Report | Kulturation 1/2010 | Redaktion | Zum Gedenken an Günter Mayer (1930-2010)
Dietrich Mühlberg, Jürgen Schebera, Jörg Petruschat
| Am
6. November 2010 wäre Günter Mayer achtzig Jahre alt geworden. Für
diesen Tag hatten seine Freunde, Schüler und Kollegen einen festlichen
Abend geplant. Doch Günter Mayer verstarb wenige Wochen vorher am 2.
September. So wurde aus der Geburtstagsfeier ein Erinnerungsabend in
der „Wabe“ im Thälmannpark. Wir geben hier die Texte der uns
vorliegenden Wortbeiträge von Dietrich Mühlberg, Jürgen Schebera und
Jörg Petruschat wieder. Eine Aufnahme dieser Veranstaltung auf DVD hat Stefan Paubel produziert. Sie kann unter stefan.paubel@gmx.de
bestellt werden (für 5 + 3 €). Ebenfalls dort zu haben „Gespräche mit
Günter Mayer 2010“ (3 DVD für 15 +3 €) und "Günter Mayer singt 22
Lieder (Klavier Elena Bregman)“ 2006 (5 + 3 €).
Nachruf des Berliner Instituts für kritische Theorie: http://inkrit.de/aktuelles/aktuelles-index.htm. oder Das Argument 288.
Günter Mayer 2010. Foto © S. Paubel
Dietrich Mühlberg
Günter Mayer zu seinem 80. Geburtstag
Wir sind hier zusammengekommen, um Günters 80. Geburtstag zu
feiern. Und er kann nicht mehr dabei sein. Trotz disziplinierter
Symbiose mit seinen lebenserhaltenden Maschinen hat er es nicht mehr
geschafft. Inzwischen haben ihn seine Familien würdevoll bestattet und
wir feiern ihn heute beinahe so, als wäre er noch dabei.
Beinahe meint, dass, säße er unter uns, ihm niemand hier erzählen müsste, woher er gekommen ist und wie sein Leben war.
Und als wäre er noch dabei meint: wir wollen ihn als Freunde an Gemeinsames erinnern.
Günter ist 1930, noch gut zwei Jahre vor der Nazi-Herrschaft
geboren, aber bald sollte auch er zum völkischen Nachwuchs gehören. Er
kam 1940 zum Jungvolk und durfte nach bestandener Probe als Pimpf außer
seiner Jungvolkuniform auch den Schulterriemen und das HJ-Fahrtenmesser
tragen. Hier wurden Treue zum Führer, Befehl und Gehorsam eingeübt,
lernte man Kameradschaft, Disziplin und Selbstaufopferung für die
„Volksgemeinschaft“. Mit vierzehn Jahren wurde Günter ein richtiger
Hitlerjunge, doch zu jung noch, um als Flakhelfer eingezogen zu werden.
Im März 1945 wurde er in der Gethsemanekirche eingesegnet. Eine Feier,
die durch Fliegeralarm gestört wurde. Als Mutter und Sohn aus dem
Luftschutzkeller kamen, war der Himmel schwarz von Rauch, doch ihr Haus
stand noch. Das war gleich um die Ecke, in der Lychener 33, Hinterhof,
aber mit Blick auf den Friedhof der Freireligiösen Gemeinde. Hier
lebten sie seit 1936, Vater Schlosser, Mutter teils Hausfrau, teils
Reinigungskraft. Hier hatte Günter dann auch sein Studierzimmer, hier
wohnte er nach der Hochzeit mit unserer Seminarkollegin Ingrid noch
drei Jahre und zog erst aus, als er schon 31 Jahre alt war.
Die HJ habe ich erwähnt, um daran zu erinnern, dass Günter gerade
noch, zur Hitlerjungen-Generation gehört (das sind die zwischen 1922
und 1930 Geborenen), zu jener Generation, die auch in der politischen
Geschichte der DDR eine so wichtige Rolle gespielt hat. Und ich will
damit auch andeuten, dass Günter drei „Gesellschaftsordnungen“ aktiv
erlebt hat. Wenn ich die antifaschistisch-demokratische Nachkriegsphase
dazu rechne, waren es sogar vier „Ordnungen“ – und gerade in dieser
vierten Phase hat Günter prägende Erlebnisse gehabt.
Mit fünfzehn waren für ihn der Krieg und die achtjährige
Volksschule beendet. An einen höheren Bildungsweg war zunächst nicht zu
denken. Und so begann er eine bautechnische Lehre bei der Eisenbahn und
– als das möglich wurde, ging er auf die Abendoberschule. Auch die
politische Hauptverwaltung der Deutschen Reichsbahn hatte sich damals
auf die Jugendarbeit konzentriert. Erfolgreich hat sie Günter davon
überzeugt, dass eine antifaschistische, eine neue Gesellschaft
arbeitender Menschen aufgebaut werden müsse. Als Jungeisenbahner lernte
er handwerkliches Arbeiten, technisches Konstruieren, lernte
Kommunikation in landesweiten Netzen von Schienen und Drähten, lernte
Hierarchie und Aufstiegsmuster einer Großorganisation. Von hier aus
wurde er auch zur Abendschule geschickt. (Um diese Zeit war Günter
Mittag schon Gewerkschafter im Bahnhof Pasewalk.)
1949 hatte er zwar Lehre und Abitur geschafft, doch es hatte ihn
auch ereilt, was bis zum letzten Atemzug sein Handicap bleiben sollte:
seine Lunge war angegriffen. Vier Jahre hielt ihn das auf. Und so fiel
er aus der ersten Aufbaugeneration heraus, jener Generation bekennender
Hauruck-Enthusiasten, die im Osten die Chance hatte, in die neuen
Funktionseliten aufzusteigen. Und die lange Krankheit und
Rekonvaleszenz – so war mein Eindruck – hatten ihn sensibler gemacht,
hatten ihm Zeit für andere Bücher, auch Zeit für Kunst, Zeit zum
Nachdenken gebracht.
Als er schließlich studieren konnte, wählte er kein technisches
Fach, sondern die Philosophie. Und als er begann, waren seine
Kommilitonen mit „ordentlichem Abitur“ sechs Jahre jünger als er. So
wie ich – wir waren in derselben Seminargruppe, als ich ihn 1954 kennen
lernte. In Samtjacke, das lange Haar nach hinten gekämmt, mit Brille
und öfter mit Krawatte. Ein älterer erfahrener Genosse, fest davon
überzeugt, dass ich als Oberschüler noch lange nicht die politische
Reife habe, auch nur Kandidat der SED zu werden. Was uns verband, war
das diffuse Interesse an „philosophischer Ästhetik“. Das war freilich
am gerade wiederbelebten Philosophischen Institut – wir waren erst der
zweite ordentliche studentische Jahrgang – ein schwierig Ding. Es tobte
gerade der politische Kampf gegen den Formalismus und die bürgerliche
Dekadenz, den wir prinzipienfest und philosophisch-argumentativ näher
begründen sollten. Andererseits hatten wir schon einen gewissen naiven
Kunstsinn ausgebildet. Das ließ und manchmal zweifeln. Wir gingen oft recht eigenartige Wege. Ein Seminar sollte uns z.
B. in die Weiterentwicklung Hegelscher Ästhetik (immerhin) durch den
russischen revolutionären Demokraten Tschernyschewski einführen. Das
Seminar hinterließ als Dokument ein Büchlein, in das der Seminarleiter
Wolfrum damals getreulich den Verlauf der vier Sitzungen eintragen
hatte. Mein Blatt ist leider leer geblieben, aber über Günter ist
vermerkt: „Er war wieder gründlich vorbereitet und hat alle
aufgeworfenen Fragen richtig beantwortet.“ Über Rudi Bahro ist notiert:
„B. redet immer ungefragt dazwischen. Er behauptet, meine Darstellung
sei falsch. Diesmal hat er mein ganzes Seminarkonzept durcheinander
gebracht. Aussprache nötig.“ Immerhin haben Bahro und ich dann Arbeiten
über Tschernyschewski abgegeben, beide mit einem Motto, das Mao
Tse-Tungs Schrift „Über die Lösung von Widersprüchen im Volk“ zitiert.
Das war nämlich unser eigentliches Thema. Und überdies wollten wir
damit die Frage beantworten, wer denn nach Stalin nun legitimiert sei,
die Weltrevolution zu führen. Günter verhielt sich distanziert
gegenüber solchen Mätzchen von „Oberschülern“, wir hielten ihn im
Gegenzug für einen beflissenen Streber.
Unsere Erwartungen an das Studium waren wohl sehr verschieden. Was
uns einte, war sicher die Herkunft aus „einfachen Verhältnissen“ und
der Drang, sich das anzueignen, was eigentlich dem Bildungsbürger
vorbehalten war. Günter hat da die größte Spanne durchschritten: aus
den einfachsten proletarischen Verhältnissen, aus der bücherlosen
Berliner Hinterhofwohnung auf das, was man wohl als die absolute Höhe
bürgerlich-elitären Kulturbewusstseins bezeichnen kann: er war
schließlich Spezialist für Musikästhetik, wurde 1980 ein Professor für
ästhetische Kultur und war noch dazu ein Freund der „Neuen Musik“.
Damals aber gab es Streit zwischen Mayer und Redeker, ob denn die
Glissandi bei Bartok und Stravinski als Zeichen von Dekadenz zu werten
wären – und keiner von beiden wusste, was ein Glissando ist. Unsere
Seminarkollegin Ingrid Schulz erklärte es ihnen. Und sie sang Günter am
Klavier auch die Noten vor, die er noch nicht lesen konnte: „Ich armes
welsches Teuflin bin müde vom Marschieren…“ Ein Paar sind sie darob
nicht geworden, Ingrid fehlte es sowohl an Ernsthaftigkeit des
Gedankens als auch an Mütterlichkeit (so ihre eigenen Worte).
1956 entdeckten wir die 20er Jahre für uns als Schlüsselzeit und
als Möglichkeit, die Klassik-Fixierung der DDR-Ästhetik zu überwinden.
Rudi Bahro blieb zwar bei seinen Heroen Becher und Beethoven, doch
machte mit als wir unter Günters Leitung die Agitpropgruppe „Roter
Zunder“ bildeten. Das führte ihn schon zu Hanns Eisler. Jedenfalls
studierten wir, wie die legendäre Truppe „Rotes Sprachrohr“ agiert
hatte und was der berühmte Komponist Eisler für sie geschrieben hat.
Wir waren weniger begabte Leute, aber im Aufbau-Verlag waren sie
gerührt, als wir zur Jahrestag-Feier 1958 unser Programm boten.
Verlagschef Gysi war stolz auf die jungen Genossen, die so deutlich auf
dem richtigen Wege waren. Aber beim Auftritt in der Markthalle am Alex
blickten die Leute recht irritiert, was wir denn da brüllten und
sangen. Von Happening und Aktionskunst hatten sie noch keine Ahnung.
1959 waren wir mit dem Studium fertig und gingen raus,
Musterstudent Mayer blieb am Institut, mit ihm war die Chance gegeben,
die marxistische Ästhetik mit der Kunstform zu versöhnen, die so gar
nicht zur Widerspiegelungstheorie nach Prinzipien des sozialistischen
Realismus passen wollte. Und weil Günter ja als Angehöriger der
Arbeiterklasse gelernt hatte, welche Ausdrucksformen das Material der
Eisenbahnbauer in den verschiedenen Technologien annehmen kann, war er
für einen Zugang vom „musikalischen Material“ her offen. Eine Offerte,
die ihm Adorno und Hanns Eisler machten. Solch ein Begriff musste dem
Technologen Mayer gefallen.
Zunächst wurde er in die Sojus geschickt, um an seiner Doktorskaja
zu arbeiten. Wieder zurück, waren es Begegnungen mit
Musikwissenschaftlern, an und mit denen Günter sein ästhetisches
Konzept entwickelte. Besonders durch die langen Gespräche mit Harry
Goldschmidt wurde er langsam zu einem Musikwissenschaftler und erfuhr
auch, wie ein Schweizer Kommunist die DDR als zweite Heimat erlebt. Bei
Aenne Goldschmidt in Karlshorst – Treff der schweizerischen Genossen –
war er häufiger Gast. Unser treusorgender Förderer Erwin Pracht sah
dies nicht ohne Bedenken.
Günters Vortrag über das musikalische Material trug ihm das
Interesse von Steffi Eisler ein, die ihn in der Pankower Pfeilstraße
bald vertrauensvoll bei der Bearbeitung des Nachlasses von Hanns Eisler
unterstützte. Bis zuletzt hat er da als sachkundiger Herausgeber und
international anerkannter Spezialist angestrengt gearbeitet. Was er
wissenschaftlich geleistet hat: Hanns-Werner Heister hat in der
Einleitung zu der 2006 erschienen Aufsatzsammlung „Zur Theorie des
Ästhetischen“ eine Übersicht der Themen gegeben, die Günter in seinem
wissenschaftlichen Leben erfolgreich bearbeitet hat.
Ab 1963 waren wir mit Ecke Hoffmeister drei „Ehemalige“ aus dem
Philosophenseminar. Dazu kam nach einem Jahr Norbert Krenzlin – nun
also vier junge Leute, die die Chance hatten, gemeinsam einen neuen
Studiengang aufzubauen, jeder mit eigenem Untersuchungsgebiet – kaum
überschaubar und schon darum mit dem Auftrag und Anliegen, sich in den
Partnerwissenschaften umzutun – „Einzelwissenschaften“ hat man sie
damals genannt. Er war unser Mann bei den Musikwissenschaftlern. Im
großartigen Georg Knepler hat er einen väterlichen Lehrer und Beistand
gefunden, in Frank Schneider, Peter Wicke, Gerd Rienäcker und anderen
Musikwissenschaftlern kritische Freunde.
„Bei uns“ hatte er ein besonderes Verhältnis zu jenen Studierenden,
die es mit Musik, Musiktheater und der „Singe-Bewegung“ zu tun hatten,
Was er dabei und überhaupt als Hochschullehrer zwischen 1963 und 1994
geleistet hat, ist den meisten hier Anwesenden bekannt, dazu mögen
andere etwas sagen.
Für Günter kam die Wende erst 1994, als er als „schwerbeschädigter“
Professor ausscheiden musste. Er bemerkte schon, dass man im Hause
darüber froh war. Denn so konnte, als Irene Dölling weg war und auch
ich 1996 rausgedrängt war, Norbert auf dem Invalidenticket
weitermachen. Denn von den Ostlern durfte bestenfalls ein richtiger
Prof. übrig bleiben, und das hat dann unsere Karin geschafft. Und darum
hat sich Günter nach und nach eine andere wissenschaftliche und
politische Heimat gesucht. Er hat sie bei Wolfgang Fritz Haug, den
Argument-Leuten und ihrem „Institut für Kritische Theorie“ gefunden.
Für das Institut war er seit 1995 im Beirat des „Historisch-kritischen
Wörterbuch des Marxismus“, bald Mitherausgeber und schließlich auch
Stellvertreter des Institutsdirektors. In dieser Position nahm er zu
den russischen Genossen, die sich um die Zeitschrift „Alternatiwy“ als
„kritische Marxisten“ gruppieren, den Kontakt auf. Etliche ihrer Texte
hat er ins Deutsche übersetzt oder referiert.
Ich kann hier nicht aufzählen, was er in den letzten fünfzehn
Jahren geleistet hat. Das „Institut für kritische Theorie“ hat für
seinen stellvertretenden Direktor Günter einen würdigen Nachruf auf
seine Homepage gesetzt. Der endet so: „Mit Günter Mayer, … hat uns ein
weiterer der in den Kämpfen, Fehlern und Niederlagen des
Staatssozialismus im 20. Jahrhundert gereiften und für uns
substanziellen kritischen Intellektuellen verlassen.“
Zum Schluss zwei Anmerkungen.
Erstens: wie andere Männer auch, verdankte Günter viel den Frauen,
an die er sich hielt und die vor allem ihn hielten und förderten. Wer
dem nachgeht, wird bemerken, dass er viermal geheiratet hat, rechnet
man seine Mutter und Anne dazu, waren es sechs – dazu zwei berühmte
Witwen. Alle hatten irgendwie auch mit seiner Arbeit zu tun.
Zweitens: seine Grundüberzeugung hat dieser kritische Kopf über 70
Jahre hin nicht gewechselt. Er ist Sozialist geworden und geblieben.
Seinem Geiste entspricht, was 1990 der damals bereits etwas ältere
Jürgen Kuczynski antwortete, als er gefragt worden ist, ob er in gar
nicht so ferner Zukunft eine neue Wende erwarte: „Ja, das ist meine
Hoffnung … Mit meinen 86 Jahren werde ich diese Wende wohl nicht mehr
erleben. Aber die Vorfreude auf diese Wende lasse ich mir nicht
nehmen!“
Günter Mayer 1968. Foto © D. Mühlberg
Jürgen Schebera
In memoriam Günter Mayer
Günter Mayer ist gestorben. Aber Günter Mayer ist nicht tot, er
lebt in seinem Werk weiter. Ich spreche hier für die Internationale
Hanns Eisler Gesellschaft und damit für eine ständig größer werdende
weltweite Eisler-Community, der er mit seinen bahnbrechenden, in den
1970er Jahren erstmals veröffentlichten und danach fortgeführten
Untersuchungen zur Dialektik des musikalischen Materials ebenso
unverzichtbares Basismaterial an die Hand gegeben hat wie mit seiner
Eisler-Schriftenedition – die berühmten, zwischen 1973 und 1983
erschienenen drei roten „Mayer-Bände“ – und den wertvollen Covertexten
zur Eisler-Schallplatten-Edition, zunächst beim DDR-Label Nova, und
dann später, von ihm neu konzipiert, als CD-Serie bei Edel Records. Bis
unmittelbar vor seinem Tod arbeitete er an der Neuausgabe der
Schriftenbände im Rahmen der Eisler-Gesamtausgabe, das Erscheinen des
ersten Bandes konnte er 2007 noch erleben. Dazu kamen bis in jüngste
Zeit im wahrsten Sinne des Wortes bedenkenswerte Beiträge Mayers auf
Eisler-Symposien europaweit und Aufsätze in Sammelbänden sowie im
Periodikum unserer Gesellschaft, den Eisler-Mitteilungen.
Als ich Günter Anfang August dieses Jahres das letzte Mal besuchte
– er wartete auf den neuesten Befund, war optimistisch –, berichtete er
von der abgeschlossenen Sichtung und Systematisierung seiner
Manuskripte, die gerade als Grundstock eines Günter-Mayer-Archivs an
die Akademie der Künste gegangen waren. „Mein Feld ist bestellt“,
meinte er dazu bescheiden, aber nicht ohne Stolz. Und ich füge hinzu:
Es ist nicht nur bestellt, seine Früchte werden der heutigen wie auch
kommenden Generationen von Forschern und Interessenten weiterhin
Anregung zum kritischen Denken en masse liefern.
Solche Anregung stand im Zentrum seines Schaffens. Als 1978 bei
Reclam Leipzig der erste Sammelband mit ausgewählten Mayer-Texten
erschien, umriss er am Schluss des Vorworts seine Intentionen wiefolgt:
„Die Zusammenfassung der bisher nur verstreut publizierten Arbeiten
stellt sie in einen neuen Gesamtzusammenhang und gibt dem Leser damit
bessere Möglichkeiten für authentische Information, vergleichende
Studien und sachkundige Kritik.“
Authentische Information: Ausgangspunkt für Mayers
Überlegungen sind stets die unbestechlichen originalen Quellen, er hat
niemals spekuliert, seine Deduktionen sind somit für den Leser stets
überprüfbar. Vergleichende Studien: Wie so etwas zu leisten ist, kann
man – neben vielem Anderem, später Entstandenem – bereits an seiner
Dissertation von 1970 studieren, in der Druckfassung 255 Seiten stark.
„Zu Hanns Eislers Konzeption einer dialektischen Theorie der Musik“ hat
Mayer seine Arbeit genannt, und er geht das Thema souverän an, gestützt
auf hunderte von Quellen. Was für ihn danach lebenslang
charakteristisch bleiben sollte, klingt hier bereits an. Zitat: „In
vorliegender Arbeit werden immer wieder Zusammenhänge und Probleme
historischer wie systematisch-logischer Art sichtbar, deren Analyse den
vorgegebenen Rahmen sprengen würde. Der Verfasser muss sich darauf
beschränken, solche Zusammenhänge und Probleme ohne den Anspruch auf
ihre detaillierte Untersuchung und Beantwortung lediglich zu markieren,
um solcherart weitere Untersuchungen anzuregen.“ Günter Mayer, der
Denk-Anreger! Schließlich: Sachkundige Kritik. Für solche war er stets
ebenso offen, wie er rein dogmatische Polemik gegen seine Arbeiten
entschieden zurückwies. So heißt es etwa im Vorwort zu dem erwähnten
Reclam-Band von 1978: „Polemische Einwände gegen einzelne Texte, die
die hier entwickelte Konzeption mehr oder weniger in Frage stellen,
sind für die vorliegende Sammlung nicht berücksichtigt worden. Sie
haben den wesentlichen Zusammenhang bisher eigentlich verfehlt, so daß
also von dieser Seite her eine Überarbeitung nicht erforderlich war.“
Bravo!
Gunter Mayer, der stets gründliche Arbeiter. Diesen Ruf hatte er
sich schon früh erworben. Eine für mich nicht schmeichelhafte Episode
soll das illustrieren. In meiner ersten, 1981 erschienenen
Eisler-Bildbiographie hatte ich 1927 als Jahr der Eheschließung von
Hanns mit seiner ersten Frau Charlotte angegeben, statt richtig 1920.
Als ich wenige Zeit später in Wien Eislers Sohn Georg aus dieser Ehe,
den bekannten österreichischen Maler und Grafiker, traf, zeigte er sich
zu recht ungehalten: „Lieber Schebera, Sie haben mich ja fast zum
unehelichen Kind gemacht! [Er kam 1928 zur Welt.] Unglaublich,
unverzeihlich! Nehmen Sie sich Ihren Kollegen Mayer zum Vorbild, bei
dem kann man sich auf jede Angabe verlassen!“ Im Café Hawelka hat Georg
mir, bei reichlich Rotwein, danach verziehen. Und 1994 kam es bei einem
Eisler-Workshop an der Folkwang-Hochschule Essen dann zur
Dreier-Begegnung Georg Eisler-Mayer-Schebera. Wir wohnten im gleichen
Hotel und diskutierten nachts lange Stunden über die Aussichten von
Hanns Eislers Musik nach dem politischen Umbruch in Europa. Einen Satz
Günters habe ich noch im Ohr: „Im Werk jedes Komponisten finden sich
neben den gelungenen auch weniger gelungene Stücke. Gute Musik aber
wird bleiben, unabhängig vom Zeitgeist. Und davon hat Dein Vater genug
geschrieben.“ Die Anfang der 1990er Jahre einsetzende und bis heute
anhaltende weltweite Eisler-Renaissance hat dem inzwischen
rechtgegeben.
Ich schließe mit Worten des Komponisten, die er nach dem Tod seines
Freundes Bertolt Brecht Ende August 1956 notierte: „Ihn ehren heißt
sein Werk lebendig halten. Dafür will ich mich bemühen, so gut ich es
kann und solange ich lebe.“ Das gilt, in die Wir-Form übertragen,
reichlich 50 Jahre später ebenso für den Umgang mit Mayers Werk. Salut, Günter!
Agitprop und DVD
Jörg Petruschat
Günter
Anne hat mich gebeten etwas Warmherziges zu Günter zu sagen, etwas
das ihn nicht von seiner öffentlichen Wirksamkeit her beschreibt. Ich
würde nicht sagen, dass ich Günter privat kannte.
Wir waren ein paar Mal segeln. Auf dem Scharmützelsee in der Nähe
von Berlin. Das Boot war ziemlich klein, da hatten gut nur zwei
Personen Platz und man musste schon ein wenig sportlich sein. Wir haben
oft über Günters Segel-Boot geredet. Er besaß nämlich auch eins. Das
lag in einer Bucht oben an der Küste. Er wäre sehr gern öfter dahin
gefahren.
Es gibt zwei Grundtypen von Seglern. Die einen segeln, um
anzugeben. Es gibt aber auch die anderen. Die segeln mit dem Wind als
Freund. Günter gehörte zu der zweiten Sorte. Segeln ist ein Sport,
nein, ein Stück Leben, bei dem man sehr viele unterschiedliche Faktoren
miteinander ins Verhältnis setzen muss: Das Boot, das man am Hintern,
am Rücken spürt und in den Händen, die das Steuer und die Segelschoten
halten. Das alles liegt auf dem Wasser und fährt, weil der Wind, der
mal so und mal so bläst, immer ein wenig anders, immer ein paar Grad
verschoben in der Richtung, immer mal ein wenig schwächer, mal ein
wenig stärker, weil also dieser Wind die Segel umströmt und damit das
Boot wundersamer Weise nach vorn treibt auch dann, wenn der Wind fast
von vorn kommt. Aus diesem Wirbeln und Rauschen, den Neigungen und
Ahnungen schaffen es Körper und Geist in stiller Fürsprache ein
gelingendes Stück Leben zu machen.
Man kann das Segeln angehen wie einen Wettkampf, alle Sinne
angespannt. Man kann aber auch Segeln in einer Art Selbstvergessenheit,
bei der die Intuition das Steuer und die Schoten führt. So habe ich
Günter als Segler erlebt: Ihm gefiel die Leichtigkeit und Heiterkeit,
mit der man in einer Vielzahl oft gegenstrebiger Bedingungen klar
kommen konnte. Ich habe mir oft seine Augen angesehen und wenn ich an
ihn denke, dann kommen sie mir schnell in Erinnerung.
Nach seinem Ausscheiden aus der Humboldt-Universität hat Günter,
wenn wir uns trafen, oft sehr lange davon erzählt, was er alles macht
und tut. Das war manchmal etwas anstrengend für mich, weil: er hat sehr
viel gemacht. Er hat so lange ich ihn kannte sehr viel gemacht. Aber
nun wurde es ihm mitteilenswert. Er konnte diese neue Kultur der
Ignoranz gegenüber dem, was er und seine Gefährten sich gedacht hatten,
nicht einfach so hinnehmen.
Ich rede hier nicht von verletzter Eitelkeit oder einem flachen
Gefühl fehlender Anerkennung. Das Problem liegt tiefer. Es ist
historisch: Günter spürte wohl, wie ein Denkgestus verloren ging, indem
sein Gegenstand verschwand. Ein Denkgestus, der auf ein gemeinsames
Verstehen-Wollen von etwas ausgerichtet war, an dem man selbst [- um
mit de Certeau zu reden -] strategisch beteiligt ist, das einen Ort hat und eine Zukunft, die über bloßen Widerstand hinaus geht.
Das Verstehen von dem, was durch uns kommt, das war Günters Arbeit.
Er warf sich da auch ohne zu Zögern selbst vors Objektiv. Immer wieder
suchte er Projekte, in denen viele zusammen kamen, die sich dann
gegenseitig rieben, öffneten, stützten. Er hat sich aus meiner Sicht
auch in Projekten engagiert, die ihm vielleicht mehr Ärger als
Befriedigung brachten. Aber auch da war er wie viele seiner Generation:
Diese Art von Ärger gehörte schließlich dazu. Ohne den Ärger wären die Coups, die ihm gelangen, nicht provoziert worden.
Ich möchte noch eine Eigenschaft von Günter nennen, die mir bis
heute wichtig ist. Ich habe an Günter sehr geschätzt, dass er wusste,
was in den Hinterhöfen des Lebens geschieht und dass er eine
reichhaltige Empirie auf den Begriff zu bringen sich mühte. Er hat sein
Denken als Reflex und Moment einer sehr konkreten Praxis, als
Verständnis von Personen, Materialien, Apparaturen, Konstellationen,
gesehen. Ich kann das auch anders sagen - ihm lagen nicht nur der
Eisler oder die neuen Medien am Herzen, er ist auch bis zuletzt zu Rosi
Heise gefahren. Ich kenne wenige Intellektuelle, für die Zugewandtheit
und Hilfsbereitschaft, genauer: Die Bereitschaft andere mitzunehmen und
Teil haben zu lassen, indem man etwas, oft sich selbst, bringt und
gibt, so selbstverständlich waren, wie für ihn.
Das führt auf ein Letztes, das ich hier sagen möchte:
Günter erschien mir immer als ein Mensch mit sehr vielen Talenten,
vielleicht mit sehr vielen Wirklichkeiten. So, wie er segelte, so fuhr
er auch Auto: traumwandlerisch. Das ging auf DDR-Autobahnen noch. Er
brauchte dazu allerdings seinen alten Skoda. Fuß auf dem Pedal und in
der Hand auf dem Lenker die Diplomarbeiten, zu denen er die Gutachten
schreiben musste, oder auch der Kafka, den er längeweis zitieren
konnte.
Ich glaube, aus ihm hätten auch andere bedeutende Meister ihres
Faches werden können. Was ich an Günter verstanden habe, das ist: Wer
mit dem Ästhetischen theoretisieren will, sollte als ganzer Mensch
einsetzen. Es braucht einen weiten Kreis der Erfahrung im Alltäglichen
wie im Sonntäglichen und es braucht die Fähigkeit diesen weiten Kreis
auch zusammenziehen zu können in eine Lebenserfahrung, damit man zu Aussagen in diesem Feld überhaupt ermächtigt ist.
Auf dem Segelboot 1976
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