Report | Kulturation 1/2003 | Herma Ebinger | Die andere Hälfte Europas: Osteuropäische Teilnehmer am Forum von Florenz Bericht von Herma Ebinger, Europäisches Bürgerforum (EBF), für ARCHIPEL 12/2002 | Der
Eiserne Vorhang ist gefallen, vor nunmehr dreizehn Jahren. Doch viele
Westeuropäer schliessen die Osteuropäer noch immer, allein durch den
Gebrauch von Worten, aus: Europa umfasst für sie die Länder der
Europäischen Union. Die Zugehörigkeit zum alten Kontinent misst sich
daran, ob osteuropäische Länder „bereit" sind zum Beitritt. Osteuropäer
sprechen eher von einer Neuorganisation Europas als von Erweiterung,
Beitritt oder ähnlichem. Als jemand, der auf Grund der Zufälligkeit der
Geburt erst hinter oder vor (je nach Sichtweise) dem Eisernen Vorhang
gelebt hat, fällt es mir immer wieder auf.
Auch auf dem grossen Treffen der für Veränderung der Verhältnisse
eintretenden Westeuropäer in Florenz war es so: Osteuropa kommt schon
vor, ist Thema einer Debatte und einiger Seminare und Workshops. Und
doch ist es nicht wirklich präsent. Auf dem unübersichtlichen,
beliebigen „Markt der Möglichkeiten\", der Bücher, T-Shirts, Porträts
von Öczalan und Che Guevara, Schmuck, Pamphlete uvm. anbietet, sucht
man Matroschkas, Körbe aus Transkarpatien, Schaffelle aus den
polnischen Beskiden oder Bücher und Broschüren mit kyrillischen
Buchstaben vergebens. Ein Grund ist sicher die Schwierigkeit, in die
Schengen-Staaten einreisen zu können, ein anderer die immensen
Reisekosten oder Wegstrecken. Fünf Tage mit Zug und Bus von Sibirien
bis Florenz, vier Tage Europäisches Sozialforum und wieder fünf Tage
zurück...
Für den Donnerstagnachmittag war ein Workshop mit Landwirten aus
Osteuropa angekündigt, leider ohne Ort, aber wenigstens mit den
Telefonnummern der Organisatoren. Nach dem es mir nicht gelang, sie zu
erreichen, wendete ich mich an die Leute des Informationspunktes im
Pressezentrum. Zwei Italiener versuchten, mir zu helfen. Nach einer
erfolglosen halben Stunde dankte ich ihnen und verabredete mich mit
Roberto zum Essen.
Die Debatte in Florenz am Freitagvormittag, dem 8. November 2002, stand
unter dem Thema „Zentral- und Osteuropa auf dem Weg in die
globalisierte Welt: Alternativen zum Neo-Liberalismus; Resultate von
Privatisierung und Liberalisierung; Osterweiterung der Europäischen
Union; soziale Probleme und gemeinsame Alternativen\". Gleichzeitig
fand in Fiesole, einem Dorf oberhalb von Florenz, im „Casa del populo\"
ein Treffen mit der Gruppe „Alternative Russland\" statt. Da ich
Grossveranstaltungen nicht sehr mag, entschied ich mich für das Treffen
mit der Gruppe. Im Volkshaus wurde ich freundlich empfangen und in
einen Saal geführt, der zwar gross, aber leer war. Etwa eine halbe
Stunde nach Beginn des Seminars kamen drei Leute, die enttäuscht in den
Raum sahen. Wir stellten einander vor und entschlossen uns, Kaffee
zusammen zu trinken. Zwei von ihnen kamen aus Moskau und Igor aus
Leningrad, wie er bei seiner Vorstellung betonte. Sie gaben mir eine
Broschüre mit dem Titel „Soziale, ökonomische und kulturelle
Widersprüche im Prozess der Transformation\", wir tauschten die
Adressen, und sie fuhren zurück nach Florenz. Da um 14.00 Uhr das
nächste osteuropäische Treffen hier sein sollte, hatte ich Zeit, mir
das Dorf anzusehen und von oben auf die Stadt Florenz zu schauen.
Diesmal kamen ungefähr zwanzig junge Leute. Bei der Vorstellungsrunde
stellte sich heraus, dass sich die meisten aus verschiedenen
gemeinsamen Aktionen kannten. Sie kamen von Indymedia Moskau und
Petersburg; von Nawinki, einer politisch-satirischen Zeitschrift aus
Minsk; von Tigra-Negra aus Kiew; den Jungen Anarchisten aus Riga und
Zagreb; von Attac Polen und der Osteuropa-AG aus Berlin. Nur Paul
Thatcher von der Socialist Workers Party aus Großbritannien und ich
waren neu in dieser Runde. In der Osteuropa-AG haben sich sechs bis
acht Leute aus Berlin zusammengefunden und 1997 ein Treffen mit
anarchistischen Gruppen in Moskau organisiert. Ende der neunziger Jahre
waren sie dabei, als etwa 600 Leute aus verschiedenen osteuropäischen
Ländern gegen das Atomkraftwerk Temelin in der Tschechischen Republik
protestierten. Bis zum IWF-Gipfel im Sommer 2000 in Prag blieb es bei
losen Kontakten einzelner der verschiedenen Gruppen. Das Prager Treffen
bereiteten sie dann gemeinsam vor und beteiligten sich dort an
verschiedenen Aktivitäten. Ein gutes Mittel, miteinander im Kontakt zu
bleiben, ist die Indymedia-Seite in Russisch, die jetzt seit einem Jahr
im Internet ist und von Gruppen vieler Länder der ehemaligen
Sowjetunion genutzt wird. Für die nächste Zeit haben sich die
Indymedia-Nutzer vorgenommen, theoretische und praktische Perspektiven
per Internet zu diskutieren. Ausserdem wollen sie sich über die Seite
zu weiteren Grenzcamps koordinieren. Eine neue Seite soll eingerichtet
werden, in der eine anarcho-feministische Auseinandersetzung geführt
werden soll. Inzwischen ist auch die Indymedia-Seite Prag im Internet.
Zur Vorbereitung des Europäischen Sozialforums in Florenz trafen sich
Vertreter der verschiedenen Gruppen eine Woche vorher in Berlin. Dort
einigten sie sich darauf, in Florenz zu folgenden Themen zu arbeiten:
Situation und Probleme der politischen Aktivisten in Osteuropa;
Zusammenarbeit der Gruppen Ost-Ost und Ost-West; internationale
Vereinigungen wie WTO, IWF, NATO, transnationale Unternehmen,
Atomindustrie; Großstädte.
Mischa von Indymedia Moskau fasste zusammen, was seine Gruppe
diskutiert hat: Sie stellte sich die Frage, warum die
Antiglobalisierungsbewegung in Osteuropa zu schwach sei und fand, dass
dies vor allem daran liege, dass es keine sozialen Bewegungen in diesen
Ländern gäbe. Die Osteuropäer würden zu wenig reflektieren, was
Globalisierung bedeute und wie sie sich auf ihre Länder auswirke. Dazu
sagte Wlad von der Zeitschrift Megaphon aus Moskau, dass vor 15 Jahren
die sozialen Bewegungen in Osteuropa sehr stark waren, da mit
Perestroika und Glasnost Öffnung, positive Veränderungen und Visionen
verbunden wurden. Mit den ökonomischen Reformen ist diese Bewegung
zusammengebrochen, die Menschen sind seither mit Überlebensproblemen
beschäftigt.
Julia aus Kiew erzählte von den verschiedenen Grenzcamps, an denen sie
teilgenommen hatten. Es waren jeweils Camps an der polnischen Grenze zu
Russland, Belorussland und der Ukraine, in denen die Teilnehmer aus
diesen sowie einige Jugendliche aus westeuropäischen Ländern sich gegen
die neuen Visaregelungen verwahrten. Die Bevölkerung, in deren Region
sie sich jeweils befanden, unterstützten die Anliegen der Grenzcamps.
Den Menschen der Grenzregionen ist bewusst, dass sich ihre Situation
rapide verschlechtert, wenn der kleine Grenzverkehr wegfällt. Eine
Voraussetzung für den „Beitritt\" der verschiedenen osteuropäischen
Länder zur EU ist die strikte Absperrung ihrer Grenzen nach Osten. In
den Camps diskutierten die Teilnehmer über Antirassismus, Feminismus
und die Globalisierung. Julia bedauerte, dass die Kontakte zu den
Teilnehmern wie zur ansässigen Bevölkerung oft nur solange hielten, wie
ein Camp dauerte.
Shenja aus Petrograd und Nastja aus Minsk sprachen über die ökonomische
Invasion westlicher Unternehmen. Diese finden in Osteuropa gute
Bedingungen vor, da die sozialen Bewegungen schwach sind und der
Apparat korrupt ist. Dennoch gab es Streiks der Arbeiter bei McDonalds
in Moskau und bei Nestlé in Samara gegen die schlechten
Arbeitsbedingungen. Auch gegen die Internationale Bank für Wiederaufbau
gab es Proteste, als diese Kredite zum Aufbau von Atomkraftwerken geben
wollte. Aber das Gesetz zum Import von Atommüll passierte kürzlich die
Duma (russisches Parlament). Für die jungen Leute stellt sich die
Frage, wie Proteste dagegen zu organisieren seien. Und was man tun
könne, damit die westeuropäische Antiatombewegung nicht einschlafe,
wenn die Endlager im Osten und Süden erst installiert sind.
Aber auch russische Firmen expandieren, so gibt es ein Tankstellennetz
in Tschechien, besonders in Prag, und Maschinenfabriken aus Russland
und Belorussland werden nach Lateinamerika ausgelagert.
Jelena aus Zagreb interessierte sich dafür, wer zum NATO-Gipfel Mitte
November nach Prag fahren würde. Ihre Gruppe schaffe es nicht, aber sie
organisiert mit einer Gruppe aus Slowenien Anti-NATO-Aktionen an diesem
Wochenende in Slowenien und Kroatien.
Roman berichtete von einem lokalen Sozialforum im Sommer 2002 im
polnischen Schlesien. Die dortige Attac-Gruppe beschloss, im Frühjahr
2003 in Ungarn ein osteuropäisches Treffen zur Vorbereitung des
Europäischen Sozialforums in Paris zu organisieren.
Paul Thatcher von der Socialist Workers Party in Großbritannien
beschrieb, wie sehr ihn die Größe, Stärke und Art der osteuropäischen
Bewegungen um 1989 beeindruckt habe. Darauf reagierte Oleg aus Minsk
ziemlich ironisch:„Im
vorigen Jahrhundert haben sich die Leute im Osten oft bewegt und immer
gehofft, dass die Wellen die Westler erreichen und bewegen werden,
dreimal besonders kräftig – 1917, im Zweiten Weltkrieg, um 1989. Wie
halten wir‘s in diesem Jahrhundert miteinander?\" Bericht von Herma Ebinger, Europäisches Bürgerforum (EBF), für ARCHIPEL 12/2002 |
| |