KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
 Start  Reports  Themen  Texte  Zeitdokumente  Kritik  Veranstaltungen 

 Editorial  Impressum     
ReportKulturation 2020
Dieter Kramer
Kulturelle Prägungen hebeln Neoliberalismus aus
Unterschiedliche Pfade, kompetente Demokratiebürger und Konsumbürger im Sog der Warenwelt - Betrachtungen anlässlich neuer Publikationen

Katja Kipping: „Neue Linke Mehrheiten – eine Einladung. Berlin/Hamburg: Argument-Verlag 2020.
Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa. Berlin: Suhrkamp Verl. 2016; Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2018.
Dieter Segert: Transformation und politische Linke. Eine ostdeutsche Perspektive. Hamburg: VSA 2019


Strategie-Diskussionen
Negative Folgen der Transformation
Spielräume der Transformation
Negative Folgen der Transformation
BRD und DDR
Der Kollaps einer ganzen Kultur
Qualitäten des Demokratiebürgers
Der Konsumbürger

Strategie-Diskussionen

In der Linken gibt es eine hoffnungsvolle neue Strategie-Diskussion, die leider durch Ungeschicklichkeiten wie die in Kassel im März 2020 beeinträchtigt werden. Petra Kipping hat mit einem Buch „Neue Linke Mehrheiten – eine Einladung“ gute Anregungen geliefert. (Georg Sturm: Kabinettstisch und Straße. Linken-Chefin Kipping fordert von ihrer Partei: Mehr Regierung wagen. In ihrem neuen Buch wirbt sie für eine Mehrheit links der Mitte. Sie soll Umverteilung, soziale Sicherheit und Klimaschutz massiv vorantreiben. In: TAZ v. 4.März 2020 S. 07)

Statt eines „autoritären Kapitalismus mit Nationalismus und marktradikaler Wirtschaftspolitik“ oder Neoliberalismus mit grünem Anstrich will sie als Alternative Green New Deal mit sozialem Ausgleich und ein Ausstiegs-Szenario für eine sozialökologische Transformation mit produktiver öffentlicher Infrastruktur. Das ist nicht einfach: Schon wenn man die absehbaren Folgen des Klimawandels abfedern will, braucht es großen Aufwand. Und: „Selbst wenn neue linke Mehrheiten es an die Regierung schaffen, haben sie noch lange nicht die Macht.“ (ebd.) Immerhin: Gestützt auf eine Menge von Initiativen und Impulsen ist ein neues „Reformfenster“ von der Art denkbar wie es vor Jahrzenten immer wieder welche gab (1968 mit Willy Brandt, 1975 mit der KSZE zum Beispiel). Ein Katalog mit „Projekten für eine Regierung der Hoffnung“ ist denkbar (ebd.)

Die folgenden Überlegungen regen dazu an, nach Spielräumen im Geflecht der widerspruchsreichen Realität zu suchen und Pfade in Richtung auf sozialökologischen Wandel zu finden, statt darüber zu spekulieren, wie eine Revolution aussehen könnte und was danach zu tun sei. Wenn man eine sozialökologische Transformation einleiten will, dann werden jene sozialkulturellen Rahmenbedingungen interessant, die für Erfolg und Misserfolg der Transformationen nach 1989 mitverantwortlich waren. Sie hatten zwar ganz andere Ziele, aber Spielräume sowie Erfolg und Misserfolg waren stark von Kultur und Geschichte beeinflusst.


Spielräume der Transformation

Das Buch von Philipp Ther erinnert an kulturelle Faktoren und Spielräume bei den Wandlungen nach 1989 (Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent). Der vielsprachige, belesene und vielerfahrene Autor, 1967 geboren, unterrichtet osteuropäische Geschichte in Wien, war früher in Florenz und an der Viadrina in Frankfurt/Oder. Er beschreibt die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen nach 1990, wie sie als Transformation und Ko-Transformation in Ost- und West-Europa stattfanden.

Eine wichtige Erkenntnis aus diesem Buch: Die hier erkennbaren Faktoren werden auch eine Rolle spielen, wenn es um eine zukünftige sozialökologische Transformation geht. Ihre Erfolgsaussichten und die Chancen für das Abfedern der damit verbundenen Verwerfungen werden verbessert, wenn man diese Faktoren analysiert.

Die Kernbestandteile des Neoliberalismus „Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, Sozialstaatsabbau, Deregulierung. Privatisierung und Akzeptanz wachsender gesellschaftlicher Ungleichheit“ (S. 87, S. 109, s. Naomi Klein) spielen bei der Transformation nach 1989 immer eine Rolle (und zwar nicht nur in Osteuropa, sondern auch in der „Ko-Transformation“ im Westen, vor allem in Deutschland). Aber sie werden nie in Reinform umgesetzt. Zwischen den Staaten bestehen deutliche Unterschiede. Das ist die wichtigste Botschaft des Buches.

Sechs Faktoren sind für die Wende 1989/90 verantwortlich: Dominoeffekte bzw. gegenseitige Ansteckung, Zusammenbruch oder Implosion der Regime, Massenmobilisierung, Ökonomie, Medien, Nationalismus. (S. 74)

Transformation und Reform bedienten sich der „Runden Tische“: „Die Verhandlungspartner an den Runden Tischen riskierten ihr Ansehen, übersprangen mentale Hürden und erreichten Kompromisse“, es war in vielen Fällen eine „verhandelte Revolution“. (S. 83). Stories und Narrative sind lange Zeit bis in die Alltagswelt hinein einflussreich. (S. 275, Mental maps S. 276) Für den Erfolg der Transformation verantwortlich sind „die Stabilität staatlicher Strukturen und das hohe Ausbildungsniveau der Bevölkerung in den postkommunistischen Staaten.“ (S. 131) Dieses Fazit „steht im Kontrast zur Staatsskepsis der neoliberalen Chicago School und den antikommunistischen Diskurse der neunziger Jahre“. (ebd.) „Eine globalhistorische Perspektive bestätigt … das aus Osteuropa bekannte Muster, nach dem jene Länder, die die Rolle des Staates beschnitten, ihre Märkte liberalisiert und den Banken freie Hand bei der Vergabe von Krediten gelassen hatten, besonders unter der Krise litten.“ (S. 239)

Verantwortlich für die Unterschiede sind, so kann man präzisieren, kulturelle Faktoren, „kulturelle Prägungen und Erwartungen.“ (S. 109) „Diese Ressourcen und Fähigkeiten entstanden nicht über Nacht.“ (S. 130) Das hoch gewertete in langer Zeit herausgebildete Humankapital meint „individuelle und gruppenbezogene Ressourcen und Fähigkeiten, mit den Herausforderungen der Transformation zurechtzukommen.“ (S. 131) Es geht „um die Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, um sich in einem rapide verändernden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext zu behaupten oder sogar Vorteile aus den Wirtschaftsreformen zu ziehen“ (S. 131)

Das bezieht sich auf die Transformationen nach 1989, aber auch die sozialökologische Transformation bedarf ähnlicher sozialkultureller Voraussetzungen.


Negative Folgen der Transformation

„Reiche Städte, armes Land“ kennzeichnen die Länder nach der Transformation. (S. 145) Basare und Ameisenhandel (S. 165) und der „massenhafte Aufbruch in die Selbständigkeit“ (S. 190) sind beteiligt an dem Aufschwung von Warschau und Prag. (S. 193, 226) Im Vergleich zur Boomtown Warschau ist Berlin noch lange Zeit arm. (S. 209) „Die eigentlichen Absteiger waren die Menschen in ländlichen Regionen“ (S. 158), erst die EU-Hilfen änderten daran etwas. Es ist „keineswegs zwangsläufig, dass ein wirtschaftlicher Aufschwung oder Modernisierungsschub mehr soziale Ungleichheit bringen muss“ (S.163/164). Auch für die sozialökologische Wende kann man das annehmen.

Es gibt negative Folgen. Vieles trägt dazu bei, „dass nur eine Minderheit in den postkommunistischen Gesellschaften die Möglichkeit hatte, die neu gewonnenen Freiheiten wahrzunehmen.“ (S. 328) Und: „Wenig emotionale Zugkraft“ hatte die „Ökonomisierung des Freiheitsbegriffes“ mit Milton Friedman, der eigene Propaganda-Fernsehsendungen in osteuropäischen Ländern hatte und der V. Klaus in die neoliberale Denkfabrik der Mont Pelerin Society hievte. (S. 329)

Unübersehbar sind die Verarmung der Regionen und die Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich. „Orte der Begegnung zwischen der neuen Mittel- und der neuen Unterschicht sind insbesondere in Warschau die Parkplätze vor den Supermärkten. Während die einen die Kofferräume ihrer Autos mit Waren volltopfen, sind die anderen froh über die Pfandmünze im zurückgelassenen Einkaufswagen und versuchen, mit dem Einweisen in Parkplätze oder dem Sammeln von liegengebliebenen Pfandflaschen ein paar Groschen … zu verdienen“ (S. 226). Will man das? Sozialpolitik muss neu justiert werden. (S. 253)

Nicht am Aufstieg teilnehmende Regionen wie Galizien, die Ostslowakei und Transkarpatien waren auch früher arm. „Es gibt deshalb ein über mehrere Generationen hinweg übertragenes Wissen, wie man mit Armut umgehen kann – durch Subsistenzwirtschaft der zu Hause gebliebenen und großräumige Arbeitsmigration der erwerbsfähigen Generationen.“ (S. 151) Migration ist immer ein Ausweg. (S. 269, 270, 271) Die Fähigkeit des Umgangs damit gehört zum „Humankapital“ der Transformationsgesellschaften. Dass Migration in all diesen Ländern eine große Rolle spielt, während gleichzeitig in den Prosperitätsregionen über Heimat diskutiert wird, gehört zu den Paradoxien.

Unverzichtbar sind sozialmoralische Ressourcen. „Eine wichtige Rolle spielt die Wertorientierung der Bevölkerung, denn in Polen, der Slowakei, Ungarn und der Westukraine ist es üblich, dass man sich unter nahen Angehörigen hilft, dass jüngere Familienmitglieder die mageren Renten der älteren Generation aufbessern oder dass Großeltern Opfer für die Kinder und Enkel bringen.“ (S. 152) Andere traditionell-kulturelle Unterschiede fallen ebenfalls auf: Die „postkommunistischen Länder sind allesamt keine Mietermärkte wie Deutschland oder Österreich, sondern ‚Eigentümermärkte‘“. (S. 245) Nicht in allen Ländern gibt es „Anknüpfungspunkte an früheres Unternehmertum“ (S. 118) – das ist „strukturelle Vorprägung und Pfadabhängigkeit“, (S. 119) die freilich nicht überschätzt werden soll. Die demographische Entwicklung spielt eine Rolle, ferner die Weckung von Wünschen durch Werbung. (S. 248)

Unterscheiden kann man „eine neoliberale Ordnung mit sozialstaatlicher Abfederung“ (Visegrad-Staaten), „eindeutig neoliberale Regime bzw. Marktwirtschaften ohne Attribute (Baltikum, Rumänien und Bulgarien), das neokorporatistische Modell Slowenien) und … die oligarchisch-neoliberalen Systeme (postsowjetische Staaten… ).“ (S. 249)

Der italienische Süden wird zum Vergleich herangezogen. Der Schweizer Volkskundler Arnold Niederer (Interfamiliäre und intrafamiliäre Kooperation In: In Memoriam António Jorge Dias. Lissabon: Instituto de alta Cultura 1974, S. 359-367) hat die sozialkulturellen Besonderheiten herausgearbeitet, die schon im frühen 20. Jahrhundert diskutiert wurden und auch unter Mussolini zu Eingriffen führten, mit denen die regionale Kluft überwunden werden sollte. Diese Kluft wurde begünstigt durch die kapitalistisch-bürgerliche Akzentuierung im Risorgimento. (S. 268) Investitionsprogramme, wie sie für osteuropäische Staaten entwickelt wurden, fehlten Ende des 20. Jahrhundert in Italien: Man hätte „ein Investitionsprogramm für Solarenergie oder solargetriebene Warmwasserseicher“ auflegen müssen. (S. 311)

Der Ursprung von abwertenden Stereotypen über den Süden „liegt im aufklärerischen und okzidentalistischen Fortschrittsdenken, das im 18. Jahrhundert aufkam. In dieser Tradition steht letztlich auch der Neoliberalismus, insbesondere mit seiner Ausrichtung auf ein bestimmtes historisches Entwicklungsmodell, in diesem Fall dem eines liberal-demokratischen Systems mit einer freien Marktwirtschaft. Aus diesem aufklärerischen Fortschrittsdenken ergab sich ein ganzes Bündel von Vorstellungen über die eigene Modernität sowie jene europäischen Länder oder Großregionen, die als rückständig eingestuft wurden.“ (Ther 272) Georg Forster bei seiner mit Alexander von Humboldt unternommenen Rheinreise (Kramer, Dieter: Es gibt ein Genug. München 2019) und Goethe auf seiner Italienreise reflektieren und relativieren dies auf je ihre Weise.

Mit Charles Taylor plädiert Ther ebenso wie viele Demonstranten der Umbruchszeit für die „ethische Einbettung der Freiheit“ und für „Gemeinsinn und Solidarität“ wie im kommunitaristischen Denken (S. 328, S. 309). Von der „Zivilgesellschaft“ wird seit den 1980er Jahren und seit Solidarność in Polen gesprochen. (S. 290) Putnam und Gramsci stehen als Stichwortgeber im Hintergrund.

Die EU-Erweiterung stoppte in den Transformationsländern den Trend zu „einer immer tieferen sozialen Kluft.“ (S. 165) Und feststellen kann man: „Eine wichtige Rolle für die egalitäre Gesellschaftsordnung in Slowenien und Tschechien spielten außerdem die Gewerkschaften, die in beiden Ländern eine starke Stellung aufrechterhalten konnten.“ (S. 164) „Überall dort, wo eine tiefe soziale Kluft entstand, entwickelte sich die Wirtschaft weniger dynamisch.“ (S. 173) Kulturhistorische und sozialgeschichtliche Betrachtungen helfen die Unterschiede zu erklären. (S. 177/178).

Gern spricht man von Kultur-Transfers. Aber heute meidet die „Transfergeschichte“ „Begriffe wie Diffusion und Einfluss“. „Auch der Neoliberalismus und die damit verbundenen wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen wurden nirgends eins zu eins übernommen, sondern für die jeweils eigenen Zwecke adaptiert.“ (S. 285) Nicht alles folgt dem Dogma des Neoliberalismus. Die 1998 in manchen Staaten eingeführten privaten Rentenfonds (kapitalgedeckte Rentenversicherungen) werden nach der Krise meistens wieder kassiert oder verstaatlicht (S. 127, 303), der Zenit des Neoliberalismus scheint überschritten. (S. 304).


BRD und DDR

Die Rhetorik der rot-grünen Sozialreform auch in Deutschland wurde verbunden mit Begriffen wie „Moderne“, „Modernisierung“, “Innovation“, „Aufbruch“ und „Zukunft“. Das bedeutete, „dass die Gegner als rückwärtsgewandt und konservativ, als Blockierer und Betonköpfe hingestellt werden konnten“. (S. 297) Hartz IV war eine kalte Enteignung, die an die Überlebenssubstanz geht. (S. 292; vgl. Ypsilanti, Andrea : „Und morgen regieren wir uns selbst“ [Eine Streitschrift] Frankfurt am Main: Westend Verlag 2017) „Für die ostdeutsche Gesellschaft bedeuteten die Hartz-Gesetze jedoch einen massiven Einschnitt, weil in Relation zur Gesamtbevölkerung viel mehr Menschen betroffen waren als in den alten Bundesländern.“ (S. 307).

Die DDR wurde ausgeblutet (S. 98) und „der radikalsten Schocktherapie im postkommunistischen Europa unterzogen.“ (S. 94) Auch anderswo gab es freilich „Plünderer-Kapitalismus“. (S. 103) Es hat „Ostdeutschland im absehbarer Zeit keine Chance … das Niveau der alten Bundesrepublik zu erreichen.“ (S. 234) Ländliche Regionen fallen weiter zurück. Erkennbar ist beim Vergleich „die Bedeutung der Transformation von unten, aus der Gesellschaft heraus, die in der ehemaligen DDR vernachlässigt wurde.“ (ebd.)

Der Solidaritätszuschlag wird 1991 von allen erhoben, auch den Ostdeutschen. Dennoch glauben viele Westdeutsche, sie müssten die anderen subventionieren. „Ende der neunziger Jahre geronnen die gegenseitigen Stereotype dann zum ‚Jammerossi‘ bzw. zum ‚Besserwessi‘“. (S.306) „Die CDU drohte der ehemaligen DDR mit Mittelentzug, wenn dort weiter so viele Menschen die PDS wählen sollten. … Helmut Schmidt kanzelte 2003 die Ostdeutschen für ihre ständigen Klagen ab und erklärte in einem kleinen Wutausbruch, er finde dies ‚zum Kotzen‘. Er behauptete in einem Interview ferner, Frauen im Osten erhielten durchschnittlich höhere Renten.“ (S. 307) Er verschwieg aber dabei, dass dies an der höheren Frauenerwerbsquote lag.

Die schlimmste Entwertung der Lebensleistung der DDR-Bürger in der „Wendezeit“ war, ihnen zu sagen „Ihr habt umsonst gelebt“ – im Vergleich zu den westdeutschen, die in dieser Zeit Reichtümer angehäuft haben. Gerhard Schröder erinnert an die „Lebensleistung“ der Ostdeutschen. (S. 306) „Für Gauck war der ‚Preis der Freiheit‘, die 1989 gewonnen wurde, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.“ (S 310) Die Neubewertung der Ostdeutschen erkennt ihre Leistungen an. (S. 309)

„Der Neoliberalismus ist auf einen regulierenden Staat angewiesen.“ (S. 355) Braucht man ihn dann noch als Programm? Der Staat muss für die Stärkung des „Humankapitals durch Investitionen in benachteiligte Schichten und Regionen“ sorgen. Ob der „Neoliberalismus die Entstehung einer … Mittelschicht fördert, ist fraglich.“ (S. 355) Ther schließt sein Buch mit einem Bild: Im fahrenden Zug der Transformation treten immer neue Akteure auf, und die früher großzügigen Geldgeber verlangen jetzt Erträge und fordern auf, den Gürtel enger zu schnallen. (S. 361) Die weitere Fahrt des Zuges wird vom globalen Kontext abhängen. (S. 363) – USA und China sind da wichtig, neuerdings auch Viren: Die Corona-Pandemie hat in China die Umweltbelastung deutlich verringert. Damit wurde gezeigt, dass sozialökologische Transformation möglich ist, und mit etwas Weniger verhungern die Leute auch nicht. Wieviele Leute werden in China am Virus sterben, und wieviele werden nicht sterben, weil die Luft besser geworden ist? Gleicht sich das aus? Aber wieviele Kinder werden mehr geboren, weil die Menschen mehr Zeit füreinander haben? Fragen über Fragen.

Kulturelle Unterschiede sind Thema jeden Party-Gespräches, wenn von den Italienern, Spaniern die Rede ist. Aber präzisiert wird es selten. (S. 270, 271) Ther fordert dazu auf, dies zu tun. Und: Wenn man eine sozialökologische Transformation einleiten will, wird man gut daran tun, diese von Ther herausgearbeiteten sozialkulturellen Rahmenbedingungen zu analysieren. Der Erfolg hängt davon ab.


Der Kollaps einer ganzen Kultur

Ein anderes Buch thematisiert einige Probleme aus der Perspektive der ehemaligen DDR. (Segert, Dieter: Transformation und politische Linke) Aus subjektiver Perspektive beschreibt der Autor, wie ihm nach seiner DDR-Karriere als Politik-Hochschullehrer eine zweite gelingt. Nicht nur für die „Dienstklasse“, zu der er gehörte, bedeutet 1989 den Kollaps einer ganzen Kultur. Seilschaften gibt es nicht nur im Osten. (S. 98) Der Umgang mit den DDR-Wissenschaftlern ist für ihn ungerecht. Und des Ministeriums für Staatssicherheit wegen kann dem ganzen Staat nicht die Legitimation abgesprochen werden (S. 32). Es geschah Unrecht, aber es war kein Unrechtsstaat (so lautet die entsprechende Formel bei Ramelow). Der Prager Frühling wird nicht nur von seinem Scheitern her betrachtet, sondern bleibt wegen seiner Programmatik interessant. (S. 91)

Beim Aufbau einer neuen Lebensperspektive kann auch für Segert das frühere Projekt nicht völlig entwertet werden. Es muss in der Art, wie Ther es beschreibt, als Teil des „Humankapitals“ betrachtet werden, mit dem Neues aufgebaut wird.

Zwei in diesem Buch angesprochene Themen, die auch für das Ther-Buch wichtig sing, lohnt sich intensiver zu erörtern: Segert fragt, welchen Herausforderungen die Demokratie sich stellen muss, und wie mit der Dynamik des Konsums umzugehen ist.


Qualitäten des Demokratiebürgers

Zuerst: „Die Demokratie ist generell eine sehr voraussetzungsvolle politische Ordnung.“ (Segert S.134). Aber je mehr Ansprüche man in der Demokratie an die Bürger stellt, desto schwieriger wird es. In aufklärerischer Programmatik wird Demokratie üblicherweise nur für möglich gehalten bei einem entscheidungsfähigen und vernunftgeleiteten Wählervolk. Selbst wenn alle ihre Verstandeskräfte gebrauchen würden, könnte das nicht verhindern, dass die umgebende Welt auch von „verständigen“ Bürgern unterschiedlich interpretiert wird. „Woher kommt politische Urteilskraft“, wird gefragt, bezogen auf das (Wahl-) „Volk“. (Münkler, Herfried; Münkler, Marina: Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland. Berlin: Rowohlt 2019) Als Problem wird betrachtet, „dass demokratische Partizipation an Voraussetzungen und Fähigkeiten gebunden ist, über die einige mehr und andere weniger verfügen“. (Münkler S. 277)

Das ist ein anspruchsvolles Programm. Der politisch partizipierende Bürger soll mit Zeitaufwand „an der Ausbildung politischer Urteilskraft“ arbeiten (ebd. S. 279). Aber wie kann aus einem „Volk“ eine „hinreichend große Anzahl kompetenter Bürger“ hervorgehen“, ausgestattet mit „politischer Urteilskraft und Urteilsfähigkeit“? (ebd. S. 280) „Die Entwicklung zum kompetenten Bürger ist ein langwieriges Projekt, während der Auftritt als Wutbürger unmittelbar möglich ist.“ (ebd. S. 289) So ist die Krise der Demokratie „zunächst eine Krise des Bürgers, der zunehmend den mühsamen und zweitaufwendigen Weg des Kompetenzerwerbs scheut und sich stattdessen für ein politisches Eingreifen im Modus der Empörung entscheidet“. (ebd. S. 289) Er tut dies als Konsument von vorgestanzten Klischees – eine Vorgehensweise, die, wenn man sie aus kommunikationstheoretischer Perspektive betrachtet, mehr oder weniger von allen praktiziert wird.

Kompetente Bürger sollen nicht nur im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sein, sondern sie müssen auch den Überblick über ihre Interessen und über die materiellen Zusammenhänge des überlebenssichernden Naturstoffwechsels haben. Wenn man sich auf die Forderung einlässt, dass nur „verständige Bürger“ entscheiden sollen, gerät man schnell in eine Falle. Am ehesten kann man ihr entgehen, wenn man die Entscheidungen der Individuen und die materiellen Folgen dieser Entscheidungen deutlich miteinander koppelt: Dann müssen sie die Konsequenzen ihrer Entscheidungen berücksichtigen.

Auch das ist nicht einfach: „Das persönliche Interesse hat eine starke Gewalt, die Begriffe zu trüben“. Das meint der nationalliberale Breslauer Historiker Georg Kaufmann (1842-1929) im Zusammenhang mit den Polemiken, mit denen nach 1815 die Aristokraten ihre Vorrechte im Staat und ihre Rechte gegen die Bauern verteidigen (Kaufmann, Georg [Heinrich]: Geschichte Deutschlands im Neunzehnten Jahrhundert. Berlin: G. Bondi 1912, S. 51): Die damaligen Angriffe sind mit dem aktivierten Hass der Junker und Bürokraten gegen die preußischen Reformer von 1815/1816 nicht weniger schlimm als die Schmähschrift, die z. B. der erste Rektor der Berliner Universität, Geheimrat Schmalz mit „Fake-News“ gegen den Freiherrn vom Stein, Friedrich Schleiermacher, Ernst Moritz Arndt und andere herausgegeben hat. In ihr wird in bewusster Falschinterpretation ein Aufruf zur Notzucht unterstellt. (Kaufmann S. 87) Sie alle erinnern in ihrer Schärfe, mit der Verachtung der Regeln des Anstandes und mit der Verdrehung von Tatsachen an die Polemiken der AfD im frühen 21. Jahrhundert.

Auch interessengeleitete Vorurteile haben ihre Logik. Georg Lukács, einst als unorthodoxer linker Theoretiker viel gelesen, schreibt über jenes „falsche Bewußtsein“, das die zeitgenössischen Intellektuellen gern den AfD-Wählern vorwerfen: „Die dialektische Methode gestattet uns … auch hier nicht, bei einem einfachen Feststellen der ‚Falschheit‘ dieses Bewußtseins, bei der starren Gegenüberstellung von wahr und falsch stehen zu bleiben. Sie fordert vielmehr, daß dieses ‚falsche Bewußtsein‘ als Moment jener geschichtlichen Totalität, der es angehört, als Stufe jenes geschichtlichen Prozesses, in dem es wirksam ist, konkret untersucht werde.“ (Lukács S. 124).

Bei Lukács heißt es daher: „Konkrete Untersuchung bedeutet also: Beziehung auf die Gesellschaft als Ganzes. Denn erst in dieser Beziehung erscheint das jeweilige Bewußtsein, das die Menschen über ihr Dasein haben, in allen seinen wesentlichen Bestimmungen. Es erscheint einerseits als etwas subjektiv aus der gesellschaftlich-geschichtlichen Lage heraus Berechtigtes, Verständliches und Zu-Verstehendes, also als ‚richtiges‘, und zugleich als etwas objektiv an dem Wesen der gesellschaftlichen Entwicklung Vorbeigehendes, sie nicht adäquat Treffendes und Ausdrückendes, also als ‚falsches Bewußtsein‘“. (ebd. S. 125)

Da kann dann der Proktophantasmist (einer, der infolge von Unterleibskrankheiten an Halluzinationen leidet) im „Faust“ auf dem Hexentanzplatz am Brocken noch so oft verzweifelt rufen: „Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt!“ Immer können Vorurteile andocken an Synapsen in der Lebenswelt, weil in ihr und damit „in uns selber etwas, das wir nicht kennen wollen, ihnen entgegenkommt“ (Christa Wolf). Auch Theodor W. Adorno relativiert die These von den „falschen Bedürfnissen“, ebenso gern verwendet wie die vom „falschen Bewusstsein“: Die Freizeit- und Kulturindustrie könne die Menschen nicht dazu nötigen, ihre Produkte zu kaufen, „verlangte nicht etwas in den Menschen danach; aber deren eigenes Bedürfnis nach Freiheit wird funktionalisiert, vom Geschäft erweitert reproduziert; was sie wollen, nochmals ihnen aufgenötigt.” (Adorno 1980 S. 648)

Bei Lukács wird formuliert, wie es weitergehen müßte: „Indem das Bewußtsein auf das Ganze der Gesellschaft bezogen wird, werden jene Gedanken, Empfindungen usw. erkannt, die die Menschen in einer bestimmten Lebenslage haben würden, wenn sie diese Lage, die sich aus ihr heraus ergebenden Interessen sowohl in Bezug auf das unmittelbare Handeln wie auf den – diesen Interessen gemäßen – Aufbau der ganzen Gesellschaft vollkommen zu erfassen fähig wären.“ (Lukács a.a.O. S. 125/126)

Man kann mit guten Gründen daran zweifeln, ob die Gesellschaft wirklich je vollkommen erfasst werden kann, aber die von Lukács akzentuierte Beziehung zwischen Lebenslage und Bewusstsein wird man deswegen nicht vergessen dürfen können – schon der zitierte Historiker Kaufmann war 1912 sich ihrer bewusst.

Lukács spricht von verschiedenen Klassen. Man kann das auch auf unterschiedliche Milieus beziehen. Und es kommt nicht darauf an, das „richtige“ Bewusstsein zu feiern, sondern den verschlungenen Prozess der Bewusstseinsbildung anzuerkennen. Solche Überlegungen setzen ganz andere Strategien zum Aufbrechen von „blickdichten Parallelwelten“, zum Eindringen in „Echokammern“ oder zur Relativierung von „Filterblasen“ voraus als die athenische Demokratie. In ihr hoffte man, mit Hilfe eines Erziehungsprogrammes durch Theaterpflicht kompetente Staatsbürger zu bekommen. In den nordamerikanischen Siedler-Demokratien hatten nur die (Land-)Besitzenden Stimmrechte. Bei den Steinschen Reformen vor mehr als 200 Jahren standen ebenfalls die Besitzenden als Stimmbürger im Vordergrund, weil man von ihnen am ehesten erwartete, dass sie sich orientieren würden am Gemeinwohl, damals als identisch mit den Interessen aller Besitzenden gedacht.

Ähnlich funktioniert die Demokratie auf Gemeindeebene in der vorbürgerlichen Ständegesellschaft: Alle Nutzniesser des Gemeinbesitzes sind einbezogen und wissen, dass sie über die Rahmenbedingungen ihres eigenen Lebens entscheiden. Viele zeitgenössische Überlegungen zur direkten Demokratie beachten diese Zusammenhänge. Sie gehen davon aus, direkte Demokratie in jenen Bereichen zu praktizieren, in denen die Folgen unmittelbar erkennbar werden. Wenn und soweit das eingeübt ist, wird entsprechendes Denken auch auf Entscheidungen auf größerer Ebene übertragbar. Bei dem Aufbau solcher Strukturen und Prozeduren müssen auch Parteien (die ja mitwirken sollen an der öffentlichen Meinungsbildung) und Medien entsprechend zu agieren aufgefordert werden und in der Lage sein. Immer muss auf die Konsequenzen der Entscheidungen hingewiesen werden. Am ehesten finden sich solche Strukturen heute in der Schweizer Demokratie.


Der Konsumbürger

Ähnlich große Herausforderungen ergeben sich, wenn es um den Konsum geht. Dieter Segert denkt über den Sog der Warenwelt nach: „Wenn einem eine Warenwelt vor Augen steht, aber praktisch unerreichbar ist, wächst das Verlangen danach. Die Erfahrung der Mangelwirtschaft erzeugt die Anbetung des Überflusses.“ (S. 115) Man kann darüber nachdenken, wie es sich verhält, wenn einem die Überfluss-Warenwelt nicht ständig vor Augen steht. Dann lässt sich erkennen, dass „Mangelwirtschaft“ eine Frage der Interpretation und Konstruktion ist: Bedürfnisse entfalten sich in erster Linie in einem konkreten Möglichkeitsraum, in dem die Individuen leben (sie können sich kaum vorstellen, was noch alles möglich ist). Erst die kapitalistische Marktgesellschaft vergrößert den Möglichkeitsraum so, dass die Bedürfnisse beliebig steigerungsfähig erscheinen.

Die Wachstumsgesellschaft favorisiert den unbegrenzten privaten Konsum. Um ihn hervorzulocken greift sie in die Souveränität der Konsumenten ein; Werbung bedeutet einen „Eingriff in ihre eigenen Lebensvorstellungen“. Werbung muss sich der „politischen Auseinandersetzung über die Erwünschtheit solcher Entwürfe stellen“. (Biedenkopf, Kurt H.: Es liegt an der Politik, das Heile-Welt-Bild der Werbung zu korrigieren [Referat vor dem Zentralausschuß der Werbewirtschaft 1987]. In: Frankfurter Rundschau v. 18.7.1987, Dok.) Auf jeden Fall ist es wichtig, dass die Individuen zusammen mit Ihresgleichen in eigener Kompetenz unbeeinflusst von fremden (ökonomischen) Interessen frei entscheiden können, was ihnen wichtig und lebenswert ist und womit sie ihrer Existenz Sinnhaftigkeit verleihen können.

Der Wirtschaftswissenschaftler Karl Oldenberg schreibt 1923: „Man frage den durchschnittlichen Hausvater, ob ihm nicht, in diesem niederträchtigen Wettlauf der oktroyierten sozialen Ansprüche, unabhängig von der Stufe seines Einkommens, immer noch gerade 10 – 20 % seines Einkommens fehlen, um das soziale Existenzminimum seiner Familie zu decken“ (zit. Kamer: Es gibt ein Genug). Das scheint allgemeingültig, und man kann es auf alle Lebenswelten mit ihren Möglichkeitsräumen anwenden. Der „Capability Approach“ von Amartya Sen lässt sich in dieser Richtung interpretieren. (Sen, Amartya: Capability Approach Ansatz der Verwirklichungschancen oder Befähigungsansatz. = Was macht ein gutes Leben aus? Der Capability Approach im Fortschrittsforum. Bonn: 2014. Friedrich-Ebert-Stiftung)

Appelle zur Veränderung des Lebensstils gibt es zuhauf, jüngst auch aus buddhistischer Sicht. (Folkers, Manfred; Paech, Niko: All You need ist Less. Eine Kultur des Genug aus ökonomischer und budhhistischer Sicht. München: Oekom 2020) Sie mögen auch manchen zum Nachdenken anregen. Aber politische Konsequenzen haben sie erst, wenn viele sie übernehmen und die politischen Entscheidungsträger zwingen, entsprechende auf die gesamte Gesellschaft bezogene Weichen zu stellen. Die südtiroler Kampagne „Pestizidfreies Mals“ (Schiebel 2017) hat gezeigt, was möglich ist, und wie schwierig es aber auch ist.

Segert meint: „Es geht aber nicht um bloßen Verzicht, sondern um den Übergang zu ‚freiwilliger Schlichtheit‘ (Mattieu Ricard). Die Änderung des Konsumverhaltens kann nur gelingen, wenn sie mit einem Gewinn an Lebensfreude einhergeht.“ (S. 159) Hier ist der Hinweis auf Lebensqualität angebracht.

Dennoch ist zu fragen: „Wie kann diese ‚Überflussgesellschaft‘ der Waren von innen heraus überwunden werden? Zunächst kann ein anderer Umgang mit den Dingen vieles ändern. Zurücktreten und den Augenblick genießen. Sich nicht alles von den Algorithmen der Social Media diktieren lassen. Behutsam mit der äußeren Natur umgehen. Genauer ihre Vielfalt zur Kenntnis nehmen. Um die Schönheit der Welt zu erfahren, muss man nicht alle ihre schönen Orte selbst besuchen. Es reicht aus, sich einige von ihnen auszuwählen, und dann sich die Zeit dafür nehmen, genau hinzuschauen.“ (Segert S. 118) „Ich möchte mit diesen Zeilen für eine bestimmte Haltung zur Welt um und außer uns werben: für ein beobachtendes Staunen.“ (S. 118)

Man kann einen Schritt weiter gehen: Politik, vor allem Kulturpolitik als Teil der Infrastruktur-Politik, soll (und kann) Wege und Pfade eröffnen, den Menschen solche Erlebnis- und Umgangsformen zu ermöglichen. Man kann sie mit Rückkopplungsschlaufen durch positive Erfahrungen lernen: Die Naturfreunde mit ihrer Praxis und mit einzelnen ihrer Vertretern haben das bei mir bewirkt, aber auch „Bildergespräche“ mit der „Kunstgesellschaft“ in Frankfurt am Main trugen dazu bei. Deshalb: Wenn man Ausstellungen mit Kunst oder mit Künstlerinnen und Künstlern veranstalten will, soll man auch Möglichkeiten zur intensiveren personalaufwändigen Auseinandersetzung damit schaffen.

© Dieter Kramer Dörscheid/Loreleykreis
kramer.doerscheid@web.de