Report | Kulturation 2011 | Dieter Kramer | Soziales Kapital und Europäische Ethnologie – acht Thesen
| 1.
Europäische Ethnologie beschäftigt sich in Empirie und Theorie mit
Kulturprozessen in den Milieus geschichteter (segmentierter,
hierarchisch gegliederter) Gesellschaften von hoher Komplexität
(Arbeitsteiligkeit) in Vergangenheit und Gegenwart und beachtet dabei
die vertikalen und horizontalen Verflechtungen dieser Prozesse
(eingeschlossen transkulturelle Beziehungen). Darin besteht ihre
spezifische Arbeitsweise im Unterschied zu allgemeiner
Kulturwissenschaft und zu Ethnologie/Völkerkunde. Dank solcher Studien
kann sie leicht Verbindungen herstellen zu aktuellen Diskursen wie
denen zur politischen Theorie der Institutionen, zu Ökonomie und
Ökologie und zur Sozialpolitik.
2. Von der „Tragödie der Gemeindewiesen“ reden die Ökonomen
und Politiker gern und behaupten, für alle zugängliche Ressourcen
würden zerstört, weil jeder Nutzer nur auf seinen Vorteil sieht. Wenn
ich früher außerhalb der Europäischen Ethnologie Beispiele für den
selbst organisierten Umgang mit solchen Gemeinnutzen zitierte, dann kam
das Argument: Ja in der Vergangenheit, in der Ständegesellschaft mit
fest geregelten Pflichten und Rechten der Stände, da war das möglich,
aber in der Gegenwart gibt es unter den Bedingungen von
Marktgesellschaft und bürgerlichen Freiheiten keine Chance. Das
Argument zieht nicht mehr. Elinor Ostrom hat mit zeitgenössischen
Beispielen gezeigt, dass für knappe Gemeinschaftsgüter weder
Privatisierung noch Verstaatlichung der einzige Ausweg aus dem Dilemma
der drohenden Zerstörung sind.
3. Das Thema „Selbstorganisation des Umganges mit
begrenzten Ressourcen“ gehört zu den Standardthemen der früheren
Volkskunde. Immer sind es die aktiven „Subalternen“, die selbst
gestaltend ihr Leben organisieren, und deshalb sind sie auch nicht nur
„subaltern“, sondern sie sind aktiv in das gesellschaftliche Leben
eingreifende Subjekte.
4. Der geregelte und durch soziale Kontrolle auch mit
Sanktionen geschützte gemeinschaftliche Umgang mit begrenzten
Ressourcen ist nicht nach Kriterien eines ökonomischen Optimums zu
bewerten. Vielmehr ist ein „Sozialkulturelles Optimum“ als Kriterium
angemessener, das Nachhaltigkeit als Überdauern in prekären Umwelten
und - mit den Komponenten Gemeinwohl-, Geselligkeits- und
Interessenorientierung - auch Lebensqualität generieren hilft. Der
„neue Institutionalismus“ bezieht sich auf diese Formen jenseits von
Staat und Markt, aber er vernachlässigt die historische und die
sozialkulturelle Tiefendimension.
5. „Brauch und Gesetz, Magie und Religion wirkten zusammen,
um den einzelnen zu Verhaltensformen zu veranlassen, die letztlich
seine Funktion innerhalb des Wirtschaftssystems sicherten.“ (Polanyi)
Die enge Verbindung von materieller Reproduktion des Lebens und
kulturellen Formen ist Charakteristikum komplexer „vormoderner“
Lebensformen. Elinor Ostrom hat aus der ökonomischen Perspektive die
kulturellen Komponenten vergessen. Nutzung von Gemeineigentum und
Gemeinwerk funktionieren sowohl dank kultureller Wertsetzungen wie auch
kultureller Handlungen wie Bräuchen und Festen. Das berücksichtigt auch
André Habisch nicht, wenn er das „soziale Kapital“ für die
Sozialpolitik aktiviert.
6. Auch in der Krise der Demokratie, wie sie mit dem
Begriff „Postdemokratie“ thematisiert wird, spielen solche Überlegungen
eine Rolle: Das geringe politische Interesse und die sinkende
Wahlbeteiligung bei Menschen mit niedrigem Bildungs- und Sozialniveau
z. B. ist auch Folge der verweigerten Anerkennung. Das historische
Beispiel der Arbeiterbewegung zeigt, dass es sich nicht um einen
Automatismus handelt.
7. Die Europäische Ethnologie erinnert an ein breites
Spektrum von informellen, halbformellen und formellen Formen des
Umganges mit begrenzten Ressourcen. Sie zeigt, wie in die Verwaltung
von solchen Ressourcen die gesamte Lebensweise mit Festen, Bräuchen,
Heiratsverhalten einbezogen ist. Wenn „soziale Kontrolle“ dabei
aufgewertet wird, so ist das ein „Dilemma zweiter Ordnung“.
8. Angesichts der sozialpolitischen und
demokratiepolitischen Probleme der Gegenwart in den europäischen
Industriegesellschaften ist eine sozialkulturelle Strukturpolitik angesagt,
bei der Menschen ihre Lebenswelt unter Einschluss kultureller
Strukturen und Instrumentarien gemeinschaftlich und lokal zu gestalten
befähigt werden – selbsttätig und mit anregender oder ermöglichender
staatlicher (öffentlicher) oder gemeinnütziger Hilfe (nicht nur vom
„ermöglichenden“, sondern auch vom „aktivierenden Staat“ wird in diesem
Zusammenhang gesprochen). Sozialkulturelle Strukturpolitik für eine
soziale Stadt kann sich dabei anregen lassen durch Formen von
„Commons“, mit denen „Soziales Kapital“ und Ressourcen der
Gemeinschaftlichkeit aktiviert werden können. Dank der Gemeinwohl-, Geselligkeits- und Interessenorientierung
solchen bürgerschaftlichen Engagements können Lebensqualität und
Zukunftsfähigkeit in neuartigen Verbindungen von Tradition und
Zeitgenossenschaft („Modernität“) entstehen.
Literaturauswahl
Crouch, Colin: Postdemokratie. Bonn: Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2009.
Eskeröd, Albert: Soziale Organisation. In: Schwedische Volkskunde.
Quellen, Forschung, Ergebnisse. Festschrift für Sigfrid Svensson …
Stockholm u.a.: Almqvist & Wiksell 1961 S. 153 – 179.
Habisch, André: Soziales Kapital, Bürgerschaftliches Engagement und
Initiativen regionaler Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. In: Bericht
Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige
Bürgergesellschaft. Opladen: Leske + Budrich 2002 (Enquete-Kommission
„Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des Deutschen Bundestages
Schriftenreihe Bd. 4), S. 729 – 741.
Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-2/2011 S. 37-45.
Kramer, Dieter: Grenzgänge. Die "Tragödie der Gemeindewiesen" und
die europäische Kulturgeschichte. In Vf.: Von der Notwendigkeit der
Kulturwissenschaft. Marburg 1997, S. 35-42 (s. auch Österreichische
Zeitschrift für Volkskunde 89 1986 209 -226).
Ostrom, Elinor: Die Verfassung der Allmende: Jenseits von Staat und Markt. Tübingen: Mohr & Siebeck, 1999.
Polanyi, Karl: The Great Transformation. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978.
Weiss, Richard: Das Alpwesen Graubündens. Wirtschaft, Sachkultur,
Recht, Älplerarbeit und Alperleben. Erlenbach-Zürich: E. Rentsch 1941.
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