Report | Kulturation 2/2006 | Dieter Kramer | Notizen für einen Text über "Kultur und Arbeitslosigkeit“
| Geht
man konsequent davon aus, dass auch bei anziehender Konjunktur
Vollbeschäftigung nicht mehr erreicht werden wird, so ist
Arbeitslosigkeit (als Nicht-Eingliederung in den Arbeitsmarkt)
konstitutiver Bestandteil des sozialkulturellen Lebens. Kinder, in
Ausbildung Begriffene, Arbeitsunfähige, Rentner sind ohnehin schon
Bestandteil des Alltagslebens. Man kann das Prinzip zugrundelegen: Die
Politik hat dafür zu sorgen, dass jeder, der arbeiten will (im
Lohnarbeits- oder Selbständigen-Status), auch eine Chance dazu bekommen
muss (verbunden damit, dass solche Arbeit ein Mehr an Subsistenzmitteln
bringt, eine Grundsicherung auf dem allgemeinen Niveau aber jedem
zusteht). Das derzeit geübte Prinzip „Jeder der arbeiten kann, muss
auch arbeiten“ induziert Arbeitszwang. Wenn „Arbeit für alle zu neuen
Bedingungen“ angestrebt wird[1] dann bleibt als Maßstab die
Arbeitsgesellschaft.
Zu berücksichtigen ist: „’Erwerbslos’ sein heißt nicht automatisch
‚passiv sein’. Viele Erwerbslose sind ‚am arbeiten’ – meist unbemerkt
von Behörden und Öffentlichkeit und ohne Honorierung.
Nachbarschaftsengagement und Verantwortung, Kinder- und Jugendarbeit,
quartiersbezogenes Engagement, alltags- und soziokulturelles Engagement
– in diesen Feldern wird in großem Ausmaß bürgerschaftliches Engagement
erbracht.“[2].
Auch Arbeitslose üben „nicht-erwerbsförmige Gemeinschaftsarbeit“
aus [3]. Beispiele sind Betreuung von Kindern, Alten und Kranken im
Umfeld usf. Dieses Engagement wird „unbeachtet, versteckt geleistet; es
wird in der Regel nicht von Verbänden oder staatlich organisiert; es
weist keine festen Strukturen auf; es wird nicht ‚zum Vorzeigen’
geleistet, sondern weil die Verhältnisse es verlangen (z. T. aus Not);
es wird überwiegend von erwerbslosen Frauen, insbesondere auch solchen
mit geringer Formalqualifikation und ohne berufliche Erfahrungen,
erbracht.“ Es wird „sträflich unterschätzt“ [4].
Ein lebendiges kulturelles Milieu (das Ziel der Verpflichtung des
Staates, das „kulturelle Leben zu fördern“) ist auch die Voraussetzung
dafür, dass unfreiwillig Arbeitslose ebenso wie freiwillig auf
Erwerbsarbeit verzichtende Menschen Chancen zu
Persönlichkeitsentwicklung und Lebensqualität finden.
Adolf Muschg hat bei einer Diskussion in Salzburg 2006 darauf
hingewiesen, wie das moderne arbeits(welt)zentrierte Denken völlig
außer Acht lässt, dass philosophisch und von der Antike her gedacht
Scholé ja etwas mit Muße zu tun hat: Lernen in diesem Verständnis
bezieht sich nicht auf die alltäglichen notwendigen Lebensvollzüge (=
Arbeit), sondern auf die Muße, in der Selbstverständigung über den Sinn
und die Würde der Existenz stattfindet.
Sollte nicht etwas davon auch in der aktuellen Debatte zu erkennen
sein? Das geht nicht in Teilaspekten – ganz oder gar nicht, höre ich
die Bedenkenträger. Die Antike überwand die Kluft dadurch, dass sie die
Alltagsarbeit den Sklaven (und den Frauen) überließ. Die heute schon
gängige Praxis, dies auf Lebensphasen der Individuen zu verteilen
(Bildung und Ausbildung, Urlaub und Sabbaticals, Verrentung) kann
erweitert werden: Freiwillig gewählte Phasen des Nichtarbeitens (und
vielfach wird es sich um solche handeln, nicht um permanente
Arbeitslosigkeit) sind der Weg dazu. Zeitmanagement ist ein wichtiger
Aspekt dabei: „Eine moderne Zeitpolitik hat zum Ziel, jedem Menschen
die Teilhabe an dem sozialen und kulturellen Leben zu ermöglichen, das
in und jenseits der Arbeit stattfindet.“[5]
Es lässt sich in diesem Zusammenhang auf die Widersprüchlichkeit
und Komplexität des Alltags hinweisen: Beiden Aspekten Rechnung zu
tragen erlauben jene Gesellschaften, in denen auch der Bettler seinen
Platz hatte. In Zeiten der Massenarbeitslosigkeit stellt sich die Frage
nach dem Sinn der gesellschaftlichen Arbeit neu. Es gibt keine
„überflüssigen Menschen“. Kein Mensch darf Instrument sein, das Leben
ist Selbstzweck und trägt seinen Sinn in sich selbst.
Selbstzweckhaftes Wachstum ist daher nicht legitimiert; der Bezug
zu Lebensqualität ist eine Selbstverständlichkeit. Will man in der
Politik solchen Prinzipien Geltung verschaffen, sind freilich eine
Menge von Problemen zu lösen: Um für eine Gesellschaft nach der
Vollbeschäftigung geeignet zu sein, muss heute eine neue Sozialkultur
den negativen Folgen von Massenarbeitslosigkeit genauso begegnen können
wie sie auf Fragen der gesamtgesellschaftlicher Organisation eingehen
muss. Ich nenne die wichtigsten Stichworte:
Auf der subjektiven Ebene muss Sinnerfüllung ohne Arbeit im
herkömmlichen Sinne möglich werden. Wilhelm von Humboldt konnte sich
eine zehnjährige Auszeit zur Entfaltung seiner Persönlichkeit leisten.
Gesellenwandern war früher oft deutlich mehr als die Überbrückung von
arbeitsarmer Zeit. Es war Lebenserfahrung und Lebensgenuss. Auch heute
darf Arbeitslosigkeit nicht zwangsläufig zu subjektiven
Identitätskrisen und Sinnkrisen führen. Die Vorstellung, nur als
dienendes und durch Arbeit teilhabendes Glied der Gemeinschaft eine
Sinnerfüllung zu finden, muss auf der individuellen und der
gemeinschaftlichen Ebene ohne schlechtes Gewissen relativiert werden
können. Manche werden ihre Schwierigkeiten haben, mit der Arroganz der
Faulheit zurechtzukommen - aber mindestens genauso unangenehm ist die
Arroganz des Reichtums.
Auf der gesellschaftlichen und politischen Ebene dürfen die
öffentlichen Finanzen nicht durch Sozialleistungen überlastet werden.
Aber auch für einen gewollt "schlanken Staat" muss die Abkehr von der
Vollbeschäftigung und der Übergang zu einer Gesellschaft der
Lebensplätze möglich sein.
Sozialer Instabilität muss vorgebeugt werden. Der Staat wird seine
Rolle als zentrale Verteilstelle für sozialen Ausgleich mindestens
insofern beibehalten, als er die Rahmenbedingungen für diesen Ausgleich
setzt. Wie der informelle Sektor weltweit, haben auch
Bürgergesellschaft, Bürgerarbeit und Ehrenamt nur dann eine Chance,
wenn das staatliche Gewalt- und Steuermonopol ebenso wie gesicherte
Sozialverhältnisse vorhanden sind. Gelingt dies nicht, dann wird die
Gesellschaft sich mit ihrer Entsolidarisierung auseinanderzusetzen
haben. Öffentliche Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung müssen
gewährleistet sein. Es muss verhindert werden, dass eine rücksichtslose
Tribalisierung sich zur Aufkündigung der Gemeinschaftlichkeit des
Lebens auf dem Territorium auswächst. Je mehr Unabhängigkeit, desto
größer wird die Gefahr der Abkoppelung aus der gemeinsamen
Verantwortung. Aber die Gesetze gelten für die Nichtarbeitenden wie für
die Superreichen oder die Parteien. Die positive Wertung der
Nichtarbeit darf die Gemeinschaft nicht zerstören.
Die öffentliche Ordnung muss als eine der sozialen Gerechtigkeit
empfunden werden können, auch wenn nicht alle arbeiten. Die
Solidargemeinschaft kann die freiwillig Faulen bewusst mit
tragen wie sie einst die Bettelnden und die Betenden getragen hat: Ora
et labora war das Prinzip einer statischen und nicht zwanghaft auf
Wachstum angewiesenen Gesellschaft. Die Arbeitenden brauchen nicht Neid
und Hass auf die Nichtarbeitenden zu entwickeln, weil das freiwillige
(meist nur temporäre) Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt den Verzicht auf
manche Privilegien der Arbeitenden einschließt, gleichzeitig aber auch
eine Art von passivem Dienst an der Gemeinschaft ist.
Ökologische Probleme werden auch in dieser Lebensweise nicht alle
von selbst gelöst; sie ist keine Einbahnstraße zur Nachhaltigkeit. Aber
wenn nicht alle immer mehr vom Gleichen wollen, und wenn kleine
Kreisläufe und Selbstversorgung eine größere Rolle spielen, dann
verbessern sich auch die Chancen für Nachhaltigkeit. Gegenläufig
freilich wirkt sich wachsender Konsum in der arbeitsfreien Zeit aus,
Reisen eingeschlossen[6].
In diesem Zusammenhang ist zu erinnern an Gregor Gysis "Zwölf
Thesen für eine Politik des modernen Sozialismus" vom August 1999: "Die
Verbindung von ökologischem Umbau, Modernisierung der
Arbeitsgesellschaft und Begründung einer vielgestaltigen und
reichhaltigen Lebensweise könnte einen nachhaltigen Entwicklungstyp
schaffen, der die Schranken des fordistischen Kapitalismus überwindet,
umweltverträglich wird und die wirtschaftlichen Voraussetzungen für
eine freiere Entwicklung aller ermöglicht."[7] Er solle den "sozial
gebändigten Kapitalismus der Nachkriegszeit" ablösen. Das konkretisiert
sich zunächst nur in den Forderungen zum Übergang zu "ökologischer
Nachhaltigkeit" und einer globalen Offensive zur Überwindung von Armut,
Hunger und Unterentwicklung. Dann heißt es: "Eine moderne
Arbeitsgesellschaft muss auch eine neue Verbindung von Erwerbsarbeit
und schöpferischer gemeinschaftlicher und individueller Eigenarbeit
ermöglichen. Die Erschließung reichhaltiger und sinnerfüllter Felder
für Gemeinschafts- und Eigenarbeit kann bei der ökologischen
Umgestaltung der Lebenswelt beginnen, muss die Rückgewinnung der
Gestaltungshoheit über die gemeinschaftlichen Angelegenheiten der
Kommunen und Regionen umfassen und wird in die Entwicklung einer
Vielzahl sozialer und kultureller Projekte münden."
Das ist nach wie vor die arbeitszentrierte "Tätigkeit" der
"Bürgergesellschaft". Aber dann ist auch die Rede davon, dass die
Erweiterung der Förderung von Kreativität dafür sorgen soll, dass alle
"an Erwerbsarbeit und Eigenarbeit nach dem Maß ihrer Fähigkeiten und
ihrer Bedürfnisse partizipieren, Sinn für die Verbindung von Arbeit,
Leben und Genuß entwickeln und Erfüllung finden". In Verbindung mit der
Forderung nach Überwindung des Massenkonsums und der Massenproduktion
durch allgemeine Verfleißigung in dem "fordistischen Kapitalismus" kann
das angeschlossen werden an die Vorstellung von einer Gesellschaft, in
der auch der freiwillige Rückzug vom Arbeitsmarkt positiv gewertet
wird. Gefordert wir die Einführung einer bedarfsorientierten sozialen
Grundsicherung für ein menschenwürdiges Leben: "Modern" wären
Sozialsysteme, die "den Übergang auf einen neuen, ökologischen
Entwicklungspfad und eine neue Verbindung von Wirtschaft und
Lebensweise unterstützten." [8].
Das ist mehr als die Bürgergesellschaft. Diese Überlegungen lassen
immerhin auch die Einsicht ahnen, dass Sozialismus allein die Probleme
nicht löst. Ohne Markt gibt es keine zureichende Allokation von
Ressourcen, und neue, ökologisch kompatible Lebensweisen müssen erst
entwickelt werden. Der einst im Kapitalismus wie im Sozialismus übliche
Hinweis auf die Lösung aller Probleme durch die Erschließung des
Springquells gesellschaftlichen Reichtums verliert damit seine
Bedeutung. Erst entsprechende Politik macht daraus Lebensqualität, und
diese kann durchaus den bewussten Verzicht auf ständig mehr vom
Gleichen einschließen. Überlegungen dieser Art gibt es bei Experten
aller Parteien, aber selten gelangen sie in den Vordergrund der
politischen Diskussion.
Dies ist in einem Text zu Kultur und Arbeitslosigkeit zu
berücksichtigen. Vordergründig wird er hinweisen auf den Arbeitsmarkt
Kultur, dann auf die Chancen, mit Hilfe der Angebote des kulturellen
Systems Zeit zu füllen. In der Haupt-Dimension aber wird es um die
Stellung des Menschen, den Sinn seiner Existenz im sozialen Kontext
gehen – um das alte Verhältnis von Leben und Arbeit: Arbeitet der
Mensch um zu leben, oder umgekehrt?
Anmerkungen
[1] Bericht der Enquetekommission „Bürgerschaftliches Engagement“,)
Katja Barloschky: Bürgerschaftliches Engagement im Feld
„Arbeitslosigkeit und Soziale Integration“. In: Enquete-Kommission
„Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ Deutscher Bundestag (Hg.).
Bürgerschaftliches Engagement und Sozialstaat. Opladen: Leske + Budrich
2003 (Enquete-Kommission … Schriftenreihe Bd. 3) S. 156
[2].a. a. O. S. 141-158.
[3] a. a. O. S. 142.
[4] a. a. O. S. 143. Es ähnelt in vielen Aspekten dem Engagement von Senioren beider Geschlechter (vgl. S. 147, 155).
[5] In: Zeit ist Leben. Wider die populäre Forderung nach einer
Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Manifest der Deutschen Gesellschaft
für Zeitpolitik. In: Frankfurter Rundschau v. 6. Juni 2006, Dok. S. 7;
www.zeitpolitik.de.
[6] vgl. dazu Dieter Kramer: Kulturmuster für Lebensplätze. Eine
mentale Infrastruktur für die Zeit nach der Vollbeschäftigung. In:
Volkskundliche Tableaus. Eine Festschrift für Martin Scharfe zum 65.
Geburtstag ... Münster u. a.: Waxmann, 2001, S. 327-243.
[7] vgl. dazu Gerechtigkeit ist modern. Frankfurter Rundschau v. 4.
August 1999, (Dok.), S. 22; Vgl. Dieter Kramer: Was kommt nach dem Ende
der Vollerwerbsgesellschaft? In: Sabine Hess, Johannes Moser (Hg.):
Kultur der Arbeit – Kultur der neuen Ökonomie. Kuckuck … Sonderband 4,
Graz 2003, S. 49 – 71, S. 61.
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