Report | Kulturation 1/2003 | Erhard Crome | Über die Ermöglichung einer anderen Welt Bericht aus Porto Alegre | Das
"Fórum Social Mundial" in Porto Alegre ging vor knapp drei Wochen zu
Ende. Die Kommentare sind geschrieben. Die Medien jener Herren, denen
diese schöne neue Welt der Globalisierung gehört, haben nur weltfremde
Weltverbesserer gesehen, die sich gegen das wenden, was sie eine
"Modernisierung ohne Alternative" dünkt. Die besonders "links"
angestrichenen Gazetten vermuten schleichende Sozialdemokratisierung,
so weil Präsident Lula in Porto Alegre war. Entwicklungspolitiker, etwa
von der Evangelischen Kirche Deutschlands, die die Weltsozialforen seit
Anbeginn mitfinanziert haben, stimmen mit dem "Internationalen Rat" des
Weltsozialforums überein, dass dieses die Grenzen der Finanzierbarkeit
und der Organisierbarkeit erreicht hat.
Das nächste Forum, im Jahre 2004, wird in Indien stattfinden. Es könne
nicht darum gehen, Jahr für Jahr eine größere Teilnehmerzahl zu
erreichen; in diesem Jahr waren es offiziell 100.000, vielleicht aber
auch mehr. Die Qualität müsse erhöht werden, so der Internationale Rat.
Wie erhöht man die Qualität eines derartigen Forums? Die Rednerliste
enthält schon jetzt die Namen beinahe aller weltweit bekannten
Intellektuellen, die dem derzeitigen Weltzustand ihre kritische Sicht
gegenüberstellen: Samir Amin (Ägypten), Walden Bello (Philippinen),
Jean Ziegler (Schweiz), Julio Gambina (Argentinien), Noam Chomsky
(USA), Johan Galtung (Norwegen), Arundhati Roy (Indien), Tariq Ali
(Pakistan/Großbritannien)... Die Aufzählung aller Namen würde den Platz
überschreiten, der mir für diesen Text zur Verfügung steht.
Nach dem Forum sagte jemand, sicher nicht zufällig ein Jemand aus
Deutschland, er sei enttäuscht. So viele berühmte Namen; aber er sei
schon vor zwei Jahren und im vergangenen Jahr dabei gewesen, und er
habe nichts Neues an Globalisierungskritik gehört. Kann denn, auch wenn
es ein Weltgelehrter ist, jemand von Jahr zu Jahr eine neue große
Analyse vorlegen? Wohl kaum. Es geht ja auch nicht nur um Analyse,
sondern um Politik, um Mobilisierung. "Niemand bezweifelt, dass Saddam
Hussein ein Diktator, ein Mörder ist. Keine Frage, dass es den Irakern
ohne ihn besser ginge. Allerdings ginge es der ganzen Welt besser ohne
einen gewissen Mr. Bush", sagte Arundhati Roy am 27. Januar im gedrängt
gefüllten Sportstadion "Gigantinho" vor wohl 20.000 Menschen. Und sie
folgerte: "Die Revolution der Globalisierer wird scheitern, wenn wir
uns ihnen verweigern - ihren Ideen, ihrer Version der Geschichte, ihren
Kriegen, ihren Waffen, ihrer Logik. Vergesst nicht: Wir sind viele, sie
sind wenige. Sie brauchen uns mehr als wir sie."
Wie aber wird der erklärte Wille der vielen zu einer Kraft, die in das
Geschehen eingreift, die Welt in der Tat verändert? Die Erben des
Trotzkismus treten mit leuchtenden Augen an die Rednerpulte und
schwärmen von dem neuen "revolutionären Subjekt"; sie fordern, die
Konsequenz müsse heißen, "Eine andere Welt ist möglich" zu
buchstabieren als "Sozialismus ist die Alternative". Da fragen sich die
Gescheiterten des Realsozialismus, ob denn wirklich alles wieder von
vorn losgehen soll, mit den gleichen Fehlern.
Nein, Brasiliens, Lateinamerikas Aktivisten des Weltsozialforums
betonen, das soll es nicht. Hier geht es um etwas Neues. Deshalb gehört
zu den "Prinzipien von Porto Alegre" auch, es ist ein Raum für den
Dialog, das Nachdenken, die Artikulation, nicht ein Subjekt. Es ist
eine Bewegung, nicht ein Ereignis; die Begebenheit Porto Alegre ist
lediglich ein Schritt in der Bewegung, die weiter fortschreiten soll,
ein Ratschlag, wie denn die Verweigerung gegenüber den Zumutungen, die
die Herren der Globalisierung vorbereiten, aussehen soll, und wie
positiv die andere Welt, jene, die "möglich" zu machen wäre. Deshalb
sollen auch die Parteien als solche nicht Akteure des Forums sein. Das
ideologische Gezänk, das vordergründig auf Macht und Einfluss zielende
Tun sollen draußen bleiben. Und die Gremien und Versammlungen sollen
keine Beschlüsse fassen, weil das Handeln den Individuen, den
Initiativen, den Bewegungen eigen bleiben soll, nicht dem Raum, der da
Weltsozialforum heisst.
Als in Europa die Gemäuer des Realsozialismus zu Staub zerfielen, als
die Sozialdemokratie aufhörte, "Dritte Wege" begehen zu wollen, und
sich dem neoliberalen "Konsens von Washington" zuordnete, da erreichten
die Verhältnisse im Süden Amerikas wieder ein neues Maß der
Unerträglichkeit. Die Entwicklung hier verläuft zyklisch, sagen die
Analytiker aus der Region: Der Kapitalismus in Lateinamerika trat in
den 1960er Jahren in eine neue Phase der Industrialisierung und
Akkumulation ein. Parallel dazu entwickelten sich die Gegenkräfte. Sie
zu zerstören errichtete der Kapitalismus Militärdiktaturen, in
Brasilien, in Argentinien, in Chile mit dem Sturz von Präsident Allende
am 11. September 1973, in Uruguay. In Lateinamerika war Offensive des
Kapitalismus nie zuvörderst Investitions- und Kreditpolitik, sondern
blutiger Terror. Hier sind nicht Kapitalismus und Demokratie in eins
gesetzt, wie es in den Sonntagsreden im Norden der Welt so schön
heisst, sondern Kapitalismus und Diktatur. Demokratie dagegen gibt es
nur, wenn die Menschen von unten sie erkämpfen.
Ohne Aufstand der Zapatistas in Chiapas (Mexiko) seit Mitte der 1990er
Jahre keine Großdemonstrationen gegen die Ministerkonferenz der
Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle (USA) 1999, gegen die
Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds in Prag im Jahre 2000,
gegen den G8-Gipfel in Genua 2001, heisst es in Lateinamerika. Porto
Alegre, das Weltsozialforum seit 2001, war der Versuch, den vielen
Betroffenen Stimme zu geben, sie zusammenzuführen: Umweltschützer,
Menschenrechtsgruppen, Gewerkschafter, Verbraucherorganisationen,
Bauernverbände, Entwicklungshelfer, kirchliche Gruppen,
Arbeitsloseninitiativen - sie alle erkannten in der WTO seit Ende der
1990er Jahre ein undemokratische Institution, die sich
gesellschaftlicher Kontrolle entzieht, nationale Schutzstandards zu
unterminieren bestrebt ist und vor allem die Interessen der
transnationalen Großkonzerne verfolgt. So kam das Weltsozialforum
zustande, als Kontrastprogramm zum Weltwirtschaftsforum von Davos, als
das Forum von "unten" gegen das von "oben", als das des "Südens" gegen
den "Norden". Die vielen verschiedenen Gruppen und Organisationen, die
zuvor kaum miteinander zu tun hatten, fanden einen gemeinsamen Raum zum
Dialog. Wie sollten sie, bei all dieser Differenziertheit, aber zu
gemeinsamen Beschlüssen gebracht werden? Daher die Porto Alegre-Regel,
dass der Raum nicht der Ort für deklarative Akte sein kann.
Wie aber kommen die Teilnehmer dieses Raumes zurück in die Politik? Es
wurde auch in einigen linken Gruppen des Westens Mode, zu erklären, man
wolle sowieso keine Macht und solle dies auch nicht versuchen. "Danke",
sagen darauf die Herren der Welt, "genau so hatten wir uns das
vorgestellt". Die linke Bewegung in Brasilien sieht das anders. Die
sozialen Bewegungen im Lande erwuchsen aus dem Kampf zum Sturz des
Militärregimes, daraus entwickelte sich eine starke linke
Gewerkschaftsbewegung, und aus der wiederum die Brasilianische
Arbeiterpartei (PT), deren Kandidat Luíz Inácio Lula da Silva, kurz
"Lula", im vergangenen Jahr zum ersten linken Präsidenten in der
Geschichte Brasiliens gewählt wurde.
Vor seiner Abreise nach Davos, wo er am 26. Januar gesprochen hatte,
redete er auf einer großen Kundgebung in Porto Alegre. "Im vorigen Jahr
saß ich unter euch", sagte er, "jetzt bin ich Präsident Brasiliens.
Glaubt ihr etwa, ich hätte mich dadurch verändert? Ich bleibe einer von
euch." Eine "neue Weltordnung" sei in der Tat nötig, eine, in der der
Wohlstand weltweit gerechter verteilt wird, in der der Hunger geächtet
und beseitigt wird, in der nicht Krieg, sondern Verständigung
herrschen. Deshalb werde er den Betonköpfen in Davos sagen, welche
Probleme die Menschheit wirklich hat. Die Botschaft von Porto Alegre
wolle er nach Davos tragen. Das hat er denn ja auch.
Im Hintergrund steht die Idee, dass eine Regierung der PT im Regieren
nicht die Ideale aufgeben könne, um derentwillen sie gewählt wurde. Nur
eine andere Moral könne ihrer Politik das nötige Gewicht geben. Nicht
die Regierung bestimmt die Ziele der Politik, sondern diese kommen aus
der Zivilgesellschaft selbst, und die Regierung versucht, sie unter den
obwaltenden Bedingungen umzusetzen. Das macht sie stark. Stark genug?
Während des Forums 2003 war auch der venezolanische Präsident Hugo
Chavez in Porto Alegre und wurde solidarisch empfangen. Der Putschismus
gegen ihn, sagte ein aufmerksamer Beobachter aus Brasilien, läuft nach
dem Drehbuch, nach dem bereits Allende gestürzt wurde. Ist die
demokratische Zivilgesellschaft von unten stark genug, einen neuen
Zyklus der Gewalt, der Militärdiktatur in Lateinamerika zu verhindern,
die so sehr den Kapitalverwertungsinteressen zu entsprechen scheint?
"Brasilien braucht die Solidarität aller. Seine Regierung ist die
wichtigste politische Institution, die heute globalisierungskritische
Positionen vertritt", sagte Samir Amin.
Die indische Regierung ist derzeit dabei, Forderungen der WTO
umzusetzen, wonach produktiv und exportorientierte Großfarmen
geschaffen werden sollen. Das unabhängige Indien hatte seit Nehrus
Zeiten darauf orientiert, dass die Landwirtschaft die riesige
Bevölkerung des Landes ernähren solle. Deshalb gibt es bisher Hunderte
Millionen winziger Bauernwirtschaften, die zwar kaum für den Markt
produzieren, aber die Familien dieser kleinen Landbesitzer ernähren.
Das soll sich nun ändern. Und was wird mit den Menschen? Es ist diese
Situation, in die das Weltsozialforum 2004 in Indien kommt. Wird sein
Geist dauerhaft in Asien Fuß fassen können, auch in Afrika? Die
regionalen Foren in Afrika, Europa, im Mittelmeerraum, auch in Asien -
das bereits in Indien stattfand - waren sichtlich Erfolge.
Die Veränderung wächst von unten, durch die Menschen selbst, um deren
Schicksal es geht, auf demokratischem Wege, nicht durch selbsternannte
Eliten, die behaupten, immer recht zu haben. Nicht das Harren auf die
große Revolution steht auf der Tagesordnung, sondern viele kleine
Schritte. Noch einmal mit den Worten von Arundhati Roy: "Wir haben
begonnen, das ‚Imperium' zu zermürben. Wir haben es vielleicht nicht,
noch nicht, aufgehalten, aber wir haben es gezwungen, die Maske fallen
zu lassen. Das Imperium wird vermutlich in den Krieg ziehen, aber es
präsentiert sich jetzt ganz offen - und es ist so hässlich, dass es
nicht in den Spiegel sehen mag. Nicht einmal die eigene Bevölkerung
kann es für sich gewinnen. Über kurz oder lang wird sich die Mehrheit
der Amerikaner mit uns verbünden." Um die Gefahren, die das Imperium
für uns bereit hält, wissen wir. Durch die Bewegung des
Weltsozialforums aber wissen wir zugleich: wir können wieder hoffen.
Die andere Welt ist nicht nur nötig, sondern auch möglich.
Dieser Bericht erschien leicht gekürzt auch in der Tageszeitung "Neues Deutschland" vom 15. 02. 2003.
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