Report | Kulturation 2/2009 | Redaktion | Auch 2009 war nicht alles schlecht Nachricht aus dem Zonenrandgebiet
| Kurz
vor Jahresende und einen Tag nach Redaktionsschluss erreichte uns die
wehklagende Weihnachtsbotschaft und Weltbetrachtung unseres Freundes W.
K., der temporär in einer Besserungsanstalt für körperlich defekte
Autoren einsitzt. Die in diesem speziellen Mikrokosmos erfahrenen
Repressionen haben sein Gespür für Tendenzen im Großen offenbar so
geschärft, dass er zu einigen hier mitteilenswerten Beobachtungen und
Befürchtungen gelangte. Im Folgenden sein Text, in dem der aufmerksame
Leser auch den Hilferuf eines Bedrängten erkennen wird. Wir mussten
Tränen des Mitleids und des Zornes unterdrücken. Die Redaktion"
Weihnachtspostkarte © Elke Pollack
Ihr Lieben daheim unterm freiheitlich schimmernden Weihnachtsbaum!
Dies ist die bittere Geschichte eines, der vom Wege abkam und nun
dafür Buße tut. Aber der Reihe nach.
Im vorigen Jahr zu eben diesen Dezembertagen verschickte ich an Freunde
– wart Ihr etwa auch dabei? – das oben abgebildete, zugegebenermaßen
etwas despektierliche Arbeitsporträt einer mäßig fleißigen „Roten
Schlappmütze“. Tja, der Typ fand das anscheinend gar nicht lustig und
sorgte dafür (Beziehungen haben solche ja immer), dass ich nun das
diesjährige Fest der Liebe und des angenehmen Lebens unter
ausgesprochen kargen Bedingungen fristen muss: in einem jener ominösen
Umerziehungslager, die unter der scheinheiligen Tarnbezeichnung
„Reha-Klinik“ ihr menschenverachtendes Regime entfalten.
Mein unter Tätern wie Opfern besonders berüchtigter Leidensort, im
zuständigen Geheimen Zentralregister unter dem Buchstaben R gelistet,
liegt abseits und verborgen im nördlichsten Zonenrandgebiet, welches
(nicht nur wegen des diesjährig frühen Wintereinbruchs) getrost zu
Sibirien gerechnet werden darf. Hier sind die Unterkünfte besonders
flüchtig und windschief zusammengenagelt, und mit viel Perfidie haben
dem System treu ergebene „Baumeister“ dafür gesorgt, dass jedem
Insassen in dem kafkaesken Labyrinth zuverlässig aller
Orientierungssinn abhanden kommt. Ach, Weltenbürger, hat dich ein
grausames Urteil hierher verbannt, so lasse bis zum fernen
Entlassungstermin alle Hoffnungen fahren!
Das alltägliche Geschäft des Schreckens besorgen grimmig blickende
Wärterinnen, von deren unschuldig weißer Arbeitskluft man sich besser
nicht täuschen lässt: Sie haben ihre Herkunft aus der unseligen
Adenauer-Herrschaft nie aufgearbeitet, geschweige ihre diesbezüglichen
Verstrickungen jemals bereut. Dass an den Wänden keine Papa-Heuß- oder
Gustav-Heinemann-Fotos mehr hängen, mag opportunistischem
Anpassungsdruck geschuldet sein. Doch dem wahren Geist, welcher hier
waltet, begegnet man in den Buchregalen sogenannter „Leseecken“, wo
Flohmarktexemplare aus der Zwischenkriegszeit mit Konsalik und
Herz-Schmerz-Groschenheften aus Bahnhofskiosken um die rare Freizeit
der Insassen konkurrieren. Die Verfasser jener Besinnungspostillen, die
jedem Neuankömmling hier als Pflichtlektüre (sog. „Lebenshilfe“)
aufgenötigt werden, stammen durchweg aus dem Autorenkreis des
Herder-Verlages und wären – lebten alle noch – heute im Durchschnitt 80
Jahre und älter.
Dass die offizielle Benennung „Reha-Klinik“ nur ein Tarnbegriff
ist, wird schon an dem Umstand deutlich, dass selbst für einfache
Erkältungsfälle die bedauernswerten Betroffenen mitleidlos durch
tiefverschneite und froststarrende Wälder in die nächstgelegene
Ansiedlung geschickt werden, in der vagen Hoffnung, dass sich dort ein
Arzt für ihr Leiden findet. Die „Behandlung“ im Lager nämlich folgt
ganz anderen Ideologien! Mit landläufiger „Gesundheit“ oder gar
„Wohlbefinden“ hat man nichts am Hut, hier werden offenbar geheime
wissenschaftliche Experimente an Wehrlosen vollzogen. Mit Nachdruck
scheint es um die Reduzierung von Nachtschlaf zu gehen, um eine
gezielte Zerstörung jedweder Sinn- und Vernunfterwartung und – last not
least – um Ernährung auf Minimalstandard. Besonders zynisch: Beinahe
täglich werden die Leidtragenden auch noch mit Pflichtvorträgen über
die „wissenschaftlichen Grundlagen“ dieser auf Geist wie Körper
zielenden Zersetzungsarbeit kujoniert.
Im Zuge der bereits weit gediehenen Experimente beginnen sich
verschiedene Forschungstaktiken zu überlagern, was zu täglich gleichen
Bildern führt: Atemlos hetzen leidgeprüfte Insassen nach willkürlich
angeordneten Einzel- resp. Gruppen-„Behandlungen“ durch kahle und
unterkühlte Kellerkorridore zur Kantine, wo freudlos angerichtete
Mahlzeiten in viel zu kurz bemessener (dabei gnadenlos kontrollierter)
Essenszeit auf sie warten. Einzige Lichtblicke in dieser „Wüstenei der
Seelen“ sind Wärterinnen mit russischem Akzent, die, anders als
deutsche Kolleginnen, ihre streng reglementierten Verrichtungen
wenigstens hin und wieder mit mütterlich aufmunternden Blicken
garnieren. (Ob und wie das nun wieder zu der eingangs erwähnten
Sibirien-Zuschreibung passt, mag jeder für sich entscheiden.)
Die Genussfeindlichkeit der kommandierenden Weißkittel hat viele
Gesichter. Passionierte Raucher müssen sich zur Linderung ihrer
Entzugsqualen davonstehlen und am Waldrand, hundert Meter hinter dem
Lagerzaun, einen hölzernen Verschlag aufsuchen; selbst hüfthohe
Schneewehen und minus fünfzehn Grad lassen keine Ausnahme zu. In den
karg möblierten Zellen ist das Entzünden trauten Kerzenlichtes genauso
streng verboten wie die Einnahme illegaler „Zwischenmahlzeiten“, was
natürlich auch für Marmor-, Streusel- und sonstige Kuchen gilt, von
Damen- resp. Herrenbesuch ganz zu schweigen. Begegnungen mit
Angehörigen, so denen einmal stattgegeben wurde, bleiben auf öffentlich
einsehbare Räume beschränkt; übernachtenden Ehepartnern weist man
Einzelzellen in anderen Stockwerken zu.
Und schließlich das inspirierendste Laster aller freien Individuen
– der Alkohol – ist in den ernährungstherapeutischen Indoktrinationen
nicht mal als Anfrage zugelassen. Da ja jetzt die Silvesternacht
bevorsteht, habe ich wie ein Schuljunge mit schlechtem Gewissen ein
kleines Fläschchen weinartigen Getränks aufs Gelände geschmuggelt und
im hintersten Winkel meines Spinds versteckt, noch hinter der
dissidentischen Literatur (oder darf man Handkes „Gerechtigkeit für
Serbien“ inzwischen auch in der Öffentlichkeit lesen?). Ob dieser grobe
Regelverstoß unerkannt bleibt oder bei einer Visite vorher noch
auffliegt, das soll mir als gutes oder schlechtes Omen fürs kommende
Jahr dienen.
Womit wir beim Stichwort Silvester kurz innehalten und alter
Tradition gehorchend noch einmal zurückblicken wollen. Nein, auch 2009
war nicht alles schlecht. Wenn ich ehrlich bin, lief es sogar
eigentlich recht passabel (bis zur Einweisung hier an diesen
Schreckensort). Und doch habe ich bei der Suche nach meinem
persönlichen „Bild des Jahres“ wieder einer misanthropischen Neigung
nachgegeben.
Verzweifelte Schaufensterpuppen in Osnabrück, Juni 2009
Was soll man auch halten von einer Welt, in der sich jetzt schon
Schaufensterpuppen mit entlassenen Verkäuferinnen und allen übrigen
Opfern zusammenkrachender Konzerne solidarisieren, indem sie nichts als
Wut und Abscheu über die Machenschaften des blind einher stampfenden
Großkapitals zum Ausdruck bringen – eine klare Botschaft, die so
vehement schon lange nicht mehr in deutschen 1A-Lagen zu vernehmen war.
Wobei mich eine Frage dann doch beunruhigt: Wie werden wir, bei der
unvermeidlich fälligen Großen Umerziehung, diesen Damen demnächst
wiederbegegnen in den immer zahlreicheren Camps der verschwiegenen
Zonen- und anderen Randgebiete – als Insassen oder als
Aufsichtspersonal?
Euer W. K.
Postscriptum
LEBE DROBEN IM LICHT, O VATERLAND
UND ZÄHLE NICHT DIE TOTEN –
DIR IST LIEBES NICHT EINER ZUVIEL GEFALLEN
Diese Zeilen zieren in R. ein Denkmal, an dem mich der kürzeste
aller Spazierwege beinahe täglich entlang führt. Das einem Bunker
ähnliche Rondell im Fluchtpunkt einer dafür extra gepflanzten Allee ist
den 1914-18 Gefallenen aus der hiesigen Zonenrand-Region gewidmet und
nicht etwa gnädig unter den Dornenhecken des Vergessens verschwunden.
Nein, es wurde erst vor wenigen Wochen von kundiger Gärtnerhand penibel
freigeholzt und so wieder ins recht Licht gerückt.
Ich fürchte, wir werden solcher Kriegstreiberlyrik demnächst öfter
begegnen, und zum wiederholten Mal werden es nicht nur unbekannte
Sudelfedern sein, die sich und uns damit beschädigen.
2010 wird uns allerhand abverlangen.
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