeck besteht in dem weit ausgreifenden Zugriff vom Mittelalter bis zum Barock, von Spanien (und der neuen Welt) bis China und Japan (die australischen Aborigines als Wohlstandsgesellschaft mit hohem ästhetischen Potential, aber ohne Wachstumszwang, hätten auch einen schönen Kontrast geben können).

5. Die Aufwertung des Menschen: Lukrez, Valla und Mirandola
Die Renaissance begeistert wegen des Menschenbildes, das in Künsten und Gedankenwelten sich entfaltet. „Gegen das niederschmetternde Menschenbild des Papstes“ Innozenz III. (1198-1211) gab es neben Nikolaus von Cues (1401-1464) (S. 511) zwei Humanisten, die ihre Stimmen erhoben, Bartolomeo Fazio und Giannozzo Manetti (der Leonardo Brunis Leichenrede hält). Sie leiten „Epikurs Rückkehr“ ein (S. 514). „Manettis Schrift ‚Über die Würde und Erhabenheit des Menschen‘ antwortet Fazio, der dem kontemplativen gegenüber dem aktiven Lebenden Vorzug gegeben hatte.“ Für ihn ist der Leib „ein wunderbares Kunstwerk des Schöpfers und Krone von dessen Werk“. Der Mensch scheint „für ein glückliches Leben in einer schönen Welt … bestimmt, nicht zu grauer Pilgerschaft entlang dem Jakobsweg zum Tod“ (S. 514) – auch wenn er „dem Willkürregiment der dunklen Macht des Schicksals unterworfen“ (S. 515) ist.

Wieso eigentlich erleben in einer Zeit, da in Mitteleuropa die Reformation die Grundfesten der Herrschaft des Katholizismus erschüttert, die Künste in Rom (und ganz Norditalien) ihre größte Blüte? Darüber könnte man ausführlicher nachdenken. Julius II. (1503-1513) ist entscheidend für Michelangelo (S. 641) und für die Kunstpatronage zu St. Peter und die Sixtinische Kapelle, der Medici Papst Leo X. 1515 -1521 gilt als „der“ Renaissance-Papst (gest. 1521). (S. 641)

In Fulda entdeckt zur Zeit des Konstanzer Konzils, das drei Päpste absetzt und Martin V. (S. 476) als neuen Papst einsetzt, der „Handschriftenjäger“ Bracciolini 1414 den Text „Über die Natur der Dinge“ von Lukrez (97-55 v.C.) (S. 515). Dieser „zeigt Epikur als Überwinder der Religion, die das Leben der Menschen auf abscheuliche Art unterdrückte“ (S. 516). Auch in der Hemmungslosigkeit der Liebe sieht Lukrez das Sehnen nie endlich erfüllt, sondern immer wieder angefeuert sieht (S. 517).

Unser Lateinlehrer versuchte uns Ende der 1950er Jahre in Rüsselsheim am Main Lukrez und seine materialistische Interpretation der Welt nahezubringen. Wundersam wirkte es dann für mich, als ich in der Wende 1989/1990 in einem Zeitungskiosk in der S -Bahn in Berlin-DDR den Band Lukrez des Leipziger Reclam-Verlags (Lukrez [d.i. Titus Lucretius Carus]: Vom Wesen des Weltalls. Leipzig 1989), als Neuerscheinung erwerben konnte: Ein Abgesang auf die Askese der Arbeiterbewegung? Die Lukrez-Übersetzung von Dietrich Ebener, datiert Rehbrücke Mai 1987 (ebd. S. 32), erinnert zwar an Bracciolini als den Entdecker (S. 28) geht aber nicht näher auf die Überlieferungsgeschichte ein.

Lorenzo Valla verbindet Epikur, Stoa und Christentum. Die Lust „und keine blutleere ‚Tugend‘“ wie sie später in den Auftragswerken der Renaissance auftaucht, „erscheint als mächtige Triebkraft allen Strebens, es mag auf Geistiges oder Körperliches zielen. Mehr als anderes veranlasse sie zur Selbsterhaltung. Falsche Reinheit, Keuschheit, Märtyrertum oder gar Selbstmord im Dienst der Tugend – das alles ist für Valla fragwürdig. Erst recht seien es die, die andere aufforderten, für das Vaterland zu sterben. Die Toten hätten schließlich nichts von ihrem Ruhm, wohl aber jene Lebenden, von denen sie in den Tod geschickt wurden. Lust, die Freude am Angenehmen, Schönen, Nützlichen darf nach Valla ihren Platz im Leben und so auch, mit Epikur, im Körper haben. Das wahre Gute aber – nun mündet sein der Dialog ins Religiöse – wird allein im Himmel zu gewinnen sein. … Christliche Liebe, das Gute und die Lust, ‚freudige Bewegung des Geistes und süßes Behagen des Leibes‘, sind ein und dasselbe.“ (S. 519)

Lebendige Vielfalt herrscht, und eines der Wunder der Renaissance ist, dass über Stände- und Klassengrenzen es prinzipiell (wenn auch selten faktisch) möglich ist, dass jeder anerkannt wird, der sich die der Kenntnisse der Schriften und des Denkens der Antike aneignet und in den entsprechenden Tugenden, vor allem der Diskurskultur, lebt (Leonid Batkin, s.o., hat das besonders hervorgehoben; er wird von Roeck nicht erwähnt).

Pier Paolo Vergerio (1370-1444) will gesunden Geist in gesundem Körper. Er zielt auf „Menschen, die frei werden sollten durch Philosophie und die ‚freien Künste‘“. Diese sollen auch „Quellen der Freude“ sein, naturwissenschaftliche Kenntnisse eingeschlossen (S. 499). Leon Battista Alberti (1404 – 1472) zieht aus der Betrachtung der Dinge Genuß und fragt „Quid tum“ (was jetzt) (S. 523).

Für Pico della Mirandola (1463-1494) (S. 571) (dem ich eine größere Rolle zugedacht hätte) ist der Mensch geschaffen frei von allen Beschränkungen, und da zeigt sich ein neuzeitlicher Subjektivismus (S. 794/795), aber das Ziel bleibt die „Vereinigung der Seele mit Gott“ (S. 795). „Sehr diesseitszugewandt ist das alles nicht. Picos Rede“ über die Würde des Menschen ist so gesehen „nur vordergründig ein humanistisches Manifest“ (S. 795).

Florenz, die anderen Stadtstaaten und die Universitäten geben dem Optimismus der Renaissance Raum. Ein welthistorischer Solitär ist die lateineuropäische Universität als Lehrstätte anstelle der Klöster (251). Sie wird mit eigener Rechtsprechung ausgestattet (S. 254 S 252). Zunächst nur bezogen auf Bologna ist die Urkunde von Barbarossa, die den Schülern und Lehrern Schutz und eigenen Gerichtsstand, damit die vielversprechende „akademische Freiheit“ zugesteht. Sie wird dann von Philipp II. auf Paris, schließlich auf alle Universitäten übertragen. Diese „Abgrenzung als Korporationen“ macht den entscheidenden Unterschied zu muslimischen und anderen Hochschulen aus. Universitätsangehörige werden den Klerikern gleichgestellt (S. 255). Sie gliedern sich in „nationes“. Es ist ein wirkungsvolles Denkkollektiv mit gemeinsamer Sprache. Erst 1755 gibt es die vergleichbare Alma mater in Moskau (S. 256/ 257)).

6. Die Horizontale und die Vertikale
Eindrucksvoll und anregend ist, wie Roeck die Unterschiede und Beziehungen zwischen der „Horizontalen“ und der „Vertikalen“ hervorhebt: Die Horizontale steht für die Bürgermacht, gegebenenfalls auch für das „Volk“, die „Vertikale“ für die (mehr oder weniger autokratische) Herrschaft. Die Niederlande und England sind es, die zunächst neben den italienischen Städten eine ausgeprägte Horizontale mit Bürgermacht entwickeln (S. 1143). Die „Mittleren“, die Mittelschichten des Bürgertums in den Städten, stehen für die Horizontale und deren Offenheit (S. 1139/1140). In England entstehen 1258 Vorformen horizontaler Parlamente (S. 329).

Die europäischen Städte sind wie die Universitäten „Solitäre“ (S. 1141, S. 1143 andere Beispiele). In ihnen repräsentieren Korporationen wie die Zünfte (oft sind es Zwangskorporationen) die Kraft der Horizontalen. Korporationen können politische Forderungen und ökonomische Interessen wirkungsvoller gegen Monarchen vertreten als Individuen. Sie gestatten, Demokratie einzuüben (S. 1144) (und die Organisationen der Arbeiterbewegung, teilweise aus ihnen hervorgehend, setzen das fort)

Erste Humanisten wie Brunetto Latini (1220/21 – 1294) argumentieren mit Bürgerstolz republikanisch und plädieren dafür, aus der eigenen Geschichte lernen, nicht aus Rittergeschichten (S. 349). In den Niederlanden und in England entwickelt sich zeitweise eine ausgeprägte Horizontale. (1143). Die Totenrede von Leonardo Bruni (um 1370 – 1444) auf Nanni Strozzi „ist eine Eloge auf die Republik, auf die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und auf die Freiheit“ (S. 468). Erst die Fürstenherrschaft beendet in Italien, (wie in Japan die Tokugawa-Zeit) die Chance der Horizontalen (S. 1109).

Reiche Textilregionen bringen vergleichsweise offene Gesellschaften hervor. „Die Klüfte zwischen Reich und Arm waren gleichwohl dramatisch. Das wohlhabendste Prozent der Florentiner verfügte über ein Viertel des Reichtums, anderswo, etwa in Basel, verhielt es sich ähnlich.“ (S. 366) Das aber ist gar nichts gegen die noch viel dramatischeren Verhältnisse in der Gegenwart. Geld wird investiert in Grundbesitz vor der Stadt. „Die Stadt gestaltete das Land. Die unvergleichliche toskanische Landschaft mit ihren verstreuten Gehöften, den ‚case sparse‘, ist ein Kunstwerk des Kapitalismus.“ (S. 367) Ähnlich sind später die Villen von Palladio in der „Terra Firma“ von Venedig zu werten. Erträge werden auch „ins Seelenheil.“ Investiert. „In ganz Europa errichtete man mächtige Hallenkirchen – Denkmäler von Wirtschaftskraft und kommunaler Macht, Ausdruck der Sehnsucht nach Seelenheil und Predigtwort.“ (S. 466)

7. Die einfachen Leute
„Was der ‚gemeine Mann‘ und die ‚gemeine Frau‘ … taten und dachten, ist fast völlig unbekannt.“ (S. 620) Sie kommen freilich in dem Buch ohnehin zu kurz, auch wenn man weiß: „Alle Kultur hing an ihrer Arbeit“. (S. 231) Über ihre Lebensweise und über ihren Beitrag zur Gesamtentwicklung, auch über die Verflechtungen der Milieus und den Anteil von „Klassenflüchtlingen“ erfährt man wenig.

„Fern der Welten der Entdecker und Intellektuellen taten der gemeine Mann und die gemeine Frau millionenfach ihr Tagwerk. Sie beteten oder zechten zu Feierzeiten, um mit Sonnenuntergang aufs Strohlager zu sinken, während die Nacht draußen den Sternen, Eulen und Dämonen blieb. Von ihren Träumen ist wenig überkommen, kaum etwas von ihren Alltagsgesprächen, nichts von ihren Bildern vom Kosmos und von der Natur, die ihnen voller Geheimnisse und von Zauber durchwirkt erschienen sein dürfte.“ (S. 620)

Das kann man relativieren, auch mit dem Beispiel des Müllers Menocchio (Ginzburg, Carlo: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Berlin: Wagenbach 1990) . Die Dämonen, Geister, Elfen und Riesen, die Roeck als ihre Welt erwähnt, gehörten genau so zur Vorstellungswelt der Intellektuellen. Eine Sagensammlung wie die von Ignaz Vinzenz Zingerle (Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol. Gesammelt und herausgegeben von - . Innbruck: Wagnersche Buchh. 1859) aus Tirol zeugt für spätere Zeiten davon, ebenso tun dies Predigten und Visionen der Mystiker, Kleriker, Mönche und Heiligen beiderlei Geschlechts.

Bei Boccaccio begegnet man „kleine(n) Leute(n), die es verstehen, Größere durch Freigebigkeit und schlaue Reden in Verlegenheit zu bringen“ (S. 413). Der Anonymus Karsthans „stellt einen einfachen Bauern als klugen, bibelkundigen Disputanten gegen den reformationsfeindlichen Franziskaner Thomas Murner (1475-1537) ins Feld“ (S. 744). Das sind verschiedene Zeiten und Gegenden, aber wohl (fast) immer und überall gibt es „einfache Leute“, deren Denken und Handeln auf mannigfaltige Weise verflochten sind mit den anderen Milieus (natürlich auch als Dienstboten, Gesinde usf.).

„Volk“ und die Mittelschicht sind Akteure in Aufständen in Frankreich, Deutschland, Italien: „‘Volk‘, das waren allerdings nicht nur ‚les miserables‘, die Elenden und Ärmsten. Eine gehobene Mittelschicht von Kaufleuten, Rittern, Honoratioren, die der Kämpfe stadtrömischer Adelsclans überdrüssig waren, hatte Rienzo zur Macht getragen, wohlhabende Bauern und städtische Handwerker, selbst Amtsträger der Krone waren in der Jacquerie anzutreffen. Nicht einfach ‚schlechte Verhältnisse‘ pflegen die Menschen auf die Barrikaden zu treiben – die halbe Welt wäre sonst auch heute in Aufruhr. Anderes muss hinzukommen, etwa die Überzeugung, Ungerechtigkeit zu erleiden, oder die Angst, alles zu verlieren, und umgekehrt die Aussicht auf Aufstieg und Macht, gepaart mit Schwäche und Kontrollverlust der Herrscher.“ (S. 387/388, 390) Der Druck der Steuerlasten oder Forderung nach Gleichheit (S. 389) sind wiederkehrende Motive.

8. Gemeinnutzen und Korporationen
Bei dem Versuch der Errichtung einer „katholischen Universalmonarchie“, angeregt durch Großkanzler Mercurino Gatttinara, gerät ein Kaiser wie Karl V. (1520-1556) schnell an Grenzen. „Überall verfing sich der Herrscherwille in Gestrüppen von Gewohnheiten, Privilegien, Exemtionen, fand Grenzen in der stillen Macht der Financiers, der weniger stillen von Fürsten, Ständen und Kirche und selbst in der Eigenwilligkeit spanischer Schafzüchter, die sich im ‘Ehrenwerten Rat der Mesta‘ organisiert hatten. Eine einheitliche Verwaltung für das bunte Länderkonglomerat zu schaffen, war unmöglich.“ (S. 731)

Dieser Karl V. kritisiert beim Reichstag in Augsburg (1547, in der gleichen Zeit wie das Konzil zu Trient 1545 und 1551ff.) abtrünnige Reichsstädte und ordnet die Abschaffung der Zunftregimenter von „Ochsen und Pöbeln“ (damit auch der Commons) an. Sie sollen durch aristokratische Obrigkeiten ersetzt werden (S. 782). Das ist ein Beispiel für die verbreitete Arroganz der Herrscher (und des Adels), wie wir sie auch bei Liselotte von der Pfalz finden. Moritz von Sachsen wagt damals den Aufstand gegen den Kaiser.

Thomas Müntzer schimpft: „Offen griff er die Fürsten an, die ‚Grundsuppe des Wuchers, der Räuberei und Dieberei‘“, die alles für sich wollten, „die Fisch im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden ‘“ (S. 748). Die Memminger 12 Artikel des Bauernkriegs beanspruchen die Beibehaltung der Gemeinnutzen von Wäldern, Gewässern und Allmenden (S. 749).

Der Bauerkrieg ist die bedeutendste Erhebung der Horizontale in Europa seit Menschengedenken (S. 749). Die Gegenbewegung bleibt nicht aus (S. 401). Richard II (1377-1399) steht in England für den Terror der vertikalen Macht. Als 1381 Tyler, einer der Begnadigten eines Aufstandes, dem König die Hand schüttelt und ihn als „Bruder“ anspricht, wird er niedergemacht und geköpft (S. 389/390). Nachdem Venedig sich gegen Genua behauptet hat (Chioggia-Krieg 1381), schottet die Adelskaste sich ab, die Volksversammlung wird abgeschafft (S. 402). Deutlich wird, dass in den Stadtrepubliken immer die Milieus von Besitz und Tradition dominieren.

Im Denken von Macchiavell dominiert skeptisches Denken: „Die Geschichte führt nicht vom Schlechten zum Guten. Vielmehr wiederholen sich ihre Konstellationen in immerwährendem Kreislauf: Aus Ordnung wird Chaos, aus Chaos Ordnung.“ (S. 644) Seine politische Theorie ist eine Moral des Notstands. „Geht der Staat zugrunde, ist alles übrige nichts.“ Ihn zu erhalten sind auch Untaten erlaubt.

9. Warum nicht in China?
Roeck fragt, weshalb es in Asien (oder anderswo) nicht auch Ansätze für einen „Fortschritt“ gab wie in Europa. Ein Erklärungsansatz bezieht sich darauf, dass es in Asien immer wieder große Katastrophen gibt und deshalb ein Fortschritt wie in Europa nicht möglich ist (S. 1097). China (S. 1121) ist mit seinen Bürokraten-Prüfungen eine „vermauerte Gesellschaft“, auf andere Weise waren das auch Spanien und vorher Byzanz.

Das Qing China von 1761 bis 1840 war das „chinesisches Jahrhundert“, das für die Europäer (und Baron Rumford) eindrucksvoll war. Es war aber von einem Durchbruch zur Industrialisierung weit entfernt (S. 1103), wohl auch wegen der verfügbaren großen Menge menschlicher Arbeitskraft. Das Indien von Mohammed Babu kannte keine Bürgerfreiheit. Indische Wissenschaftstradition wurde abgebrochen (S. 1104). Nur in der Mogulzeit gab es Ansätze zu einer Mittelklasse.

Japan kennt Feuerwaffen seit 1543 (S. 1108), verzichtet aber später weitgehend auf sie und agiert ab 1630 als geschlossener Handelsstaat. Konfuzianisch geprägt, erlebt es eine lange Zeit des äußeren Friedens (S. 1110) und der inneren Entwicklung. Es ist die am meisten urbanisierte Region Asiens, aber ohne den 1854 aufgezwungenen Freihandels hätte es sich eher nicht „fortschrittlich“ entwickelt.

Die Geschichte all dieser Regionen zeigt, was ihnen entgangen ist und wovon sie verschont wurden, als sie keinen Weg des „Fortschritts“ einschlugen.

10. Wozu Reichtum?
So gibt es in dem Buch von Bernd Roeck eine Fülle von Anregungen, Erkenntnissen, Interpretationen: Man muss dieses Buch nicht so hymnisch loben, wie es in manchen Rezensionen geschieht, aber lohnend sind die 1200 Seiten allemal. Und man kann ja wieder nachschlagen.

Ein Stichwort, unter dem man dieses Buch auch behandeln könnte: Zeigen, was eine „kulturelle Blüte“ ist und wie sie mit Gesellschaft zusammenhängt. Man hätte noch deutlicher fragen können: Was fangen Gesellschaften mit ihrem Reichtum an? Und dann hätte man die ganz andere Art der Nutzung des Reichtums hervorheben können, wie sie sich unterscheidet von derjenigen Epochen, die Reichtum nur nutzen, um noch mehr Reichtum zu schaffen, oft genug zuungunsten der Lebensqualität, der Enkelgerechtigkeit ohnehin. Aber die Zusammenhänge zwischen ökonomischer Entwicklung, Naturstoffwechsel, Produktionsverhältnissen und Reichtumsverteilung werden in dem Buch ohnehin nicht ausführlich thematisiert (nur die Klimaveränderungen spielen eine Rolle).

In der Renaissance, wird immer wieder kulturgeleitet und von einem lebensbejahenden Menschenbild geprägt, diskursiv und mit offenem Ende ausgelotet, was menschliches Leben ausmacht, Muße und Lebensqualität eingeschlossen. Von solchen Verhältnissen kann man träumen, wie viele, von Jakob Burckhardt bis Bernd Roeck es tun. Und Motivation zum Handeln kann auch daraus entspringen.

Dieter Kramer Dörscheid/Loreleykreis 13. Juli 2018 kramer.doerscheid@web.de