Report | Kulturation 2011 | Dieter Kramer | Kultur in der internationalen Politik - Eine Herausforderung für die Europäische Ethnologie – fünf Thesen
| 1. Europäische
Ethnologie beschäftigt sich in Empirie und Theorie mit Kulturprozessen
in den Milieus geschichteter (segmentierter, hierarchisch gegliederter)
Gesellschaften von hoher Komplexität (Arbeitsteiligkeit) in
Vergangenheit und Gegenwart und beachtet dabei die vertikalen und
horizontalen Verflechtungen dieser Prozesse (eingeschlossen
transkulturelle Beziehungen). Darin besteht ihre spezifische
Arbeitsweise im Unterschied zu allgemeiner Kulturwissenschaft und zu
Ethnologie/Völkerkunde.
2. Sie ist eine Wissenschaft, die Brücken zwischen
Theorie und Empirie, Analyse und Alltag schlagen muss. Die für mich
wichtigste Brücke ist die zwischen Wissenschaft und Leben,
damit die zwischen der Politik als einer Form der gemeinschaftlichen
Lebensgestaltung, an der wir alle auch aktiv beteiligt sind (ob wir
wollen oder nicht) einerseits, und andererseits der
reflektierenden Wissenschaft, die zwar nicht weiß, wo es lang geht oder
gehen soll, aber reflektierend mit ihrem Handwerkszeug die Lebenspraxis
begleitet, über mögliche Konsequenzen nachdenken hilft und auf
relevante Dimensionen hinweist.
3. UN und UNESCO versuchen, jenen Mangel zu
überwinden, der dadurch entsteht, dass universelle, weltweit von allen
geteilte Werte nicht manifest wirken und es keine alle verbindenden
Rechtsgrundsätze und keine wahrgenommene gemeinsame Verantwortung gibt,
gleichwohl aber alle in gemeinsamer Verantwortung für Lebenswelt,
Frieden und Zukunft stehen. Von allen Mitgliedern der UN akzeptierte
Grundsätze und Prinzipien, die (im Idealfall) Bestandteil des
Völkerrechts werden können, sollen darüber hinweghelfen.
4. Die „Konvention zum Schutz des immateriellen
Kulturerbes“ formuliert ein Programm zur Einbettung der nicht
verschriftlichten Überlieferung in die gemeinsame Verantwortung und
bezieht sich vielfältig auf Themen der Europäischen Ethnologie. Für die
Europäische Ethnologie bedeutet diese Konvention nicht einfach eine
Aufforderung zum Sammeln und Dokumentieren von „intangible cultural
heritage“, sondern mehr: Sie muss nachdenken über die Rolle der
immateriellen Überlieferungen in der Gesellschaft in Vergangenheit und
Gegenwart und darüber, welche Elemente dieses Erbes heute nutzens- und
schützenswert sind und wie dieser Schutz aussehen kann. Dass damit die
ganze Diskussion über „angewandte Volkskunde“ und über die Souveränität
der Nutzer wieder aufgegriffen werden kann und muss, ist unvermeidlich.
Auf der Grundlage der normativen Vorstellungen der UNESCO erhält sie
neue Dimensionen. Dies gilt erst Recht, wenn man sich daran erinnert,
dass kulturelle Strukturen eine unverzichtbare Dimension der Gestaltung
des gemeinschaftlichen Lebens sind.
5. Das Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen
der UNESCO, die Kulturverträglichkeitsklausel des EU-Vertrages, das
„Diversity-Management“ in der Integrationspolitik und die Diskussion um
„lokales Wissen“ werten kulturelle Vielfalt als unverzichtbare
Ressource auf. Damit werden auch die „vormodernen“ Formen der
Organisation des materiellen und sozialen Lebens neu gewichtet, wie sie
von Ethnologie, Europäischer Ethnologie und Cultural Studies analysiert
werden. Die neue Beachtung, die durch die
Wirtschafts-Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom den „Allmende-Ressourcen“
geschenkt wird, zeugt davon. Das ermutigt Europäische Ethnologen, auch
die historischen Dimensionen ihrer Wissenschaft neu in Wert zu setzen.
Literaturhinweise
Unsere kreative Vielfalt. Bericht der "Weltkommission Kultur und
Entwicklung" (Kurzfassung). Deutsche UNESCO-Kommission, Colmantstr. 15,
53115 Bonn, 2. erw. Aufl. 1997 www.unesco.de; sekretariat@unesco.de .
Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller
Ausdrucksformen. Magna Charta der Internationalen Kulturpolitik. Bonn:
Deutsche UNESCO-Kommission 2006 .
Grolig, Wilfried: Die kulturelle Vielfalt in der Europäischen Union. In: UNESCO heute 1/2005, S. 16-19.
Kultur in Deutschland. Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages. Regensburg: Conbrio Verl. 2007.
Schwencke, Olaf: Das Europa der Kulturen – Kulturpolitik in Europa.
Dokumente, Analysen und Perspektiven – von den Anfängen bis zur
Gegenwart. Bonn: Kulturpolitische Gesellschaft; Essen: Klartext Verlag
2006 (2. überarb. u. erw. Auflage). (Edition Umbruch 14)
Berger, Karl C., Schindler, Margot; Schneider, Ingo (Hg.): Erb.gut?
Kulturelles Erbe in Wissenschaft und Gesellschaft. Wien: Verein für
Volkskunde 2009.
Luger, Kurt; Wöhler, Karlheinz (Hg.): Welterbe und Tourismus.
Schützen und Nützen aus einer Perspektive der Nachhaltigkeit.
Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag 2008, S. 71 – 86.
Hemme, Dorothee; Tauschek, Markus; Bendix, Regina (Hrsg.) Prädikat
„Heritage“. Wertschöpfungen aus kulturellen Ressourcen. Berlin: Lit
Verlag 2007, 367 S. (Studien zur Kulturanthropologie/Europäischen
Ethnologie Bd. 1)
|
| |