Report | Kulturation 1/2004 | Torsten Harmsen | Die Königskinder von Bärenburg. Ein deutsch-deutsches Märchen Reihe: Autoren im Netz
Interview: Petra Schwarz | Petra Schwarz Wir
sind einfache Rezensionen leid, wir wollen mit den Autoren über ihre
Bücher diskutieren, streiten, und so wirklich erfahren, was an den
Büchern dran ist. Das haben wir uns vorgenommen. Zu Gast: Torsten
Harmsen, Journalistenkollege bei der Berliner Zeitung. Im Auftrag der
Redaktion unseres Online-Journals befrage ich Thorsten Harmsen zu
seinem jüngsten Buch "Die Königskinder von Bärenburg. Ein
deutsch-deutsches Märchen".
Das Märchen erzählt die Geschichte zweier Könige. Könige sind ja
klassisch für Märchen. Die Könige heißen Dederow und Bundislaus, und
auch klassisch: zwei Königskinder natürlich, die gehören dazu, das sage
ich Euch jetzt, weil Ihr kennt ja das Buch nicht, Daniel und Beatrice,
die ein wunderschönes Paar sein könnten, wenn, ja wenn sie nicht die
Kinder zweier verfeindeter Reiche wären. Zweier großer Reiche im Sinne
zweier Welten, natürlich auch der Titel suggeriert das ja schon ganz
klar. Warum, Thorsten, hast Du die Form des Märchens benutzt?
Torsten Harmsen Ja, das frage ich mich auch. Es sollte
eigentlich nicht als Märchen entstehen, sondern ein Sachbuch werden,
eher etwas Journalistisches. Ich habe es auch so begonnen. Meine
Tochter ist ja am 9. November 1989 geboren, und interessierte sich, je
älter sie wurde, auch immer mehr für diese Geschichte. Sie wurde jedes
Jahr eingeladen zum Feiern mit den anderen Kindern, die in Berlin am 9.
November 1989 geboren sind. Bis zum Alter von 5/6 Jahren war da noch
nicht viel, aber irgendwann kamen die Fragen: Papa, was ist da
eigentlich passiert, warum ist da die Mauer umgefallen an meinem
Geburtstag, was ist das überhaupt für eine Mauer gewesen? Dann habe ich
ihr mal einen Film gezeigt zum 9. November, am Abend ihres
Geburtstages, da sah sie die Leute, die durch die Mauer rannten über
eine fremde Straße, den Kudamm, wie sie heulten und andauernd Wahnsinn
schrieen. Das hat sie emotional mitgenommen. Sie hat sich gesagt, da
muss ja irgendwas passiert sein, wenn Erwachsene so umherrennen und
weinen.
Ich hatte schon mal ein Buch beim Eichborn-Verlag gemacht: "Papa
allein zu Haus". Da ging es um meinen Erziehungsurlaub und die
Entwicklung meiner Kinder. Der Lektor, der mich damals betreute, lebt
in einer Ost-West-Ehe. Er kommt aus dem Westen, seine Frau ist eine
Ostberlinerin. Und der überlegte schon lange, wie man einmal seinem
eigenen Kind erzählen soll, wie Mama und Papa eigentlich
zusammengekommen sind, dass es da ja eine Mauer gab, die
undurchdringlich, unüberwindbar war, und plötzlich kamen sie dann doch
zusammen. Wie soll ich das meinem Kind erzählen? Und da kamen wir
drüber ins Gespräch, und da habe gesagt, na ist doch super, da kann ich
doch was machen, so ein Zwiegespräch. Ich bin im Jahr 1961 geboren, im
Jahr des Mauerbaus, meine Tochter am Tag des Mauerfalls, und da machen
wir einfach so ein Papa-Tochter-Gespräch. Und da habe ich mich
hingesetzt, Material gesammelt, wie ein Journalist halt, aus dem
Internet und sonst wo, und fing an zu erzählen.
Also, es war einmal die Mauer. Es war noch nicht "Es war einmal"
als Märchen, sondern es kam immer diese Frage und man hat gemerkt, dass
ich einfach ..., ich habe den Faden aufgenommen, und habe gezogen und
gezogen und gezogen, kam einfach nicht zu Ende. Bis zum Mauerbau waren
schon ewig viele Seiten vergangen, weil ich ja, wenn ich es richtig
machen will, bestimmte Dinge einfach erklären muss. Ich muss z.B.
erklären, was ist "Kalter Krieg". Ich muss erklären, was ist
Kommunismus. Nun erkläre mal einem Kind in 20 Zeilen, was ist
Kommunismus! Ja, ein westdeutscher Autor würde sich das vielleicht ganz
leicht erklären. Der würde sagen, da sind ein paar böse Menschen, die
wollten andere Menschen versklaven und haben allen alles weggenommen
und alles zusammengeschmissen. So, weg, tot, aus, wie eine böse
Gesellschaft. Aber ich wollte dieses Gut und Böse gar nicht haben,
sondern eine sehr ausgewogene Darstellung. Deshalb bin ich dann bis zu
meiner Tante z.B. gekommen, die im KZ gesessen hat 8 Jahre und dass sie
mit ihren Idealen in die DDR gegangen ist, und dass der Mauerbau auch
von ihr sanktioniert wurde als Barriere gegen Revanchismus und gegen
die Faschisten, also gegen das Wiedererstarken des Faschismus usw.
Das habe ich da alles reingeschrieben. Das ist dann einfach
irgendwie ausgeufert, und ich kam nicht weiter. Ich habe das Zeug in
die Ecke geworfen und ein halbes Jahr gewartet, wollte damit gar nichts
mehr zu tun haben, und dann hatte ich zufällig ein Gespräch mit einer
Kollegin aus dem Haus, die gerade ein Buch las mit ihrer Tochter, auch
so was historisches. Und die sagte: Mensch, nimm das doch vom
Kommunismus und so alles weg, Kalter Krieg und so. Erklär es auf der
Ebene von zwei Königen. Und sie hatte sich vorgestellt, ich schreibe
ein Sachbuch mit zwei Königen und zwei Reichen, kann man ja machen. Das
habe dann versucht, und unter der Hand ist mir das zur Geschichte
geworden. Was also dieses Sachbuch werden sollte, wurde dann ein
richtiges Märchen, also ein modernes Märchen. Mir war es einfach zu
wenig, nur die sachliche Ebene zwischen den Königen zu erzählen,
sondern wollte das wirklich für die Kinder irgendwie beleben, aber auch
für Erwachsene. Und durch die Liebesgeschichte - aus einer ganz
persönlichen Gefühlslage heraus geschrieben - kam auch eine romantische
Note mit rein.
Petra Schwarz Dann erklärt sich ja vielleicht, dass die
Beziehung der beiden Königskinder, die nicht oder nur schwer zueinander
kommen können, später einen sehr, sehr breiten Raum einnimmt und sehr,
sehr ausgeklügelt ist, mit ganz tollen Ideen, wie die zueinander kommen
können, weil es dem jungen Mann ja verboten ist, jegliche Informationen
vom anderen Königsreich aufzunehmen. Er dringt dann aber doch in die
Informationszentrale seines eigenen Vaters und des Mannes, der das
Ganze betreibt, nämlich Intimus Stasius, ein. Und da sieht er einen
Film, eben diese junge Frau, ein Mädchen sogar noch, die die Tochter
des Königs auf der anderen Seite ist. Von Bundislaus nämlich, dem
Menschen, der mit der Butter groß geworden ist. Und das schmückt
Harmsen alles aus und wird da sehr einfallsreich, was er alles macht,
das glaubt ihr gar nicht. Jetzt verstehe ich das, weil: er war selbst
betroffen, der Autor. Oder?
Torsten Harmsen
Ja ja, so ungefähr war es. Aber so entstehen die Dinge doch. Man muss
ja dankbar sein für solche Sachen, wenn die sich in solchen Dingen
ausdrücken können.
Petra Schwarz
Weil Du sagst, mit dem Märchen habe sich das erst langsam so
entwickelt. Im Nachhinein, wenn ich das lese, denke ich, bist Du blöd,
warum hast Du nie ein Märchen darüber geschrieben. Weil: das ist so
logisch mit diesen beiden Königreichen. Und dadurch wird es ja auch so
sinnlich und so greifbar.
Torsten Harmsen
Ja, aber es ist auch eine Gefahr, dass man das macht, was man am Anfang
mit dem Sachbuch nicht wollte, nämlich schablonisiert. Indem man diese
ganze widersprüchliche Charakteristik eines Systems in eine oder in
wenige Figuren legt, wird es schon wieder Karikatur. Ich hatte auch
Angst, dass man mir das irgendwie entgegenhält. Bei Bundislaus zum
Beispiel hatte ich ein bisschen Kohl vor Augen. Manchmal beim Lesen
mache ich den Kohl auch bisschen nach, man sollte es halt nicht
übertreiben. Er vertritt die hundertjährige Tradition bürgerlichen
Lebens und Strebens. Aber es sind dann eben in dieser einen Figur die
verschiedenen Facetten des anderen Systems nicht drin, die Person Willy
Brandts etwa. Und in Dederow ist vielleicht ein bisschen Ulbricht drin.
Aber die Widersprüchlichkeit des Systems DDR - trotz aller Diktatur -
kann man eben in so einem Märchen auch nicht darstellen.
Petra Schwarz
Das stimmt, ja.
Torsten Harmsen Aber, na ja, da gibt's ja noch einige andere
Figuren. Ich finde dieses System im Osten sogar noch viel
widersprüchlicher dargestellt als das andere.
Petra Schwarz
Vielleicht, weil Du es besser kennst und besser weißt, oder?
Torsten Harmsen Ja, sicher. Weil mich emotional diese
Entwicklung des Westens nicht mitgenommen hat. Die Beatrice im Westen
zieht aus ihrem Elternhaus aus, hat offensichtlich Kontakt aufgenommen
mit Ökofreaks, will endlich mal ans Meer fahren und da mal ohne
lauernde Fotografen rumliegen, mal auf dem Bauernhof arbeiten. Also so
eine Sehnsucht nach etwas ganz normalem, weil sie eben in dieser
relativ abgeschlossenen Welt aufwächst als Königstochter. Was man ja
heute auch sehen kann, das stimmt natürlich, das sieht man im
englischen Königshaus ja auch, dass die Leute da nicht so besonders
viel Freiheiten haben und gebunden sind. Wenn mal jemand ausbricht,
dann muss er auch dafür bezahlen, zumindest mit öffentlichen Dingen.
Aber diese ganze widersprüchliche Entwicklung, wie doch auch im Westen
die Dinge hervorbrachen und die Vergangenheit aufgearbeitet wurde, das
kann man in einem Märchen nicht erklären.
So ist es für mich ein Kompromiss, denn ich wollte einfach
Folgendes leisten: Ich wollte ein Märchen, das erstens lesbar ist für
Erwachsene und Kinder, das zweitens ein Koordinatensystem gibt, eine
Grundvorstellung, wie diese deutsch-deutsche Teilung begann, wie sie
war und wie es zu ihrem Ende kam. Auf Grundlage dieser Vorstellung
sollen Kinder auch Fragen stellen können. Also ich erlebte bei meiner
eigenen Tochter, dass zum Beispiel im Fernsehen Stalin zu sehen war,
und ich dann sagte: Guck mal, das ist der rote Marschall. Das ist er
zwar nicht eins zu eins, aber den hatte ich als Vorbild. Aha! Da wusste
sie zumindest, wo sie ihn in der Geschichte einordnen soll. Und mal
ganz ehrlich, wenn Kinder in der Schule Geschichte haben, und dann
diese ganzen Bilder sehen und diese ganzen Sachen hören, es setzt sich
im Kopf ohnehin als allgemein bildhafte Vorstellung fest.
Petra Schwarz
Im günstigsten Falle, sage ich mal ...
Torsten Harmsen
Ja ja, genau. Meine Tochter hat auch, nachdem sie es gelesen hat,
gesagt, jetzt weiß ich erst, dass eine Seite die Mauer gebaut hat,
nicht beide. Sie hatte vorher gedacht, beide hätten diese Mauer gebaut,
weil sie miteinander nicht leben konnten.
Petra Schwarz Weil Du unterscheidest: Erwachsene und
Kinder. Abgesehen von Deiner Tochter, die ja der schöne Anlass dafür
ist, dass dieses Buch hier auf dem Tisch liegt, hast Du Erfahrungen, ob
Kinder dieses Buch wirklich verstehen?
Torsten Harmsen
Ja. Aber natürlich nicht Acht- oder Neunjährige. Obwohl, die Berliner
Abendschau hat kurz vor meiner Lesung am 9. November meine kleine
Tochter gefragt, und die ist 8 Jahre alt, worum geht es denn in dem
Buch? Und sie hat mit wenigen Worten, wenigen Sätzen das hingekriegt,
das erklärt.
Petra Schwarz
Was hat sie gesagt?
Torsten Harmsen
Da sind zwei Könige, und die können nicht miteinander, also baut der
eine eine Mauer. Die beiden Königskinder, die lernen sich irgendwie
kennen, und dann versucht der Prinz zu der Prinzessin zu kommen, aber
die Mauer hindert daran. Also in dieser Ebene, ungefähr so, hat sie das
gesagt. Also die Grundkoordinaten hat sie schon verstanden. Es ging mir
auch darum – und das ist vielleicht der Vorteil dieses Märchens vor all
den Generationenbüchern, die immer in ihrer eigenen Generation wühlen,
selbst "Helden wie wir" ist ein Generationenbuch oder "Zonenkinder",
ist immer für die eigene Generation – also es ging mir darum, mich
davon abzuheben und zu sagen, worum ging es denn da eigentlich. DDR und
Bundesrepublik ist ja ein historischer Zufall. Aber die Prinzipien, die
dahinter sind, die gibt's ja immer wieder. Es gibt Systeme, die nicht
miteinander können, überall auf der Welt. Es gibt Streit und
Unvereinbares überall. Es gibt auch Mauern anderswo. Und es gibt auch
solche und solche Könige, und solche und solche Charaktere. Das ist
einfach das, was dahinter steht. Das ist einfach ein deutsch-deutsches
Märchen. Das ist jetzt doch ein Zufall, aber das Prinzip, dass da ein
Krieg war, dass da Leute sind, die völlig unterschiedliche Dingen
wollen in demselben Land und eben dann nicht miteinander können und die
sich abgrenzen und was für Probleme das mit sich bringt und wie am Ende
dann doch eine Liebe siegt, das ist eigentlich so ein Ding.
Petra Schwarz
Wobei, die siegt ja nur, weil die Mauer fällt.
Torsten Harmsen
Ja, stimmt.
Petra Schwarz Denn sonst war das ja sehr offen zwischen
den beiden, zu guter Letzt. Man hatte unter großen Mühen versucht sich
zu treffen. Beatrice wird dann natürlich Friedrichstraße im
Tränenpalast festgehalten.
Torsten Harmsen
Im Tränenpalast nicht, das ist assoziiert.
Petra Schwarz
Aber sie wird irgendwo an der Grenze festgehalten als unerwünschte
Person, kann nicht rüber, kommt also nicht zum vereinbarten Treffpunkt
usw. Nichtsdestotrotz treffen sie sich. Für mich war es ein
interessanter Aspekt als die beiden darüber sprachen, wo sie denn leben
wollen, auf welcher Seite, wenn diese Mauer da ist. Daniel sagt, ich
kann mir nicht vorstellen, bei Dir zu leben. Für mich absolut
verständlich, da habe ich mich wiedergefunden, ich konnte mir auch
nicht vorstellen, auf der anderen Seite, sprich im Westen zu leben. Nur
weil die Mauer fiel konnten die beiden zusammenkommen.
Torsten Harmsen
Das ist interessant, das stimmt. Aber das kann vielleicht auch zeigen,
dass da so eine verkorkste Situation existiert und etwas so
Unnatürliches trotzdem bewirkt es, dass jeder in seinem System
verhaftet ist.
Petra Schwarz
Absolut.
Torsten Harmsen Daniel ist ja so, ich wäre ja unehrlich
gewesen, ich sehe mich ja da selber eher in ihm, der dann erst, als
etwas in Bewegung kommt in seinem Land, er hat auch sein Elternhaus
verlassen und zieht dann in eine normale Wohnung, die baut er sich mit
Freunden, der Freund ist in einer Gruppe, der Gruppe der Gerechten, und
die wollen so ein bisschen Bürgerbewegung betreiben, und er bringt sich
dann da mit ein, obwohl die ihn nicht lassen wollen als Königssohn,
weil er ja beschattet wird usw. Aber er denkt gar nicht daran, jetzt
rüberzufahren, so sehr er diese Beatrice auch liebt. Man hat mir
übrigens vorgeworfen, dass ich so an der Realität bleibe und nicht mit
den Möglichkeiten des Märchens spiele, kein großes Wunder geschehen
lasse.
Petra Schwarz So einen Vorschlag zu machen, verstehe ich
überhaupt nicht, weil Du bist ja letztlich dann doch viel zu sehr an
deutscher Geschichte, an realer Geschichte dran. Das sieht man im Bild,
und wenn man das Buch gelesen hat, sowieso. Es kommen ja immer wieder
Aspekte, wenn man ein bisschen deutsch-deutsche Geschichte kennt, eben
dieser sehr realen Geschichte raus. Wieso sollten da irgendwelche
überirdischen Kräfte die Mauer, also das könnte ich mir gar nicht
vorstellen. Es waren ja keine überirdischen Mächte am Werke, aber
Mächte, die deutlich höher rangierten als die beiden Könige.
Torsten Harmsen
Ja gut, die spielen ja auch eine Rolle, die Großmächtigen.
Petra Schwarz
Ach so, die Großmächtigen, klar. Aber Feen oder so was, wenn man sich
das in diese Richtung märchenhaft wünscht, stelle ich mir komisch vor.
Ich habe mal ein bisschen so in Texten gelesen, die über dieses Märchen
veröffentlicht worden sind, z.B. Eichborn selber schreibt: "Gerade
durch die von ihm gewählte Form des Märchens vermittelt er einen
plastischen Einblick in das eigentlich Unerklärliche der deutschen
Teilung." Das habe ich nicht verstanden, inwiefern unerklärlich? Ich
hatte versucht, das ein wenig hin und her zu wenden, vielleicht hatte
ich zu wenig Zeit, aber wir haben ja den Autor da, der kann uns das ja
erklären.
Torsten Harmsen Ich soll jetzt erklären, was mein Verlag über das Buch schreibt?
Petra Schwarz
Ja schon, was meint der Verlag, wenn er schreibt: "... durch die von
ihm gewählte Form des Märchens gibt er einen plastischen Einblick in
das eigentlich Unerklärliche der deutschen Teilung."
Torsten Harmsen
Damit meinen die wahrscheinlich, dass man sich heute nicht mehr
erklären kann, dass es diese Mauer gegeben hat. Also mehr so eine
optische Geschichte, auch so vom Gefühl her. Also wenn ich durch Berlin
fahre und meiner Tochter sage, hier war die Mauer, hier kamst Du nicht
weiter, unvorstellbar!
Petra Schwarz
Zu erklären ist das ja ausgesprochen gut. Wobei Du vorhin auch von Zufall gesprochen hast, vom historischen Zufall.
Torsten Harmsen
Ja, das es so war. Historie ist immer Zufall. Man hat natürlich
grundlegende Gesetzmäßigkeiten, die da auch eine Rolle spielen, aber
die ganz konkrete Ausprägung, das und das und dass der da gerade
geboren wird, der da mal Kanzler wird, und das und das noch persönlich
mit einbringt, das ist sicher ein Zufall.
Petra Schwarz Das Buch hat mich wirklich interessiert,
weil Du es schaffst, den Leser einzufangen, auch mit der für mich
wunderbaren Sprache, die einerseits sehr klar ist, in sehr einfachen
Worte, und dann aber eben in dieser Märchenform auch immer wieder, also
das finde ich eine sehr, sehr reizvolle Form. Da hätte ich nicht
gedacht, als ich hörte, ich solle hier dieses Gespräch mit dir machen.
Also das hat mich schon eingefangen. Ich weiß eben bloß nicht, und du
merkst, es bewegt mich, ob Kinder dann wirklich über diese märchenhafte
Dimension hinauskommen, wenn sie es denn lesen, wie Du es beschrieben
hast: Da sind zwei Könige, und die bekämpfen sich usw., oder muss
vielmehr gar nicht sein?
Torsten Harmsen
Wir stehen ja vor der Alternative: gar nicht oder etwas. Ich glaube
nicht, dass wir irgendwie einer Generation, die jetzt heranwächst, die
die Mauer nicht kennt, mal ein richtiges tiefes Verständnis über diese
Zeit vermitteln können. Ich interessiere mich für die Zeit meiner
Eltern, die Kriegskinder waren. Ich habe die dann auch irgendwann
richtig befragt, wie war das denn damals mit der Flucht, und erst aus
diesem Interesse heraus hatte ich mir ein Bild davon gemacht. Aber ich
glaube, es wird kaum etwas geben, außer einzelne Filme, wie "Good bye,
Lenin" oder so, das sind aber auch so Ausschnitte, finde ich, die man
auch nur begreift, wenn man diese Zeit, den 9. November, den
Oktober/November 1989 erlebt hat, dieses Umbruchsgefühl, dieses
Niemandsland usw. Ich glaube, das können sie nicht nachfühlen und
deshalb denke ich, dass jeder Blick in diese Richtung, jedes irgendwie
Interessieren für solche Stoffe schon mal ein wichtiger Schritt ist.
Ich habe gar nicht damit bezweckt, eine absolute Erklärung zu geben.
Das kann man nicht.
Petra Schwarz
Das ist logisch. Weil Du sagst, sich überhaupt dafür interessieren - in
den letzten Monaten, im Moment ein bisschen abgeflaut, zeigten solch
Interesse etliche Fernsehsendungen und Sender, vor allem Shows ohne
Ende - Ostalgie, Nostalgie. Der RBB hat eine lange Nacht im Palast der
Republik gemacht, es gab davon schon eine ganze Menge seit dem letzten
Herbst. Ist das dazu angetan, Verständnis zu wecken?
Torsten Harmsen
Einige Dinge schon. Ich habe mir mal eine Pionierlieder-CD gekauft, vor
Jahren schon, und habe die gespielt, und meine Kinder waren begeistert.
Meine kleine Tochter hat dann die Pionierlieder gesungen. Die beiden
waren einfach mitgerissen von einer ganz gewissen Art von Fröhlichkeit
und Lockerheit, und dann habe ich erzählt, das haben wir als Kinder
gesungen. Was? Es soll doch so dreckig gewesen sein bei euch. Ja, so
einfach ist es eben nicht! Ich war genau so wie ihr, steckte in einem
Leben drin, hatte Freunde und so und habe mich verliebt.
Aber das Problem dieser Shows ist ja, dass sie nur auf so Marken
setzen. Das habe ich vor zehn Jahren hinter mich gebracht. Dazu gehörte
Brussigs, ich bin mit Brussig in die Schweiz gefahren, und wir haben da
gelesen in der deutschen Botschaft. Da habe ich ihm gesagt, Dein Buch
war für mich ein Türöffner, weil es das aller erste war: "Helden wie
wir". Endlich hatte jemand so ein Wiedererkennungsbuch geschrieben, das
man lesen konnte. Wie war es im Ferienlager, und wie war es dort, und
in der Schule und so, aber eben mal literarisch verarbeitet. Aber was
ich Dir vorwerfe, ist dass Dein Held sich aus allem raushält. Zwar
irgendwie alles beobachtet, aber sich selbst nicht in Verantwortung
bringt. Und diese ganze Marken-Geschichte, also die heutigen Shows, da
macht das Fernsehen nichts weiter als Marken aufzugreifen, eine sehr
oberflächliche Welt zu bauen. Was Buntes, vielleicht nur was
Beschönigendes, das kann man ihnen vielleicht auch vorwerfen, aber
dieses ganze Diffizile, was da eigentlich wirklich passiert ist, lassen
sie draußen.
Petra Schwarz
Du sagst, durch die Märchenform konntest auch Du von einer
differenzierten Sicht auf die Dinge nicht so wahnsinnig viel
reinbringen.
Torsten Harmsen
Ja, aber ich nehme ja nichts, was eine irgendeine Marke an diesem
System ist. Es ist keine Konsumebene, es ist überhaupt nichts Konkretes
aus DDR da, wo jemand sagen kann, ach! Ich versuche es ja auf eine
Struktur zu begrenzen, auf eine Person, versuche es dann auf das
Eigentliche zu begrenzen. Auf das, was eigentlich die Leute kennen. Wo
man als Kind überlegt, aha, dieser Dederow-König, der wollte eine neue,
eine gerechte Welt schaffen. Das war sein Ideal. Das kann man ja
begreifen. So, nun kommt er aber ins Trudeln, weil er das nicht
schafft, sowohl auf der anderen Seite weil der General Jenny dem
anderen König besser und mehr helfen kann, wird die andere Seite
einfach reicher, kriegt schlagkräftigeres Geld usw.
Petra Schwarz
Er kann mit der entsprechenden Knete einfach mehr machen …
Torsten Harmsen Ja, genau. Und Dederow kommt einfach
nicht zu Potte da. Und dann hat er noch diesen Intimus Stasius, der
dann auch noch intrigiert und sonst wie was macht und ihm noch was
einflüstert und die Leute noch unter Druck setzt. Und das kann man
vielleicht begreifen, so eine Konstellation. Mich fragen sie dann
immer, ist denn Königin Gertrud denn auch Lotte Ulbricht? Ich sage
dann, es ist schwierig. Ich sehe sie ein bisschen so, dieses graue
Mäuschen, andererseits sehe ich da was Mütterliches, so was
Zupackendes. Sie hatte das Prinzip der neuen Welt als das Prinzip
begriffen, zu helfen, anderen Leuten zu helfen, für ein besseres Leben
zu sorgen. Und das zieht sie einfach auf ihrer Ebene durch. Das kann
man vielleicht auch verstehen. Meine eigene Tante war halt so, und die
habe ich dabei auch gesehen. Trotz allem immer lebenslustig, bei allem,
was sie erlebt hat. Ich glaube, an solchen Dingen begreift man einiges
ohne das als Geschichtsstunde nehmen zu müssen.
Petra Schwarz Es gibt ja inzwischen so etwas wie eine
neue DDR-Literatur. Es sind nicht sehr viele, die da publizieren, aber
es sind vor allem die jüngeren Jahrgänge, also ab 1961 vielleicht. Was
die Älteren machen, das ist halbwegs klar, das ist meist
Memoirenliteratur oder Aufarbeitung von großen Themen. Erstaunlich:
Memoiren gibt's jetzt auch schon von den Jüngsten. Aber einerlei, ob
sie sich mit dem auseinandersetzen, was einmal war, egal ob sie die
Gesellschaft der DDR zum Gegenstand machen oder als den
Erfahrungshintergrund nutzen, aus dem heraus sie schreiben – den
spezifischen Blick auf die Wirklichkeit verdanken sie ihrer
Ost-Sozialisation. Die Zahl dieser Autoren ist nicht groß und sie sind
recht verschieden, dennoch bilden sie eine deutlich erkennbare
"Fraktion". Wenn man sich als Literaturproduzent selbst irgendwie
einordnet, würde man ja nicht nach seiner Position auf dem gigantischen
Büchermarkt suchen. Also etwa: ich bin jetzt auf Rang 175.000. Da
schaut man doch auf die zehn, zwanzig anderen, die da ähnlich umtriebig
sind. Da würde mich interessieren, wie Du Dich selbst einordnest in
diese neue DDR-Literatur, von der die Literaturwissenschaftlerinnen
schreiben. Hast Du eine Beziehung dazu?
Torsten Harmsen
Ich habe Brussig gelesen, ich habe auch einige der anderen Sachen
gelesen, und ich bin ganz bewusst ein bisschen weg von diesem
Generationenbuch. Ich ordne mich da schon in einer ganz eigenen Stelle
ein. Denn ich habe geschrieben, was in dieser Form eben noch keiner
gemacht hat. Schade, dass das Feuilleton auf so etwas selten anspringt.
Wenn ich mich längerfristig einordnen müsste, sollte und dürfte - weil
ich ja auch weiter schreiben will, so Kraft und Zeit bleiben - dann
würde ich mich mehr zu den Erzählern rechnen. Aber nicht auf der Ebene
von Familiengeschichten, mehr so von der ideologischen Seite, mehr so
von der geistigen Seite her. Das wird man vielleicht sehen, wenn ich
ein Buch schreibe, das ich schon länger vorhabe. Da will ich erklären,
wie man in solch eine Welt hineingeboren werden konnte, wie man sie
mittragen konnte.
Petra Schwarz Das finde ich hochinteressant. Wir haben,
so wir Ostdeutsche sind, immer das Problem, genau das erklären zu
müssen. Ich sage immer, ich habe 33 Jahre in der DDR gelebt, und alles,
was ich kann und bin, habe ich in der DDR gelernt. Alle
Entwicklungsmöglichkeiten hatte ich dort. Und dann gucken die anderen,
so sie Westdeutsche sind, mich immer an und glauben es einfach nicht.
Das muss man wirklich mal versuchen, zu erklären.
Torsten Harmsen
Also muss man die Leute auf die Ursprünge zurückführen. Brussig hat es
auch gemacht. Er wird geboren, und es fährt ein Panzer vorbei, rrrtttt,
ein russischer Panzer. Auf einmal guckt da ein Soldat rein. Aber von
Anfang an siehst Du bei Brussig den Draufblick.
Petra Schwarz
Ja, Du, der ist noch zu jung...
Torsten Harmsen Nein, aber es ist bei ihm gar nicht so,
dass die Leute das Gefühl haben, sie könnten es auch sein. Aber nicht,
dass Du sofort weißt, ach der schreibt es aus seinem jetzigen Blick.
Der schreibt einfach so, wie er es jetzt einschätzt.
Petra Schwarz Sollte er noch mal reinschlüpfen in die Zeit?
Torsten Harmsen Ja, aber man muss bestimmte Dinge
natürlich ausschließen, die jetzt im Nachhinein erkennbar sind. Man
kann, darf gar nicht erzählen an einem bestimmten Punkt, was man heute
weiß. Das muss sich langsam herstellen, das ist doch ein
Entwicklungsroman.
Petra Schwarz
Hast Du eigentlich auch an Romeo und Julia gedacht?
Torsten Harmsen Sicher, klar. Das wir immer wieder
zitiert. Dann wird mir gesagt, aber das ging doch so böse aus damals.
Die Form aber erinnert mich auch daran. Dass man sich erst mal so ein
bisschen annähert, auf diese höfliche Art, so richtig formvollendet.
Das geht in der Geschichte dann hin und her mit „Ihr“ und „Euch“. Das
„Du“ kommt erst später, wenn man sich schon näher kennt. Solche Muster
hat man wahrscheinlich im Hinterkopf. Ich glaube aber nicht, dass mir
das bewusst war. Ich lasse mich davon auch nicht leiten und würde
ansonsten auch nicht abgucken wollen.
Petra Schwarz interwievte Torsten Harmsen am 26. November 2003 in der Veranstaltung "Autoren im Netz", im Kulturhaus Mitte von Berlin. |
| |