Report | Kulturation 2018 | Thomas Koch | Notizen anlässlich der Lektüre eines Buches
über Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein | Wolfgang Engler und Jana Hensel
„Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein“
Aufbau 2018, 288 Seiten
Abkürzungen
BTW = Bundestagswahl, D = Deutschland, Dt. = deutsch, DD= Dresden,
dem. = demokratisch, FTK = Frank Thomas Koch, E = Wolfgang Engler, H =
Jana Hensel, RF = Frankreich, Wd = westdeutsch, WWII = World War II =
Zweiter Weltkrieg
Anlass und Charakter des Buches
Wer sind diese
Ostdeutschen?, frage sich die Öffentlichkeit nicht zuletzt nach PEGIDA,
NSU und den Wahlerfolgen der AfD bei der BTW 2017. Der Verlag brachte
zwei namhafte ostdt. Stimmen zusammen. Autoren stimmen in einer Reihe
der Fälle nicht überein (siehe Dissenspunkte/Unterschiede). Buch ist
als Disput ausgelegt. Jedes Kapitel wird mit einem Motto eingeleitet,
worin meist die Positionsunterschiede aufscheinen. Sie reden einander
mit Sie an. Moderation und Bearbeitung des Gesprächs: Maike Nedo. Diese
taucht nur im Impressum auf, hat aber wohl beachtliche Leistung
vollbracht. Unter Punkt III. werden in dem von mir vorgelegten
Thesen-Papier bemerkenswerte Positionen von Engler und Hensel aufgeführt.
Dissens/ Differenzen/ Unterschiede zwischen Engler und Hensel (1 - 12)
0. Bewertung der Entscheidung im Herbst 2015
Hensel : Der Herbst 2015 ist für D ein historisch strahlender Moment. Engler : da manifestierte sich eine tiefgreifende Krise der politischen Repräsentation.
1. Einschätzung von Merkel
Hensel
: Merkel sei für ihre Biographie sehr wichtig, sie habe ihr weibliches
Selbstbewusstsein wesentlich aus ihrem Selbstbewusstsein abgeleitet
(197). Sie steht für einen singulären Aufstieg (197)// Engler :
Merkel steht in der langen Reihe jener Politiker, die seit den 1980er
Jahren die Weichen dafür stellten, dass eine Politik der offenen Tür,
der ungesteuerten Zuwanderung, die sozialen Konflikte im Ankunftsland
verschärfen mussten. Sie handelt moralisch, ohne die Folgen zu
bedenken. Etwas Ärgeres lässt sich über Politiker kaum sagen (202)
2. Über Merkels Diktum „Wir schaffen das“
Hensel : Sternstunde für Deutschland// Engler : naiv, Arroganz der Macht.
3. Klassifizierung der PEGIDA-Demonstranten
(Nur
gradueller Dissens zw. beiden). Nicht gut sei es, Demonstranten als
dröge Mitläufer von Brandstiftern zu sehen; Einbettung in Ossi-Bashing.
4. Findet hierzulande eine Formatierung von Diskursen statt? Wer formatiert?
Engler
: die Schwellen der Bereitschaft der tonangebenden Schichten der
Gesellschaft sich rechtsorientiert zu äußern, sind niedriger geworden.
„Die konsensorientierte Formatierung der öffentlichen Diskurse ist
weithin außer Kraft gesetzt“ (S.26)/ Hensel widerspricht energisch. Engler
: In Gesellschaften wie der unseren funktioniert das ohne Dirigenten
(27), weil Herkunft, Rekrutierung und Sozialisierung der medialen
Diskursteilnehmer Konformität erzeugen. Engler liefert Belege für Formatierung (30)
5. Rolle und Bewertung der sozialen Medien
Hensel sieht deren Bedeutungszuwachs eher kritisch; Engler
: die sozialen Medien haben das Deutungsmonopol der klassischen
hinsichtlich der gesell. Meinungsbildung wirksam untergraben (36)/
Leider würde er nicht sagen, man kann seine Ansichten heute an den
herkömmlichen Medien vorbei lancieren.
6. War der neoliberale Kurs erfolgreich?
7. Erklärt stärkere Staatsverdrossenheit den bedeutenden AfD-Erfolg im Osten mit? (115)
8. Brauchte der Osten - unter den obwaltenden Bedingungen - eine Rebellion von rechts, um sich zu emanzipieren?
Ich finde nicht ( Hensel .), leider ja ( Engler )
9. Bewertung der aktuellen Identitätspolitik
Engler : Aktuelle Identitätspolitik besitzt einen blinden Fleck; Hensel : Identitätspolitik ist Sozialpolitik (195 ff).
Engler
: wozu es führt, wenn man identitätspolitische Themen so hoch
veranschlagt, dass die klassische soziale Frage in den Hintergrund
gerät, zeigte der US-Wahlkampf (205). Hensel : identitätspolitische Fragen sind soziale Fragen. Den Widerspruch, den Engler sieht, sieht Hensel nicht (206).
Engler
: Die Identitätspolitik, wie sie heute meist daherkommt, besitzt einen
blinden Fleck in der Weltwahrnehmung. Nicht was uns verbindet, seht im
Fokus, sondern was uns unterscheidet (207). Hensel : ich erlebte identitätspolitische Fragen als eine große Öffnung der Diskurse und nicht als ihre Verschließung (208).
Engler
: Gerade der linke pol. Diskurs ist im Verlauf der letzten Jahrzehnte
zu sehr unter identitätspolitischen Zeichen verlaufen, auf Kosten der
traditionellen sozialen Agenda. Die neue Rechte hat diese
Schwerpunktverlagerung geschickt für ihre Zwecke ausgeschlachtet. Protagonisten aus dem linken Spektrum wie Klaus Lederer (mehr
identitätspolitisch agierend) und Sarah Wagenknecht (mehr sozialpol.)
gehen in dieser Frage keineswegs konform, es gibt einen Richtungsstreit
(210). Engler zitiert zustimmend eine Passage aus dem Buch von Marco d`Eramo „Die Welt im Selfie“ (S.220f). Engler
sagt im Anschluss daran: Zahlreiche Linke neuen Typs gefallen sich
darin, ihre kosmopolitische, globalisierungsaffine Denk-, Sprech- und
Lebensweise zur allgemeinverbindlichen zu stilisieren. Sie
repräsentieren den Teil der ökonomisch Beherrschten, der seinerseits
kulturelle Herrschaft über den `plebejischen` Teil der ökonomisch
Beherrschten anstrebt (221)
10. Politische Korrektheit
Engler stimmt
Alice Weigel bei in ihrem Statement zu: pol. Korrektheit gehöre auf den
Müllhaufen der Geschichte (216) und meint solche Rede falle im Osten
auf fruchtbareren Boden als im Westen, weil die DDR-Gesellschaft eine
Sprachregelungsgesellschaft war und in der Nachwendegesellschaft
setzten sich die Sprachregelungsprozesse fort (217). Hensel :
die Sprachregelungen in der DDR dienten der Einhegung, die Erfinder von
political correctness wollten hingegen Sprache öffnen, Barrieren
abbauen (217).
11. Pro und Contra offene Grenzen (siehe weiter unten)
12. Spezifika der Sprecherpositionen von Hensel und Engler
. Über die Einlösung eines familiären bzw. persönlichen Auftrages. Über
ein (mögliches) Vermächtnis der DDR-Deutschen an die Ostdeutschen. Über
eine (mögliche) historische Mission der Ostdeutschen Mehrere Kapitel beschreiben über weite Strecken die jeweiligen
biographischen und sozialen Voraussetzungen und Impulse der beiden
Autoren, mit Schriften über Ostdeutschland hervorzutreten. Im Falle Engler s – das Buch „Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land“ (1999) und im Falle Hensel s „Zonenkinder“ (2002) – FTK. Offen gelegt werden soziale Herkünfte.
Hensel
: Vater (Jahrgang 1949), zuletzt in der DDR Betriebsleiter eines
mittelgroßen Betriebes im Baugewerbe, Mitglied der SED, akzeptierte
keine Grenzen in den Möglichkeiten; Mutter Chemielaborantin
(SED-kritisch), ging mit der Tochter ( die 1989 13 Jahre alt war) zu
Montagdemonstrationen. Klarer Auftrag des Vaters an seine Tochter,
voranzugehen und zu führen. „Du kannst denken, denk für die anderen! Du
kannst reden, red für die anderen! Du kannst schreiben, schreib für die
anderen!“ (139) Vater war stolz, als seine Tochter zur
Pionier-Gruppenrats-vorsitzenden gewählt wurde, weil das aus seiner
Sicht zeigte, dass ich in der Lage war, mich an die Spitze zu setzen
(140). Und in dieser Spitzenposition hatte sie sich um andere zu
kümmern. Ich, so Hensel , hatte in meinem Buch „Zonenkinder“
eine explizit selbstbewusste ostdt. Position eingenommen und spürte
erst in der anschließenden Debatte die Fragilität meiner
Sprecherposition. Meine Herkunft verpflichtet mich gerade, mich
solidarisch gegenüber allen Erscheinungsformen von Minderheiten zu
zeigen(142). Hensel : über Anlässe für ihr Buch von 2002
„Zonenkinder“ (46 ff): Für meine „Generation“ (Jahrgang 1976) gab es
gar keine Zuschreibungen. Bis Ende der 1990er existierte sie als
beschrieben Generation nicht. Das hatte mit Klischees zu tun, wonach
die DDR mit dem Jahr 1989 und alle ihre Prägungen verschwunden wären.
Und so sprach man mir mit meinen bei Mauerfall 13 Jahren jede
DDR-Erfahrung ab. An anderer Stelle im vorliegenden Text (S. 52/53)
legt sie dar, dass sie „ihre Generation“ als Helfer, Pionier, Scout für
die unbeholfene und in einer tiefen Identitätskrise befindliche
Elterngeneration sah, in der nun entstehenden Gesellschaft einen Fuß
auf die Erde zu bekommen. „Zonenkinder“ transportierte in dieser
Hinsicht einerseits ein gestörtes Eltern-Kind-Verhältnis, Scham über
die Elterngeneration und das Gefühl der eigenen Generation, der der
Eltern kulturell überlegen zu sein. Als ich (FTK) seinerzeit
Zonenkinder las und das Kapitel über die Eltern, notierte ich im
Geiste: Hensel verkennt die sozialen und kulturellen
Differenzierungen in der Elterngeneration und ihrer differenten
Kapitalausstattung, mit der sie aus der DDR hervorgegangen ist. Engler : Vater ( Jahrgang 1914), von Beruf Brauer; aus
sozialdem. Haushalt; Soldat und Gefangenschaft im WWII; Funktionär in
der DDR, zuletzt Abteilungsleiter im Staatssekretariat für Körperkultur
und Sport, linientreu; Reisekader, hat die halbe Welt gesehen. Mutter
Hausfrau. Emotional keine besonders intensiven Beziehungen von E. zu
seinen Eltern. Übersiedlung von DD nach Berlin-Prenzlauer Berg im Alter
von 5. „Ich lernte damals jene Großgruppe der Gesellschaft kennen, die
zentral für diesen Staat war und wurde von allen Illusionen geheilt,
die man im sozialen Umfeld meines Elternhauses hegte“ (42).
Auseinandersetzungen zwischen Sohn und Vater am Küchentisch um
Stalinismus und Prager Frühling. Kein familiärer Auftrag für den Sohn
wie im Falle Hensel . Vater hat ihn aber bei Schwierigkeiten rausgehauen. Während Hensel Minderheiten im Blick hat, präsentiert sich Engler als jemand, der (ostdeutsche) Mehrheiten versteht.
Im letzten Kapitel fragt Hensel Engler
: Wie stehen Sie eigentlich heute zu Ihrer Aussage in „Die Ostdeutschen
als Avantgarde“ über eine Art hist. Mission der Ostdeutschen
(Gleichheit und Freiheit zu versöhnen)? (280). Engler :
relativierend, es gibt keinen kollektiven Auftrag. Aber: im Nachhinein
wächst die Wertschätzung für Ausschnitte ihrer vormaligen Lebenswelt in
der DDR eher als sie schwindet. Die nach außen abgeschlossene
Gesellschaft war nach innen erstaunlich offen (280
Leitfragen und bemerkenswerte Positionen im Text
Wer oder was sind die Ostdeutschen?
Hensel
: Die Ostdeutschen teilten sich ja in jene, die nach dem Mauerfall in
den Westen gegangen sind und jene, die geblieben sind (74), ferner in
jene, die sich als Ostdeutsche wahrnehmen und jene, die das nicht
wollen. Auch das ist eine Spielart ostdeutscher Identität (76). Das
Recht, öffentlich ostdeutsch sein zu dürfen, scheint mir auch für uns
eine zentrale Kategorie (77). Merkel und viele andere Ossis hatten
nicht das Gefühl, öffentlich ostdeutsch sein zu dürfen. Engler : Die Osterfahrung zu leugnen, war
erfolgversprechend für die eigene Karriere. Allerdings ändert weder das
Bekenntnis noch das Beschweigen etwas an der grundsätzlich
durchlaufenen Erfahrung. Nehmen wir das Verhältnis zum Volkseigentum
(S.77 ff) Hensel : Die Ostdeutschen haben eine quasi-migrantische
Erfahrung, fremd im eigenen Land zu werden, ohne es verlassen zu haben
(60).(Ähnlich zuvor Naika Fouratan) Engler : „Bis 1989 waren die in der DDR lebenden
Menschen Ostdeutsche an sich, danach wurden sie zu Ostdeutschen für
sich“(63). Theoretisch und empirisch gedeckt, frage ich mich für die
DDR- Deutschen– FTK ? Es gibt Phänomene, Prozesse, Gestalten und Gewalten,
Institutionen, die das Ostdeutsche an die Weltgeschichte anbinden, z.B.
die Volksbühne unter der Intendanz von Castorf (vgl. Engler S. 106).
Hensel
: Ich glaube tatsächlich, dass die ostdeutsche Erfahrung gar nicht als
wert empfunden wird, repräsentiert zu sein. In der Wissenschaft, in der
Politik, in der Kunst, in den Medien. Im Prinzip ist es eine Art
Marginalsierungskreislauf: Sie wird nicht erkannt, sie wird nicht
erinnert, sie wird nicht repräsentiert (107) Mit der Marginalisierung
der ostdeutschen Erfahrung haben große Teile der Mehrheitsgesellschaft
nicht das geringste Problem (108) Engler : Die Wir-Ich-Balance neigt im Osten stärker der
Wir-Seite zu als im Westen. Dahinter stehe Gewöhnung an jene als
positiv erlebten Aspekte sozialer Gleichheit (129). Noch heute tun sich
Ostdeutsche schwer, für Aufgaben, die sie selbst erledigen können,
Dienstpersonal anzustellen. Was Anrufungen der neuen Rechten, „Ihr seid
das Volk“, Zulauf verschafft (129), ist nicht zuletzt der kritische
Zustand der gesell. Mitte als ein Grundpfeiler im dem.
Wertekonsens.(130) Im momentanen Scheitern Zeit zur Antwort zu finden, das war und ist das Spezifikum der sozialen Mitte, so weiter Engler
(131). Den Hintergrund dieser kommoden Art zu leben bilden Ersparnisse,
Erbschaften, Aktien, Immobilien, Bildung (131). Letzteres ausgenommen
sind die Ostdeutschen weit überwiegend ohne solche Ressourcen gestartet
(131). Dieses Kapital (der Mitte) wurde mutwillig vermindert oder im
Osten gar nicht erst gebildet (132). Engler : Die Probleme, die nach einer gemeinsamen
Bestandsaufnahme und Analyse (für Ost und West) riefen, mutierten unter
wd. Diskurshegemonie zu immer neuen Indizien für die Rückständigkeit
des Ostens (133). Für die zahllosen Hobbyethnologen und Küchenpsychologen, die den
ostdeutschen Mann sezieren, ist kein Faktor zu abstrus, um für die
Erklärung seiner präfaschistischen Dispositionen herhalten zu müssen.
Das sagt viel über die Machtverteilung im bundesdt. Politikdiskurs
(134) – Engler .
Hensel : Aber lässt sich auf
diese Weise erklären, warum der Osten eine Rebellion von rechts
brauchte, um sich zu emanzipieren? Ich finde nicht (134). Engler : Leider eben doch (134).
Engler s „großartige Grabrede auf die DDR“ (77-80)
Man muss sie lesen – FTK.
Wie wurden aus Linken Rechte? Was läuft bei der Linken schief?
Das interessiere die Leute natürlich nach Pegida und dem Aufschwung der AfD (12).
Was ist da passiert und aus der Sicht der Linken schiefgegangen?
Warum
gelang es der Linken nicht, die Marktradikalen in die Schranken zu
weisen, die zivilisatorischen Errungenschaften des Teilhabekapitalismus
zu verteidigen? (88) Engler zur Rolle der Linken 2015: Man konnte im Herbst
2015 unmöglich links sein und Merkels Politik der offenen Tür kritiklos
unterstützen. Die Folgen waren absehbar: gesell. Klima würde rauer
werden; die sozialen Konflikte im Unterbau schärfer. Um ihnen diese
Schärfe zu nehmen hätte die Linke die Unterstützung Merkels mit
energischen Forderungen nach Rücknahme der Hartz-Reformen verbinden
müssen. So sprach die dt. Linke aber nicht (263) Wenn man die deprimierenden Erfahrungen der Menschen nicht ernst
nimmt… und nicht die Systembedingungen in Frage stellt, unter denen
diese Erfahrungen gemacht wurden, dann wandern die Leute ab zur neuen
Rechten (93) Engler meint offenbar: die Linke stelle nicht oder zu verhalten die Systemfrage.
Nur nicht den Volkszorn befeuern, lautet die Devise (248).
Mobilisierungstheoretischsche Erörterungen Engler s:
Engler
: wenn man eine Bewegung stabilisieren oder Leute mobilisieren will,
braucht man ein Drama. In Puncto Dramatisierungspotenzial unterscheiden
sich PEGIDA und AfD wesentlich von den Anti-Hartz-Protesten (243). Zu
unterscheiden sind meta-thematische und mono-thematische Mobilisierung.
PEGIDA und AFD haben im Unterschied zur Linken Meta-themen: Bei
PEGIDA ist es das „bedrohte Abendland“; bei der AfD ist es
„Deutschland“. (246) Den Linken und Linksliberalen gelang es nicht eine vergleichbare
Sammlungsbewegung auf die Beine zu stellen (247). Dazu fehlte es an
einer Generalisierung und Dramatisierung unter linken Vorzeichen(248). Engler meint, man muss die Eigentumsfrage stellen (248),
hier biete sich die Wohnungsfrage als soziale Frage als Meta-Thema an.
Damit würde bzw. könnte die Linke bis in den letzten Winkel der
sozialen Ordnung vordringen (249) Meine (= FTK) Frage: Ist die Linke in der Lage, mit Blick auf ihre Programmatik und ihr Personal, die Eigentumsfrage stellen?
Wofür („Klassencharakter“ / verstanden als soziales Phänomen) stehen PEGIDA/ AfD?
Hensel
: Pegida ist eine bürgerliche Bewegung auf letztlich prekärerem Niveau
als bei den Honoratiorenprotesten, für die die gemeinsame Erklärung von
2018 gegen „illegale Zuwanderung“ steht (254). Pegida ist keine
Bewegung der Abgehängten und Deklassiertem. Die AfD ist eine Partei, die den Geist von Pegida ins Parlament
getragen hat. Sie ist die erste erfolgreiche Ost-West-Partei (253), so Hensel .
Engler : Die Linke hat ihre gesamtdeutschen. Ambitionen nicht beerdigt.
Wie ordnen sich PEGIDA/AFD in annähernd zeitgleiche Ereignisse/Aufrufe/ Sammlungen in D und Europa bzw. in der Welt ein?
Allgemeiner
Rechtstrend. Ist die ostdeutsche Erfahrung eine singuläre Erfahrung
oder unterscheiden sich ostdt. Pegida-Anhänger und AfD-Wähler mental
von den Trump-Anhängern, Front-National-Anhängern in RF…?(92). Engler
: sowohl als auch. Weil die ostdt. Erfahrung so komprimiert war mit
Brüchen für Prozesse, die Westen Jahrzehnte in Anspruch nahmen(92).
Wie verhalten sich Pegida und AfD zur „Gemeinsame
Erklärung 2018“? . Sie ist ein am 15. März 2018 veröffentlichter Aufruf
deutscher Autoren, Publizisten, Künstler und Wissenschaftler, der sich
gegen eine „Beschädigung Deutschlands“ durch eine „illegale
Masseneinwanderung“ im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise in
Deutschland ab 2015 richtet (hier reden die Honoratioren. Wieder anders
zu verorten der Aufruf des Instituts für Solidarische Moderne:
„Solidarität statt Heimat“… Fragt sich nun: was bringt Teile des Bürgertums dazu (gemeint
die Unterzeichner der Gemeinsamen Erklärung 2018), gegen die
bürgerliche Gesellschaft mobil zu machen? Viel einfacher wäre es, wenn
sich sagen ließe, hier sind die Abgehängten Deklassierten am Werke
(254). Engler : Siehe abermals die Erklärung 2018. Lauter
Akademiker, die Nachfahren der guten alten Honoratiorenschicht machen
mobil. Aber wogegen genau. Vordergründig gegen die illegale
Masseneinwanderung, aber das sind Leute, deren Status im Unterschied
zur Unterschicht nicht von der Einwanderung tangiert wird (254). Die
fragile Mitte drängt sich als Erklärung auf. Hinzu kommt der Eindruck,
dass es nicht gerecht zugehe (254). Engler will wohl sagen: Honoratiorenproteste gründen in Ängsten künftig sozial abzusteigen - FTK.
Für solche Abstiegsängste gibt es Gründe, die fortbestehen:
Die
Gründe für den Run des globalen Südens auf die Komfortzonen dieser Welt
bestehen nach wie vor (260). Die Ursachen für die manifeste
Unzufriedenheit von Millionen innerhalb der Wohlstandsinseln sind
ebenfalls nicht beseitigt, mithin auch nicht die Angst, dass die
Verteilungsmasse schrumpfen könnte, wenn der Zustrom von außen anhält.
Und es gibt politische Repräsentanten, die die Menschen bei dieser
Haltung abholen (260).
Was signalisiert und bewirkt der Erfolg der AfD?
Hensel
mutmaßt: vielleicht werden wir eines Tages feststellen, dass diese BTW
2017 das Ende der Nachwendezeit markiert wie 1968 das Ende der
Nachkriegszeit (15) – „weil der Erfolg der AfD, erst einmal gänzlich
wertfrei gesagt, die bisher größte Emanzipationsleistung der
Ostdeutschen darstellt“ (16). Frage: ist Emanzipation hier das richtige Wort? Wenn ja, in welchem Sinne? fragt FTK.
Als
im sächsischen Dorf Clausnitz im Februar 2016 ein Bus mit Flüchtlingen
ankam und mit dem Slogan „Wir sind das Volk“ von Einheimischen
niedergebrüllt wurde, ist das berühmte Motto der friedlichen Revolution
begraben worden. Auch ein Beweis dafür, dass mit dem Aufstieg von
Pegida und AfD die Nachwendezeit zu Ende gekommen ist (75). Die Montagsdemos gegen Hartz IV 2004 hatten nicht im Ansatz so
viel Zulauf wie PEGIDA und AFD. Die Anti-Hartz-Proteste 2004 waren die
erste überregional sichtbare Protestbewegung in Ostdtl. nach der
Vereinigung (24). Zehn Jahre später startet im Osten Dtls. eine
Protestbewegung mit stetig anschwellender Mobilisierung – auf der
Straße, in den Wahllokalen, in den sozialen Medien. „Da nahm etwas für
die kulturellen und politischen Üblichkeiten hierzulande Neues seinen
Anfang“ (24). Hensel : Das Sprechen und Nachdenken über den Osten ist
seit Pegida und AfD im Rest des Landes konzentrierter und
nachdenklicher geworden (241).
Worin gründet der überdurchschnittliche Erfolg der AfD in den neuen Ländern?
a)
Der überdurchschnittliche Erfolg der AfD in den neuen Ländern findet
seine so gut wie vollständige Erklärung in den Erfahrungen, die sie
nach 1990 sammelten und eben nicht im Rekurs auf ihren vermeintlich
obrigkeitsstaatlichen, führerorientierten DDR-Habitus (51). (Birthler
und andere sehen das freilich anders- FTK). Indem man die
Herkunftsgesellschaft der Ostdeutschen für jegliches kritikwürdige
Verhalten verantwortlich macht, legitimiert man die strukturellen
Gebrechen und Ungerechtigkeiten der Ankunftsgesellschaft (51). Je mehr Zeit vergeht, je jünger die Kohorten sind, über die man
spricht, desto ausschlaggebender für die Verhaltensdeutung sind die
Jahrzehnte, die seit der Zeitenwende verstrichen sind (52).
b) Engler: im Osten vollzog sich ein politischer
Systemwechsel mit Sieg auf der ganzen Linie; zugleich trat der Wandel
von der klassischen Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft ein, der
zu DDR-Zeiten sehr im Verzug war. Und dann gerieten die Ostdeutschen,
die Osteuropäer, in den Sog eines Systemwechsels auf dem Boden des
Kapitalismus selbst: vom organisierten, inklusiven Kapitalismus zur
maktkonformen Demokratie. Gleichzeitig lief man von einem ideologischen
Block in den anderen über (70f). Die Ostdeutschen bekamen etwas, was
sie nicht bestellt hatten. Das hatten sie nicht im Blick (87).
c) In allen vom Neoliberalismus erfassten Gesellschaften haust massenhafte
Wut,
aber die Verursacher gehen in Deckung (91). Das Elend unserer Lage
besteht darin, dass viele der zu Recht Empörten Fürsprecher wählen, die
ihnen zwar zu ihrem Ausdruck, aber nicht zu ihrem Recht verhelfen (91).
Der Neoliberalismus hat den Rechtspopulismus nicht nur ideologisch
vorbereitet, sondern auch für die nötige Entsolidarisierung gesorgt.
d) Hensel: Pegida als Bewegung versieht die AfD
mit „Street Credibility“, über die andere Parteien nicht verfügen; aber
die Abkehr von der Linkspartei vollzog sich wohl auch daher, weil sie
als einzige Partei mit einem „ostdeutschem Idiom“ auf Bundesebene es
nicht vermochte, die Isolation zu durchbrechen (96).
e) Hensel: Es scheint, als ob die AFD die erste
wirklich ost-west-dt. Partei sei, die die Ostdeutschen auch bundesweit
mit Macht versieht (96) Engler . Die gesamtdeutschen. Wirkung spielt eine zentrale Rolle bei der Option für die AFD im Osten (96).
f) Hensel
: Im Gegensatz zu vielen anderen halte ich den Ost-West-Konflikt für
den eigentlich zentralen Konflikt bei Pegida… Man sieht in dem Film von
S.M. sehr gut, wie groß der Hass auf den Westen eigentlich ist(96). Engler
sieht das auch so. Natürlich ist Pegida eine unreflektierte Bewegung.
Die innerdeutschen Ressentiments sind eines der größten Tabus unserer
Gesellschaft (97).
g) Hensel : Fremdenfeindlichkeit und Rassismus
erscheinen im Osten, anders als in Westdeutschland, immer auch als
Träger oder Ausdruck einer umfassenderen Systemkritik (109). Engler : in der DDR war Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit vielfach Provokation, ein Maximum an Provokation,
Systemkritik der ungewöhnlichsten Art. Dahinter habe Null-Überzeugung
gestanden (119). ( Ich bin mir nicht sicher. Provokation schwang sicher
mit .FTK). Der Hooliganismus war nur die Spitze, der gewaltbereite
Vorposten der allgemeinen Staatsverdrossenheit (119).
h) Hensel : Der Pegida-Protest formuliert neben
vielem Befremdlichem, in trivialer Form, was auch wir in unseren Texten
an Gesellschaftskritik üben. Hensel würde zwar nie den Vorwurf
der Lügenpresse unterstützen können, doch habe er einen rationalen Kern
– spiegelt sich doch auch in meiner Kritik, dass die ostdeutsche
Gesellschaft medial zu wenig, oft zu einseitig und ohne Sachkenntnis
abgebildet werde (111). Engler : Der Rassismus alter Prägung in der Bundesrepublik und der von heute im Osten wie im Westen unterscheiden sich markant (117).
i) Wir haben es bei Pegida und AfD auch mit einer
„Emanzipationsbewegung“
zu tun (115). Ich – FTK – verstehe die Rede von der
Emanzipationsbewegung so: weil sich Personen mit ihrem Votum für die
AfD von Elementen der Politik und Praxis der Regierenden deutlich
absetzen, sie in Frage stellen. Weil sie b) Politik, Wissenschaft und
Medien der Berliner Republik zwingen, mehr, stärker, öfter und anders
auf den Osten zu blicken, um der AfD das Wasser abgraben zu können.
„Emanzipation“ ist ein abbildender und wertender Begriff: bei Hensel und Engler wird er hier primär im Sinne von Loslösung gebraucht, der allerdings ein Postives abgewonnen wird.
j) Hensel
: man müsse Pegida dafür (siehe i) danken; auch dafür, dass sich nun
die ostdeutschen SPD-Politiker stärker absprechen ( S.114). (Auch die
Linke hat nun so etwas wie eine Landesgruppe Ost als Konsequenz der BTW
2017 –FTK). Man müsse sich fragen, warum der Osten eine rechte Revolte
brauchte, damit solche Effekte eintreten konnten (114). Die
Pegida-Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik war immer mehr als nur das;
sie war als ganzheitliche Kritik an unserem demokratischen System
gemeint und zu verstehen (114). Woher kommt das?
k) Engler : einige Motive dieser ganzheitlichen
Kritik waren bereits Thema. Hinzu komme die verbreitete
Staatsverdrossenheit im Osten, die weit über das hinausgehe, was man im
Westen Politikverdrossenheit nennt (115). Ferner, so Engler ,
kam in der Wahrnehmung vieler (im Osten) zu kurz, dass Demokratie,
Mitbestimmung über den eigenen Weg, das Gehört-, Gefragtwerden, das
Mittun erheische. Als man dann im Herbst 2015 in einer Streitfrage von
Rang abermals weder gehört noch gefragt wurde, trug man dieses
Unbehagen auf die Straße (115)
l) PEGIDA und AfD treffen mit ihre Kritik an Sprachregelungen einen Nerv im Osten.
Über offene Grenzen, kosmopolitische und lokale Klasse(n)
Engler
: bezieht sich positiv auf Artikel in der taz von Stefan Reinicke
„Offene Türen, enge Herzen“. Darin legt Reinicke dar, wer für offene
Grenzen ist: Neoliberale und Linksradikale, die beide den Staat gering
schätzen. Das globale Recht auf Migration würde, jedenfalls absolut
gesetzt, die aufnehmenden Staaten ruinieren. Eine Welt ohne Staaten und
Grenzen wäre (solange keine Weltregierung existiert) nicht friedlicher,
freier, sondern chaotischer und rechtloser (258). Engler
stimmt dem bei und fügt hinzu: Nur im Rahmen von Nationalstaaten zeigen
sich Minderheiten gewillt, die Entscheidungen von Mehrheiten ohne
militanten Widerstand zu tolerieren (258). Wo wären wir, fragt Engler weiter, wenn Ungarn und
Österreich nicht Ende 2015, Anfang 2016 dafür gesorgt hätten, dass der
Zustrom abebbt? (259). Dann kam der Türkei-Deal. Hensel : sieht das anders (261). Verweist auf
SV-Beschäftigte unter Zuwanderern. Ferner würde die AfD auch
profitieren, wenn D keinen einzigen 2015 aufgenommen hätte. Hensel sieht in Engler
s Argumentation Diskursverzerrung nach dem Motto das Boot ist voll
(264). Und wenn Nahles sagt, wir können nicht alle aufnehmen, dann ist
das Unsinn. Diese Frage stellt sich gar nicht. Europa ist eine Festung
(264). Engler : Die Regierenden werden ihr Ziel, Europa nach außen dicht zu machen, nicht erreichen (264).
Verweis
auf jüngsten Parteitag der Linken. Hier auf die Debatte: Offene Grenzen
für alle Flüchtlinge oder offene Grenzen für Flüchtlinge (265). Engler zitiert zustimmend Michael Walzer: Gemeinschaften müssen Grenzen haben (268).
Wo liegen die Gemeinsamkeiten/Unterschiede von DDR-Erfahrung und ostdt. Erfahrung?
Hensel
: Wieviel Sinn macht es eigentlich, die Geschichte der DDR an den Daten
der Aufstände zu erzählen (1953/1956/1961/1968/ 1976? Wie viel vom
normalen Leben bildet man damit ab? Engler : Die Geschichte dieser kritischen Momente zu erzählen, heißt Stationen einer Misere zu erzählen.(150).
H.: DDR-Erfahrung und ostdt. Erfahrung sind zwei verschiedenen Schuhe.
E.
: Was sie verbindet, was sie trennt, ein weites Feld. Um Klarheit zu
gewinnen, müsste man Lebensbereich für Lebensbereich durchgehen. Nach E. Eindruck hat die ostdeutsche Erfahrung manche
DDR-Erfahrung in ein milderes Licht gerückt (54). Das letzte Wort ist
darüber noch nicht gesprochen. Das Einzige, was sich immerfort ändert,
ist der Blick auf die Vergangenheit (54) Die Leute lassen sich einfach nicht vorschreiben, was sie über die Vergangenheit zu denken haben.
E. über Eigentum in der DDR und heute (S. 77ff). Engler über Rechtsverständnis und Rechtsemfinden in der DDR und Nachwendezeit ( 233 ff).
Hensel : die ostdt. Erfahrung birgt ein enormes literarisches und erzählerisches Potential (190).
Die erste deutsche friedliche Revolution (69) eine „Stunde öffentlichen Glücks“ ?!
Ich (FTK) frage – für wen die friedliche Revolution eine solche Stunde und für wen nicht.
Engler
: Eine Scheißerfahrung, ein Gemeineigentum zu etablieren, das diesen
Namen nicht verdient und das Privateigentum als ultimative Rettung vor
dem Ruin auf den Plan zu rufen (80). Mit Blick auf den demographischen Aderlass formuliert Hensel
: „Ich denke dann, wenn die Jungen damals alle geblieben wären…,besser
gesagt hätten bleiben können…, dann wäre die ostdeutsche Gesellschaft
in ihrer Zusammensetzung eine ausgewogenere und könnte Konflikte mit
sich selbst aushandeln …. (74/75). Engler : wie schaut man auf seine Vergangenheit, wenn
man durch einen historischen Bruch, den man selbst mit bewirkt hat, von
ihr getrennt ist? (176).
Dresden – Hauptort der Debattenkultur (Fischer) oder Zentrum von Dunkeldeutschland?
Für
den Hauptort der Debattenkultur führen manche die Debatte über die
Waldschlösschenbrücke an, bis zum Diskurs von Tellkamp und Grünbein. Engler : Lob für die Dresdner. Sie gaben der Waldschlösschenbrücke den Vorzug vor der restlosen Musealisierung der Stadt (128).
Hensel . Es gibt auch ein Glück an und in diesen sanierten Innenstädten (129).
Eine
Stadtgesellschaft könne nur dann rebellieren, wenn sie
Selbstbewusstsein empfindet. Pegida hat sich im Herzen der Stadt
versammelt, direkt vor der Semperoper (129)
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